Als Lamine die Piroge bestieg, war die Sonne gerade hinter dem Horizont verschwunden. Das Holzboot war mit 24 Metern Länge dreimal so gross wie jenes, das er sonst zum Fischen bestieg, auch fehlten die Fangnetze, die aus Platzgründen an Land gelassen worden waren. 197 Menschen zwängten sich hinein, alle hatten sie das gleiche Ziel: Europas letzten Aussenposten. Lamine, ein kleiner Mann Mitte zwanzig mit einem Bärtchen und einer Narbe über dem linken Auge, erfuhr von dieser Ausreisegelegenheit durch einen Freund, der ihm auch gleich die 400 000 senegalesischen Francs, rund 600 Euro, lieh, welche der Bootsführer für die Überfahrt gefordert hatte. Lamine wollte sein Land verlassen, weil er schon eine Weile nicht mehr vom Fischfang leben konnte. Und weil ein Dorfbewohner von Joal-Fadiouth, der nach einem Unglück auf dem Meer einen Angehörigen verloren hatte und dies Lamine in die Schuhe schob, auf Rache aus war. Lamine, der seit diesem Vorfall leicht hinkte, setzte sich ans Ende der Piroge, an der die Insassen in den kommenden Tagen ihr Geschäft verrichten würden. Sobald der Fahrer den Motor angeworfen hatte, rief er seine jüngere Schwester an und erzählte ihr, dass er zu den Kanarischen Inseln fahren würde. Niemand sonst wusste davon. Dann warf er sein Mobiltelefon ins Meer.
Nicht weit von Joal-Fadiouth entfernt, in der Hafenstadt Mbour, schlenderte ebenfalls im Herbst 2020 Amed den Strand entlang und überlegte, wie er aus der Sackgasse, in der er sich als Enddreissiger zu befinden glaubte, herauskommen könnte. Amed, der grüne Militärhosen zu seinen Rasta-Zöpfen trägt, hatte von klein auf unter Fischern gelebt, doch die harte Arbeit auf dem Meer war nichts für ihn. Er zog es vor, mit seinem Taxi Ausländer durch die Strassen des Städtchens zu fahren. Sein Geschäft lief gut – bis die Corona-Pandemie ausbrach. Ausser Fischfang und Tourismus gibt es in Mbour nichts. Ahmeds Gedanken drehten sich im Kreis, als er in den Dünen eine Gruppe von Fischern aus der Nachbarschaft entdeckte. Sie machten keine Fitnessübungen wie oft nach einem Tag auf dem Meer, sondern verharrten in der Hocke und warteten, wie ihm bald klarwurde, auf den Einbruch der Nacht, um im Schutz der Dunkelheit aufzubrechen. Da schoss ihm der Gedanke durch den Kopf: Das war es! Auch er musste weg von hier! Drei Nächte später befand er sich auf einer Piroge. Die in vielen Farben bemalten schmalen Boote sind Namensgeber Senegals: «Sunu gaal» heisst in der Sprache der grössten ethnischen Gruppe des Landes, der Wolof, «unsere Piroge». Für die Küstenfischer sind sie seit Jahrhunderten ihr wichtigstes Arbeitsmittel. Die Piroge mit Amed fuhr zunächst nach Westen, in Richtung der Kapverdischen Inseln, dann in nördliche Richtung parallel zur mauretanischen Küste und schliesslich in der Hoffnung, nicht von der marokkanischen Küstenwache gestoppt zu werden, zu den Kanarischen Inseln. 1500 Kilometer auf dem Seeweg über den Atlantik. Von Spanien wollte er zu seinem Bruder nach Basel gelangen, der es vor Jahren auf legalem Weg in die Schweiz geschafft hatte.
Auch Mamadou war einer der Fischer aus Joal-Fadiouth, die seit geraumer Zeit mit spärlichem Fang von ihren Ausfahrten zurückkehrten. Der Traum vom eigenen Haus und einer Familie schien für den 24-Jährigen unerfüllbar. Mit der 8-Meter-Piroge seiner Brüder, mit der sie frühmorgens aufbrachen, konnten sie am Ende kaum noch genügend Fisch fangen, um das Benzin für den Aussenbordmotor bezahlen zu können. Und weil der grossgewachsene und stets elegant gekleidete Mann vor wenigen Monaten geheiratet hatte und es seiner Frau Dialejo eines Tages besser gehen sollte, wollte Mamadou sein Glück auf den Kanarischen Inseln versuchen. Dort wollte er als Fischer arbeiten und viel Geld verdienen, bis er seine Frau nachholen würde. Zwei Wochen dauerte seine Überfahrt, ein Albtraum, sagt Mamadou, der Proviant reichte nicht für die 160 Personen an Bord. Am Ende zählte für ihn nur noch, das Boot lebendig zu verlassen.
