
Am kommenden Samstag jährt sich der Beginndes russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zum zweiten Mal. Was wissen wir über diesen Krieg? Und was wollen wir eigentlich wissen? Ein Eindruck ist: die Ukraine ist dabei, in den Hintergrund gerückt zu werden. Wenn zuletzt über den Krieg berichtet wurde, dann ging es oftmals um die europäische Verteidigungsfähigkeit im Fall eines russischen Angriffs. Oder um das «Interview», das der Verschwörungserzähler Tucker Carlson in Moskau mit Putin geführt hat. Dessen Botschaft: Hört einfach auf, der Ukraine Waffen zu liefern, dann ist es schnell vorbei. Experten analysieren das Kriegsgeschehen im TV, als handele es sich um eine Partie «Risiko». Wer es krachend mag, schaut sich Videos auf Tiktok oder X an, bei denen Drohnen der einen Seite zu dramatischer Musik Panzer der anderen Seite in die Luft jagen.
Aber transportiert sich darüber noch, welches unermessliche Leid dieser Krieg über die Menschen in der Ukraine gebracht hat? Und täglich aufs Neue bringt?
Für eine Geschichte, die wir unter dem Titel Die Lage im Osten auf Deutsch veröffentlichen, hat der russische Journalist Shura Burtin mit Menschen gesprochen, die diesen Krieg aus nächster Nähe erleben, weil sie ihn selbst führen müssen: ukrainische Soldaten. Im September und Oktober 2023 traf Burtin in Kiew und Kramatorsk knapp zwanzig Männer, mit denen er ausführlich über ihre Erlebnisse im Krieg sprach. Sie sind keine Berufskämpfer, fast alle wurden eingezogen oder meldeten sich freiwillig zum Militärdienst. «Sie waren», schreibt Burtin an einer Stelle, «vor zwei Jahren genauso friedliche Männer wie ich.»
Für seine Reportage über einen boxenden Lehrer, der im Tschetschenienkrieg zum Guerillakämpfer und Menschenrechtsaktivist wurde, hat der 1972 in Moskau geborene Burtin im Jahr 2019 den erstmals verliehenen True Story Award gewonnen. Seit Kriegsbeginn schreibt er – weiterhin für das regierungskritische russische Online-Medium Meduza – vor allem über die Not der ukrainischen Zivilbevölkerung. Nun hat er Soldaten zugehört: Dem Sanitäter Nikita, der davon erzählt, wie er einen Kameraden nach einem Raketeneinschlag zu retten versucht. Dem Drohnenpilot Dima, der im Kampf ein Bein verlor und den Rückhalt der Bevölkerung nicht mehr spürt. Seinem Freund Egor, der mit 55 Jahren im Schützengraben ausharrt und über die Situation an der Front sagt: «Es ist ein Kampf um jede Stellung. Direkt vor mir ist eine, etwa 300 Meter entfernt, die Russen haben sie gestürmt. Endlose Kämpfe, dann schlagen wir sie zurück. Dann greifen sie uns wieder an. Es ist Wahnsinn, Shura, es ist der reine Wahnsinn!»
Die Soldaten berichten eindrücklich von ihrem Überlebenskampf, von Konflikten und dem Zusammenhalt in ihren Einheiten, von Wunden, Ängsten und Entfremdung. Dabei herausgekommen ist eine Augenzeugen-Reportage in Buchlänge. Sie zeugt von der lebensbedrohlichen Lage, in der sich jeder einzelne Soldat und die Ukraine als Ganzes befinden. Womöglich braucht es diese drastische Einsicht zum Jahrestag dieses Krieges.