Notizen zur Gegenwart

Abschiedsbrief von Russland

Liebe Patentante Tanja, während ich diesen Brief schreibe, weiss ich noch nicht, ob man mich aus Russland rauslässt.

Dieser Inhalt ist für Sie freigeschaltet.

Journalismus kostet. Ausnahmsweise lesen Sie diesen Artikel kostenlos.

Recherchen wie diese gibt es dank der Unterstützung unserer Abonnent:innen. Vielen Dank, wenn auch Sie demnächst als Abonnent:in dabei sind.

Auf Russisch lesen:

Liebe Patentante Tanja! 

Während ich diesen Brief schreibe, weiss ich noch nicht, ob man mich aus Russland rauslässt. 

Bei uns wurde ein Gesetz verabschiedet, wonach jede Anti-Kriegs-Äusserung als Hochverrat gewertet werden kann, darauf stehen 20 Jahre Gefängnis. Ich möchte nicht ins Gefängnis. Ja, ich weiss, du wirst sagen, ich könnte auch schweigen. Dass ihr euer ganzes Leben so gelebt habt unter der Sowjetherrschaft. Deshalb schwieg auch ich meistens. Ich war seit Jahren nicht mehr auf einer Demo. In der Küche flüstere ich nur. Chatverläufe lösche ich gleich wieder. 

Die letzten Tage habe ich wie im Nebel verbracht. Dass Krieg ausgebrochen ist, erfuhr ich um 9 Uhr morgens von einem Kollegen. Er sollte mich mit neuen IT-Entwicklern bekannt machen. Ukrainische Jungs. Sie haben sich nicht gemeldet. «In der Nähe gab es Bombenangriffe, ich glaube, in der Nacht hat der Krieg begonnen», sagte der Kollege. Ich sagte «Ok», rollte mich auf die andere Seite und schlief weiter. 

Meinen nächsten Termin hatte ich um 10. Mein Programmierer sagte, er könne nicht in den Urlaub fliegen. «Warum?», fragte ich. «Alle Flüge wurden gestrichen, es herrscht doch Krieg.» «Ah», sagte ich und arbeitete weiter. Am Abend traf ich meinen Tai-Chi-Trainer. Während der Übungen sagte er irgendwas davon, dass die Welt nie mehr dieselbe sein würde. Er nervte mich sehr damit.

Am nächsten Tag wurde mein Arbeitskollege hysterisch. Er war Russe, seine Frau war Ukrainerin, sein geliebter Schwiegervater zog in den Krieg. An dem Institut, wo ich ein unabhängiges Programm für Journalistinnen und Journalisten mitleite, waren einige der Lehrer als Kriegsberichterstatter an die Front gefahren. Ich musste einen Ersatz für sie finden. 

Ich begann, zweimal täglich die Nachrichten zu lesen. Am dritten Tag, als ich noch im Bett lag, las ich, dass Putin beschlossen hatte, seinen Atomkoffer auszupacken. Ich erinnerte mich an all diese amerikanischen Filme, die die Kubakrise zeigten. Es gab immer irgendwelche Nebenfiguren, die Bombenschutzbunker bauten. Sie schienen wahnsinnig paranoid zu sein. Aber wer, der bei klarem Verstand ist, würde im 21. Jahrhundert Angst vor dem Atomkoffer haben?

Ich setzte mich im Bett auf. Ist das alles wahr, passiert das wirklich? Nur die Papp-Bösewichte in den alten Fantomas- und James-Bond-Filmen drohen mit dem Atomkoffer. In einigen Filmen tragen sie ein Hakenkreuz auf dem Rücken. Das Umfeld dieses Schurken marschiert gehorsam und widerspricht nie. Ist es das, was ich jetzt bin, eine Mitläuferin?

Den ganzen Tag habe ich Nachrichten gegoogelt. Es stellte sich heraus, dass alle befreundeten Journalisten, Aktivisten und IT-Fachleute wegfahren. Diejenigen, die keine Kraft mehr zum Widersprechen haben. Aber auch nicht den Wunsch haben mitzumarschieren.

In den vierundzwanzig Stunden, in denen ich überlegte, ob ich auch fahren sollte, verzehnfachten sich die Ticketpreise. Lange habe ich mich, während ich den Koffer packte, mit den Fotos meiner Familie herumgeschlagen. Ich musste sie aus ihren Rahmen nehmen. Meine Hände zitterten, wollten mir nicht gehorchen. 

Mein Bruder. Mein Bruder sollte fahren, aber er will sein Geschäft und seine neu eingerichtete Wohnung nicht aufgeben. Dabei könnte es bei uns zu einer Generalmobilmachung kommen.

Aber das alles habe ich dir nicht gesagt bei unserem wahrscheinlich letzten Gespräch. Ich sass nur mit versteinerter Miene da und nickte, als du mir von den neuen Strickmustern erzähltest, und sagte: «Alles gut», als du mich fragtest, wie es gehe.

Wir haben nach der Krim gelernt, so mit dir zu sprechen. Politische Themen zu meiden. Manchmal hast du gefragt, wo Vasja sei. Ich antwortete: «Vasja hat Russland verlassen, weil ihm hier die Verhaftung droht.» Du hast dann genickt und nicht weitergefragt. 

Ich sehe mir Videos an und lese die unabhängigen Medien, von denen es immer weniger gibt. Du siehst fern. Ich weiss, du glaubst, dass die Ukraine Atomwaffen an der Grenze zu Russland einsetzen wollte, dass sie acht Jahre lang Kinder im Donbass tötete, aber jetzt «kapieren» sie es, jetzt sei «ihr Spiel» zu Ende. Ich weiss, du denkst, dass die Nato uns zuerst angegriffen hat und wir uns nur verteidigen. Dass es in der Ukraine keine zivilen Opfer gibt. Dass wir keine Wohngebäude bombardieren. Du weisst nicht, dass in den Strassen von Kiew gekämpft wird, weil im Fernsehen darüber nicht berichtet wird.

Ich weiss, du wählst Putin, du verstehst nicht, warum bei meinen Freunden Hausdurchsuchungen stattfinden und dass fast alle von ihnen als ausländische Agenten gelten – persönlich oder aufgrund ihrer Arbeitgeber. Du willst nichts davon wissen. Du bittest mich, dir nichts davon zu erzählen. 

Und ich erzähle es dir auch nicht. Es ist sinnlos. Das passiert jetzt in jeder Familie in Russland.

Ich will nicht mit dir diskutieren. Ich bin nur froh, dass wir uns verabschieden konnten. Und dass du mein Kreuzchen zum Abschied geküsst hast. Dass die Kirche so gut nach Weihrauch roch.

Du hast den Holocaust nie für eine Tragödie gehalten, obwohl ich jüdisches Blut habe. Ich habe mich immer gefragt, wie sie es zulassen konnten, wie das alles angefangen hat. Jetzt weiss ich es. 

Ksenia

Ksenia Leonowa ist Journalistin und lebt in Moskau.

Aus dem Russischen übersetzt von Dmitrij Gawrisch.