Diese Recherche wurde durch den Reportagen-Recherchefonds finanziert
Lamine, Amed und Mamadou sind drei von 23 000 Menschen aus Afrika, die 2020 auf einfachen Holzbooten zu den Kanarischen Inseln gelangt sind. Das waren fast zehnmal so viele wie im Jahr davor. Allein im letzten Jahr sind auf dieser Route schätzungsweise 4000 Menschen ums Leben gekommen. Sie haben die gefährliche Überfahrt wegen islamistischen Terrors, Staatsversagen und Dürren, aber auch wegen fehlender Lebensperspektiven auf sich genommen. Dass nachweislich viele Senegalesen unter ihnen sind, wirkt auf den ersten Blick erstaunlich. Denn auf dem Papier ist ihre Heimat ein friedliches, prosperierendes Land. Doch es gibt auch eine andere Erzählung über Senegal. Da ist es ein Land unter Spannung, weil ihm eine seiner wichtigsten natürlichen Ressourcen schleichend abhandenkommt. Senegal werden laut einem UN-Bericht in den kommenden Jahren 150 000 Tonnen Fisch fehlen, obwohl das Land über eines der fischreichsten Gewässer der Erde verfügt. Fisch, der von der einheimischen Bevölkerung nicht gefangen, gehandelt, verarbeitet und verspeist werden kann; der 75 Prozent des tierischen Eiweisses in der Ernährung des Landes liefert und an dem über eine Million Arbeitsplätze hängen. Fisch, der anderswo als Futtermittel eingesetzt wird und der über verschiedene Stationen auch auf unseren Tellern landet. Um zu verstehen, wie der Export von Fisch und die Abwanderung der Menschen zusammenhängen, sind wir von den Kanarischen Inseln an die Westküste Afrikas gereist. Die Spur des Fischs führt uns aber noch weiter, viel weiter, bis zu gigantischen Zuchtanlagen im Süden Chinas.
AUF DEN KANARISCHEN INSELN
Im Hafen von Las Palmas auf Gran Canaria geht es im November 2020 sehr chaotisch zu. Die Ankunft der vielen Pirogen überfordert die Polizei, die Guardia Civil, Behördenvertreter, Mitarbeiter vom Roten Kreuz und freiwillige Helfer gleichermassen. Die rasch errichteten Zeltlager platzen aus allen Nähten, es fehlt an Verpflegung, Decken, sanitären Einrichtungen, ärztlicher Betreuung. Nach ihrer Seerettung werden die Migranten zusammengepfercht wie Tiere, sie schlafen auf dem nackten Boden. Schnell verbreiten sich die Bilder von der «Hafenmole der Schande» in den Medien, während zur gleichen Zeit in Brüssel der Abschluss eines weiteren Fischereiabkommens zwischen der EU und Senegal bevorsteht.
Zwei Indikatoren deuteten darauf hin, dass es eine Verschiebung der Migrationsrouten geben würde. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hatte die Küstenwache in Libyen über Jahre geschult, ausgestattet und bezahlt, um Flüchtlingsboote aufzuhalten, bevor sie das Mittelmeer überquerten. Die Grenzzäune der beiden spanischen Enklaven in Nordafrika, Ceuta und Melilla, waren ebenfalls verstärkt worden. Gleich zwei der Wege für Menschen aus Tschad, Niger, Mali und Burkina Faso nach Europa wurden zu Sackgassen. Also wichen sie nach Westen aus. Weil Marokko und Mauretanien, selbst Abwanderungsländer, mit Frontex kooperierten, begann die Migrationsroute zu den Kanarischen Inseln 2020 bereits in den Dünen der Sandstrände Senegals.
Willkommen sind die Menschen aus Afrika auch auf der Nachbarinsel Teneriffa nicht. Sie leidet unter der Corona-Pandemie, 2020 ist der Tourismus, wichtigster Wirtschafsfaktor, um 70 Prozent eingebrochen. Taxifahrer Amed landet in einem Flüchtlingslager, die Fischer Lamine und Mamadou werden nach ihrer Ankunft in ein leerstehendes Hotel eingesperrt, welches sie wegen Corona drei Monate lang nicht verlassen dürfen. Dass nicht zahlende Touristen aus Deutschland, sondern Migranten kostenlos in den Hotels untergebracht sind, stösst manchen Einheimischen sauer auf. Ein gefundenes Fressen für rechte Parteien wie Vox oder Coalición Canaria, um die Bevölkerung aufzuwiegeln.
An einem späten Julitag 2021 sperrt die Polizei die Innenstadt von La Laguna ab, damit zwei Protestzüge auf der Plaza eintreffen können. Mehrere hundert Demonstranten – darunter junge Feministinnen, ergraute Alt-Linke mit «Free Palestine»-Rucksäcken und NGO-Aktivisten – skandieren zu Trommeln Parolen gegen das Grenzregime Spaniens und die Asylpolitik der EU. Die Regierungen in Madrid und Brüssel sind sich einig, dass die Migranten nicht aufs Festland gelangen sollen. Sie wollen die Inseln im Atlantik nicht als Sprungbrett für illegale Einwanderung nach Europa etablieren. Dagegen sorgen sie sich in Teneriffa vor dauerhaften Zuständen, vor Bildern wie auf Lesbos oder Lampedusa.
Der Grund dafür, warum die Fischer Lamine und Mamadou immer weniger Fische nach Hause gebracht haben, liegt im Jahr 1979, als Senegal und die Europäische Gemeinschaft, Vorläufer der EU, ihr erstes Fischereiabkommen abschliessen. Das Wettrüsten ist zu diesem Zeitpunkt weltweit in vollem Gange. Innerhalb von drei Jahrzehnten hat sich die jährliche Fangmenge mehr als verdreifacht, auf rund 68 Millionen Tonnen Fisch. Mit immer grösser werdenden Trawlern, Ortungsgeräten und mit Schleppnetzen, in die ganze Dörfer hineinpassen, räumen die grossen Industrie- und Fischereinationen die Meere leer.
Das kommt nicht von ungefähr: Über Jahrhunderte galt der Grundsatz der Freiheit der Meere, Fisch als unerschöpfliche Ressource, der ausserhalb von 12 Seemeilen Abstand von der Küste eines Staates gefangen werden darf. Island ist Ende der 1950er Jahre der erste Staat in Europa, der seine Gebiets- und Nutzungsansprüche wegen erschöpfter Fischgründe mehrfach eigenmächtig erweitert. In drei Kabeljaukriegen streitet sich der Inselstaat mit Grossbritannien um die Bestände des beliebten Raubfischs, der vor Island laicht. Auf dem Höhepunkt des Konflikts werden Fangnetze durchtrennt, Boote rammen einander. Die Briten verhängen Wirtschaftssanktionen, die Isländer drohen mit einem Nato-Austritt – und setzen sich durch: Ihre Fischereizone wächst von 12 auf 200 Seemeilen an. Im Gegenzug legt die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1977 ebenfalls eine solche «ausschliessliche Wirtschaftszone» fest. Rund 90 Prozent der Fischbestände geraten unter die Kontrolle von Küstenstaaten. Die weltweit einsetzende Nationalisierung der Meere wird fünf Jahre später durch ein UN-Seerechtsabkommen auch völkerrechtlich festgeschrieben. Darin wird auch festgehalten, dass in den ausschliesslichen Wirtschaftszonen von Drittstaaten nur Fisch beansprucht werden darf, den die einheimischen Fischer wegen ihrer Auslastung oder fehlender technischer Ausstattung nicht selbst fangen können.
Die Europäer brauchen in jenen Tagen neue Partner, um den steigenden Hunger nach Fisch zu stillen. Das ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Notwendigkeit: Die hochgerüsteten und massiv subventionierten Fischereiflotten müssen beschäftigt werden. Fündig werden die Europäer bei ihren ehemaligen Kolonien in Nordafrika. An der Westküste befinden sich besonders artenreiche Meeresgebiete, die damals noch nicht im grossen Stil industriell befischt werden.
IN SENEGAL
Senegal ist 1979 der erste afrikanische Staat, mit dem die Europäische Gemeinschaft ein Fischereiabkommen abschliesst. Gegen den Zugang zum europäischen Markt, Ausfuhrsubventionen für senegalesischen Fisch und Ausgleichszahlungen dürfen europäische Trawler die hoheitlichen Gewässer Senegals befischen. Nur einen Bruchteil ihrer Fänge müssen sie an den dortigen Häfen anlanden, was bei den rabiaten Fangmethoden einer Einladung zur Plünderung gleichkommt. Schnell wird klar, dass das Abkommen für Senegal ein kurzfristiger wirtschaftlicher Erfolg ist, aber kein nachhaltiges Geschäft, weil der Fokus auf Export den Aufbau eines eigenständigen Fischereisektors verhindert. Die Millionen aus Brüssel versickern regelmässig im Staatsapparat. Das Abkommen wird zur Blaupause für die Verträge, die andere afrikanischen Staaten mit der EU abschliessen. Es ist so etwas wie der Ursündenfall der europäischen Fischereipolitik.
Das Meer vor Senegal ist flach wie weite Teile des Landes. Es ist deshalb nicht blau wie das Mittelmeer, sondern tendiert zu einem lieblichen Grün. Mit jedem Kilometer, den man weiter hinausfährt, nimmt die Wassertiefe lediglich um einen Meter zu. Vor der Küste halten sich überwiegend kleine Schwarmfische wie die Sardine (Sardinella aurita) auf, welche die Fischer mit ihren Pirogen zwischen dem Kolonialstädtchen Saint-Louis im Norden und der Region Casamance ganz im Süden des Landes seit Jahrhunderten fangen.
Unsere erste Beobachtung auf der Fahrt vom Flughafen Richtung Dakar erzählt nicht von einer Krise, sondern von einer strahlenden Zukunft. Nach einem Kilometer auf dem Weg zur Hauptstadt passieren wir einen imposanten, runden Glasbau, in Rot, Grün und Gelb gehalten. Die Dakar Arena ist das Nationalstadion der Basketballer, finanziert von Geldgebern aus einem fernen Land und Teil einer Geschäftsbeziehung, die am Ende auch den Fisch einschliesst. Wenig später taucht ein noch grösserer Rohbau auf, der als Kopie des «Vogelnests» erkennbar ist, dem Stadion der Olympischen Spiele von Peking.
Im Hafen von Dakar liegen im September 2021 um die hundert Schiffe vor Anker, industrielle Fischerboote, die entweder entladen oder für die nächste Ausfahrt vorbereitet werden. Auf einigen weht die Flagge Senegals, obschon der Rumpf mit chinesischen Schriftzeichen versehen ist. Augenfällig ist der erbärmliche Zustand vieler Schiffe, vor Rost strotzend, auf denen sich kaputte Netze, verbeulte Kanister und eine Unmenge an Gerümpel neben totem Fisch stapelt. In Mbour, 100 Kilometer südlich von Dakar, stossen wir auf eine grosse Zahl Pirogen in den schillerndsten Farben. Nur wenige Meter vom Wasser entfernt liegen sie zwischen Unmengen von Abfall, streunenden Ziegen und zum Trocknen ausgebreiteten Fischnetzen auf dem sandigen Strand. Die Rümpfe der Pirogen zieren kunstvolle Verse, die auf die Familie der Besitzer und deren Vorfahren zurückreichen. Auch religiöse Insignien dekorieren die Pirogen, und nicht selten werden sie vor der ersten Ausfahrt von einem Marabout, einem geistlichen Führer, gesegnet. Auf den grössten von 24 Metern Länge finden 35 Fischer Platz, die bis zu 3 Tonnen Fisch laden können. Rechnet man Bootsbauer, Träger, Zwischenhändler und die Frauen, die den Fisch verarbeiten, dazu, gibt eine Piroge 100 bis 150 Menschen Arbeit.
Am Bug weht oft eine Nationalflagge von Deutschland, Spanien, Frankreich oder anderen europäischen Ländern. Sie sind ein Zeichen der Verbundenheit zu Fussballklubs und Symbol für den Sehnsuchtsort ihrer Eigentümer. Manche Piroge wird bei ihrer allerletzten Ausfahrt aufs Meer zum Fluchtmittel umfunktioniert. Wie schmal der Grat zwischen Traum und Albtraum bei der Überfahrt ist, hat uns Lamine, der Fischer mit der Narbe über dem Auge, in Teneriffa erzählt: «Am fünften Tag ging uns der Treibstoff aus. Wir hatten keine Lebensmittel und kein Wasser mehr. Von da an war es ein Albtraum. Wir konnten jeden Tag nur ein wenig Wasser aus dem Meer trinken. Alle fingen an, die Nerven zu verlieren, sogar der Bootsführer, der mit seinen vier Kindern unterwegs war. Ich versuchte ihn zu beruhigen, damit er nicht noch mehr Angst auf die Menschen in der Piroge übertrug, und um Panik zu vermeiden. Aber die Menschen begannen zu sterben. Ich kannte nur einen der Passagiere, den Sohn eines Freundes meines Vaters. Als ihm schlecht wurde, bat ich ihn, seinen Kopf auf meine Beine zu legen. Er schlief ein. Als ich einige Stunden später sah, dass er sich nicht bewegte, rüttelte ich ihn ein wenig, um ihn zu wecken. Ich versuchte es erneut, aber er wachte nicht mehr auf. Nach 14 Tagen wurde unser dahintreibendes Boot vom Roten Kreuz entdeckt. 26 Menschen verloren ihr Leben. Sie wurden alle ins Meer geworfen.»
Der Direktor des Fischereiministeriums in Dakar, Diène Faye, wird uns später erzählen, dass von den 24 000 Pirogen Senegals nur noch zwei Drittel offiziell registriert seien – und deren wirtschaftliche Bedeutung sinke: Der Fang der handwerklichen Fischerei mache an der jährlich in Senegal gefischten Menge noch 15 Prozent aus. «Viele Fischer haben in jüngster Vergangenheit den Beruf gewechselt – oder ihre Boote sind im Meer einfach versunken.»
Dass sich Seefahrernationen wie Spanien, Frankreich, England oder Dänemark im ausgehenden 20. Jahrhundert überhaupt auf eine Fischereipolitik einigen konnten, ist erstaunlich. Es geschah, so viel lässt sich sagen, durch die Erschaffung einer komplexen Regulierungsmaschine, die einen Ausgleich zwischen den Fischern der Mitgliedsstaaten finden, Arbeitsplätze erhalten, eine steigende Nachfrage nach Fisch bedienen und gleichzeitig die fortschreitende Überfischung der europäischen Gewässer stoppen sollte – die Quadratur des Kreises also. Hierfür wurden Ausschüsse gebildet, Berichte und Rechtsvorschriften geschrieben, ehe der Ministerrat in einem Akt politischen Geschachers Fangquoten festlegte. Sie lagen regelmässig weit über den wissenschaftlichen Empfehlungen. Dieser konzertierte Selbstbetrug funktionierte so lange, bis nicht mehr zu übersehen war, dass etwa im Mittelmeer und der Ostsee die Speisefischbestände fast leergefischt waren.
Da war es praktisch, dass die Fangmengen im Fischereiabkommen mit Senegal alle paar Jahre neu ausgehandelt werden konnten. Im Abkommen von 1992 zum Beispiel wurden diese für Edelfische wie den Weissen Zackenbarsch um 57 Prozent erhöht, entgegen der Empfehlung des Zentrums für Meeresforschung in Dakar, das die Europäer finanziert hatten. Vielleicht noch entscheidender aber war, dass die Abkommen wie eine Einladung formuliert waren, diese zu umgehen. Bereits in den 1980er Jahren hatten zuerst französische Fischer in Senegal Gemeinschaftsunternehmen gegründet, um unter senegalesischem Recht küstennah fischen zu können. Eine schlagkräftige Fischereiaufsicht und ein Bestandsmanagement kann das Land bis heute nicht vorweisen, was Anzeichen von Überfischung schwer nachweisbar macht. Und so bedeuteten die Abkommen vor allem ein gutes Geschäft für die Europäer, die mit jedem Euro, den sie für Fischereirechte in Westafrika investierten, etwa das Zehnfache an Umsatz machten.
Einer der Ersten, dem dieses Ungleichgewicht auffiel, war Peter Crampton. Der britische EU-Parlamentarier schrieb 1994 an die EU-Kommission, dass die Abkommen weder zur Entwicklung der einheimischen Fischereiindustrie noch zu einem wirtschaftlichen Aufschwung beitrügen. Vielmehr entstünden Konflikte um den Zugang zu Ressourcen, Fischereiarbeiter könnten auswandern. Und, so Crampton, widersprach das nicht der Politik der EU, die der Entwicklung von Ländern wie Senegal dienen sollte?
Der Beutezug aber ging weiter. Während europäische Reeder darauf verwiesen, dass sie in Westafrika lediglich Überschüsse abfischten, die sie in weiten Teilen vertragsgemäss anlandeten und damit auch regionale Märkte versorgten, sahen Entwicklungshelfer darin eine Verdrängung der handwerklichen Fischerei und eine Gefahr für die Substanz der Bestände. Die Situation trieb 2006 wütende Fischer auf die Strassen und Tausende von ihnen schon einmal in Holzbooten auf die Kanarischen Inseln. Worauf die senegalesische Regierung das Abkommen mit der EU kündigte.
«Kein Abkommen war aber auch keine Lösung», sagt Francesco Mari, der als Referent für Fischerei beim Hilfswerk «Brot für die Welt» die Situation vor Ort gut kennt. Ohne Abkommen florierten die Wildwest-Methoden auf dem Meer nur umso mehr. Vor allem spanische Unternehmen beschafften sich über Joint Ventures private Fanglizenzen, um unter senegalesischer Flagge fischen zu können. Erst als die EU-Kommission 2009 ein Grünbuch mit all den Lebenslügen ihrer gemeinsamen Fischereipolitik vorlegte, wurden auch die Praktiken der europäischen Fangflotten in Westafrika genauer unter die Lupe genommen. Nach der EU-Fischereireform und der Wiederaufnahme des Abkommens mit Senegal wurden die Fangmengen zuletzt deutlich reduziert und die Kontrollmethoden verstärkt. Die Behauptung, dass die Europäer den Afrikanern den fangfrischen Fisch wegnehmen, sei mittlerweile falsch, sagt auch Mari. Dumm nur, dass vor ein paar Jahren noch ein Konkurrent für die senegalesischen Küstenfischer auftauchte. Er war nicht neu, seine rostigen Fischerboote verkehrten schon seit Jahrzehnten weit draussen im Atlantik, um Thunfische zu jagen. Nun aber kam er immer näher an die Küste: China.
Welche Bedeutung die handwerkliche Fischerei für die Bevölkerung an der Küste hat, zeigt der Markt von Mbour. An einem späten Nachmittag füllt sich der Strand mit Händlern, Marktfrauen, Trägern, aber auch mit Kindern und Bettlern. Im Wasser reihen sich die Pirogen mit dem Fang des Tages aneinander. Träger schwimmen mit Plastikbehältern zu ihnen hin und – sobald ein Geschäft mit den Händlerinnen besiegelt worden ist – balancieren bis zu 50 Kilogramm Fisch auf ihren Köpfen in Richtung des Marktgebäudes. Wer ihnen im Weg steht, wird beiseitegeschubst. Am Strand treiben Kinder die vor Lastkarren gespannten Maultiere an, der Konkurrenzkampf ist gross. Die Händlerinnen feilschen mit den ankommenden Fischern und stehen dabei kniehoch im Wasser. Ihre langen, farbigen Kleider betonen ihre Kurven.
Ältere und schon etwas rundlichere Frauen beugen sich über Fische und Schalentiere, die sie säubern und im Sand zu kleinen Haufen türmen. Zuvor standen auch sie bis zur Brust im Wasser, um von den Fischern jenen Fisch zu ergattern, der nicht in die Markthalle zu den Grossisten gelangt. Um ihre Ware vor der Sonne zu schützen, haben ein paar von ihnen Regenschirme oder Plastikplanen aufgespannt. Das Angebot ist gross, auch Thunfische, kleinere Haie und ein Schwertfisch sind auszumachen. Und jede Menge «Camembert». So wird die Muschelschale genannt, die dem Thieboudienne, dem landestypischen Reis- und Fischgericht, den intensiven Meeresfrüchtegeschmack verleiht. Was hingegen fehlt, ist Thiof, der Weisse Zackenbarsch, der dem Nationalgericht die Krone aufsetzt. Sein Preis sei ins Unermessliche gestiegen, erzählt uns eine der Frauen. Der Thiof war einmal der beliebteste Fisch des Landes. Als seine Bestände fast komplett zusammengebrochen waren, wurden eben Sardinen gefischt. Nur ist man damit auch am unteren Ende der Nahrungskette angekommen. Danach kommt nur noch Plankton.
Auf einer Anhöhe steht die Markthalle, ein einfaches Gebäude, dessen Dreiteilung sinnbildlich für die Ansprüche und die Handelswege auf einem globalen Markt ist. In den ersten Trakt rennen die Träger hinein, verfolgt von Kindern, die darauf hoffen, dass ein Fisch aus den Behältern schwappt, damit sie ihn verkaufen oder mit nach Hause nehmen können. Zwischen Pfützen mit schwarzem Wasser wird reger Handel getrieben. Es riecht nach Schweiss und Fischabfällen. Er wird für den Weitertransport ins Landesinnere oder weiter nach Mali und Burkina Faso gerüstet. Noch vor Sonnenuntergang produzieren Hunderte Lastwagen auf der Mbour umgebenden Strasse kilometerlange Staus.
Im zweiten Trakt der Markthalle glänzt der Fussboden, es riecht angenehm nach frischem Fisch. In den mit Eis gefüllten Verpackungskisten liegen Zackenbarsche, Seebrassen und Hummer, die bereits einer gründlichen Hygienekontrolle unterzogen worden sind. Hier landet nur die Ware, die Grosshändler direkt mit den Fischern vorab ausgehandelt haben; sie gelangt die mit dem Flugzeug nach Europa und wird zwölf Stunden später auf den Märkten von Brüssel, Paris, Rom oder Madrid präsentiert. Ein Lastwagen wird gerade mit Tintenfisch gefüllt, einem Fisch, den die Senegalesen eigentlich nicht mögen und jahrelang lediglich als Köderfisch eingesetzt haben. Doch weil das spanische Gericht pulpo a la gallega sich in Europa steigender Beliebtheit erfreut, fliesst nun ein Teil der EU-Subventionen gezielt in diesen Sektor.
Im letzten Abschnitt der Halle wird ebenfalls Kühleis verwendet und die Ware im Voraus verhandelt. Die Hygienekontrolle allerdings fällt aus. Von hier aus wird der asiatische Markt, insbesondere der chinesische, versorgt. Das Geschäft läuft saisonbedingt flau, denn der wandernde Fisch, auf den die Chinesen hauptsächlich aus sind, macht in der Regenzeit einen Bogen um Senegals Küstengewässer. Es ist ein Fisch, den Europäer aufgrund seiner vielen Gräten kaum auf den Speiseplan setzen; ein Fisch, der die Proteinzufuhr der allermeisten Senegalesen gewährleistet, seit die seltener werdenden Grundfische wie der Thiof, der Seehecht oder die Dorade dem Export vorbehalten sind: die Sardine. Sie macht den grössten Teil der jährlichen Fangmenge aus. Doch selbst um diesen Fisch ist mittlerweile Konkurrenz entbrannt.
Warum interessiert sich China für einen kleinen, grätenreichen Fisch vor der Küste Senegals? Antworten findet, wer neben der Globalisierung der Fischwirtschaft auch die Geschichte beider Länder studiert. Um sich im Zeitalter des Kalten Krieges aus der politischen Isolation zu befreien, beginnt China in den 1960er Jahren, seine Fühler nach Subsahara-Afrika auszustrecken. Die dortigen Befreiungsbewegungen wollen in ihren Ländern einen afrikanischen Sozialismus aufbauen. Sie sind deshalb auch eher misstrauisch gegenüber den Versprechen der ehemaligen Kolonialherren, die Entwicklungsgelder oftmals karitativ verstehen oder mit politischen Zielvorstellungen verknüpfen. China entwirft ein Gegenmodell, eine Aussenpolitik des Friedens, die auf gegenseitigem Nutzen und einer Nichteinmischung in innere Angelegenheiten basiert.
ZWEIKAMPF UM AFRIKA
Für diplomatische Anerkennung offeriert die Volksrepublik zunächst nicht viel mehr als eine geteilte Erfahrung als Opfer imperialer Eroberung. Erst in den 1990er Jahren wird aus der Verbundenheit eine wirtschaftliche Zusammenarbeit. China hilft als Kreditgeber, Materiallieferant und Dienstleister beim Aufbau von Schürf- und Produktionsstätten und Verkehrsinfrastruktur. Und man will im Gegenzug Zugang an senegals Rohstoffe. Als Gastgeschenke gibt es Sonderkonditionen für den Bau von Krankenhäusern, Schulen und Regierungsgebäuden. Und manchmal ein Stadion gratis obendrauf. Dass sich korrupte Regierungen damit schmücken können, ficht China nicht an. Es ist eine Rechnung, die immer mehr aufgeht: Denn mit einem prosperierenden afrikanischen Kontinent schafft sich China auch Absatzmärkte für seine Produkte. Es erringt dadurch eine wirtschaftliche Macht, die sich gegenüber seinen Schuldnern auch als Druckmittel einsetzen lässt.
Das Verhältnis zu Senegal bleibt indes lange unterkühlt. Oder wie es Chinas Staatschef Xi Jinping im Juli 2020 in der regierungsnahen senegalesischen Zeitung Le Soleil ausdrücken lässt: Es ist eine Beziehung «mit Höhen und Tiefen und gelegentlichen Rückschlägen». Denn Senegal will sich nicht gleich in neue Abhängigkeiten begeben. Stattdessen tritt der erste Staatspräsident, der Dichter Léopold Sédar Senghor, für die «Négritude» ein – eine intellektuelle Strömung, die für eine kulturelle Selbstbehauptung aller Völker Afrikas eintritt und die wegen ihrer humanitären Botschaft auch im Westen Anerkennung erfährt.
Gleichwohl bandelt Senegal in den 1960er Jahren erst mit dem Erzfeind der Volksrepublik China an, mit Taiwan, das in den Wettlauf um diplomatische Anerkennung einsteigt. Erst 1971 schlägt man sich auf die Seite der Volksrepublik. Im folgenden Vierteljahrhundert fliesst pro Jahr nur ein niedriger einstelliger Millionenbetrag nach Senegal, das ein politischer Stabilitätsanker ist, dessen Wirtschaft aber kaum in die Gänge kommt. Als die verfeindeten chinesischen Bruderstaaten 1996 militärische Drohgebärden austauschen, hat sich Senegal unter Staatspräsident Abdou Diouf erneut zur Aufnahme von Beziehungen mit Taiwan entschieden, welches fortan viel Geld in Strassen, Landwirtschaft und Bildung pumpt. Doch der wirtschaftliche Hebel Chinas ist am Ende länger. Als 2005 ein Fünfjahresprogramm mit Investitionen in Höhe von 120 Mil-lionen Euro ausläuft, ist Senegal eines der letzten Länder Afrikas, das Taiwan fallenlässt. Zwischen Staaten könne es keine Freundschaften geben, sondern nur Interessen, schreibt Senegals Staatspräsident Abdoulaye Wade in einem Brief an seinen taiwanischen Kollegen Chen Shui-bian.
Dass sich senegalesische Politiker demjenigen Partner mit dem grössten Geldbeutel zuwenden, ist, glaubt man der Bevölkerung, eine Konstante, die Korruption weit verbreitet. «Nie wäre ich nach Europa gegangen, gäbe es in Senegal einen Weg, mit anständiger Arbeit zu leben», sagt Amed, der Taxifahrer mit den Rasta-Locken, bei unserem Treffen in Teneriffa. Wir besuchen seine Familie in Mbour, die in einem grossen Haus am Stadtrand wohnt. In den grosszügigen Zimmern stehen Doppelbetten, und in der Einfahrt steht ein Auto. Der Familie geht es gut, denn fünf der zwölf Kinder arbeiten in Europa. «Wenn man eine Fritteuse in der Nachbarschaft brutzeln hört, ist wieder Geld aus Europa eingetroffen», lautet ein Bonmot. Wir schicken Amed am gleichen Abend Fotos von uns, an der Seite seiner Mutter und seiner Geschwister.
50 Kilometer südlich von Mbour liegt der Fischerort Joal-Fadiouth, aus dem auch der frühere Staatspräsident Senghor stammte. Eine zehn Kilometer lange Strasse, die parallel zur Küste verläuft, ist die Lebensader des Dorfs. Zum Meer hin wohnen die Familien der Fischer, so auch jene des verheirateten Mamadou, der es als Fischer in Teneriffa zu etwas bringen will. Wir werden von seinen vielen Geschwistern, Cousins, den Eltern und der Ehefrau herzlich willkommen geheissen, und schon wird Thieboudienne serviert, also ob man mit uns gerechnet hätte. In Dakar leben durchschnittlich acht Menschen in einem Haushalt, hier sind es meist doppelt so viele. Die Mutter von Mamadou teilt sich den Mann mit einer zweiten Frau, was hier völlig normal ist. In Senegal leben 35 Prozent der Verheirateten in einer Vielehe, einer «famille élastique». Nach dem Essen machen sich ein paar der Brüder und Stiefbrüder auf zum Fussballspielen am Strand, während Mamadous Frau Dialejo und die Schwestern den Abwasch erledigen. Nach dem Eindämmern sitzt die Familie vor ihrem Haus, trinkt Tee oder Kaffee und unterhält sich mit den Nachbarn. Ein Junge bringt einen Sack Fische vorbei, man hilft, wo man kann, während ein Schmied im Laternenlicht an einer Anglerausrüstung hämmert und dazu religiöse Musik aus dem Smartphone hört.
AUF DEM MEER
Am nächsten Morgen, pünktlich um fünf Uhr, erklingt der Ruf des Muezzins zum Morgengebet, es folgen helle Kinderstimmen. Die Vier- und Fünfjährigen singen in der Koranschule Verse auf Arabisch. Männer schleichen im Dunkeln aus den Häusern zum Strand, wo Hochbetrieb herrscht: Dutzende von Pirogen werden in die Brandung geschoben. Eine gehört Omar und Birane, sie sind ebenso grossgewachsen wie ihr Bruder Mamadou. Die Piroge ist acht Meter lang und weniger als einen Meter breit. Wir setzen uns in den Bug des Holzbootes. Zwei Cousins steigen ein, und schon tuckert der 15-PS-Motor am Heck. Das Ziel sind Tintenfischgründe 30 Kilometer vor der Küste. Die folgenden zwei Stunden fahren wir bei starkem Wellengang hinaus in die Nacht. Schnell beginnt sich der Rumpf mit Wasser der Gischt heranrollender Wellen zu füllen. Die Vorstellung, auf einer Piroge eng zusammengepfercht 20 Tage auf dem offenen Meer unterwegs zu sein, lässt einen erschauern. Omar hingegen schaufelt mit grosser Selbstverständlichkeit Wasser aus dem Boot, Angst braucht man also nicht zu haben. Und als er dann bei Anbruch der Dämmerung eine Handvoll Kohle in einem Blechbehälter anfeuert, um Kaffee zu kochen, verlässt uns die Sorge augenblicklich, dass hier etwas schiefgehen könnte.
Wir sind angekommen. Das Einzige, was am Horizont zu erahnen ist, sind zwei, drei andere Pirogen, die ebenfalls auf Tintenfisch oder Sepia aus sind. Am Himmel eine Sonne, die bereits morgens erbarmungslos auf uns niederbrennt. Omar und Birane stehen aufrecht in der Piroge und werfen von Hand eine Silikonleine aus, die mit Haken versetzt ist und an denen farbige, dünne Metallstreifen hängen. Beim Einholen der Leine in rhythmischen Bewegungen glitzern die Streifen im Wasser und ziehen die Tiere an. Nach einer halben Stunde hängt ein kleiner Tintenfisch an einem Haken von Omars Leine, nach zwei Stunden ein zweiter, diesmal hatte einer der Cousins Erfolg. Das Tier wird vom Haken genommen und an Bord geworfen.
«So geht das schon seit Monaten», bricht Birane das Schweigen. Er spricht als Einziger Französisch und erklärt uns, dass hier zuvor vermutlich Trawler den Meeresgrund abgegrast hätten, deshalb sei nichts mehr zu holen, und sie müssten zum Fischen immer weiter raus. «Meine Brüder und ich, wir lieben unsere Arbeit. Doch wir wissen nicht, wie das weitergehen soll.»
Einer der Cousins betet das dritte Gebet des Tages. Danach werden die Männer redseliger, ausländische Reporter an Bord bringen eine Abwechslung in ihren Alltag. Sie erzählen von früheren, beutereichen Tagen, von der wachsenden Konkurrenz, von ihrer Liebe zum Meer und zum Fischen und von gefährlichen Momenten. «Einmal haben wir nachts vier Pirogen zusammengebunden, um zu schlafen», erzählt Omar auf Wolof, Birane übersetzt. «Plötzlich fuhr ein grosses Schiff dazwischen und zertrennte die Leinen. Eines der Boote sank, zum Glück konnten wir die Kollegen retten.» Die Herkunft des Schiffes liess sich nicht erkennen. Und auch von ihnen hören wir die Geschichte, wonach eine Piroge aus Protest, dass ein chinesisches Industrieschiff zu nahe an der Küste fischt, auf dieses zufuhr, wobei ein Besatzungsmitglied eine Pistole zog und den Bootsführer erschoss. Oder von jenem Fischer, der beim Versuch, einen Trawler zu besteigen, mit Säure übergossen wurde. Die Erzählungen decken sich mit Berichten von NGO, überprüfen lassen sie sich nicht. Über die Menge und die Herkunft der Trawler wissen Birane und seine Mannschaft wenig. Viele Fischer sind Analphabeten, «es war ein blaues Schiff», heisst es dann im Bericht an die Küstenwache, wenn es wieder einmal einen Zusammenstoss gab. Was sie mit Sicherheit wissen, ist, dass der Fisch fehlt. Doch woher sollten sie die Information über Fangmengen der Industrieschiffe auch herhaben? Birane weiss nicht einmal, wieso der Preis für Tintenfisch, den auch er nicht mag, seit dem neuesten Abkommen mit der EU gestiegen ist.
Gäbe es genug zu fischen, die vier Männer auf dem Boot wären glücklich. «Hast du die Jugendlichen gestern beim Fussball gesehen?», fragt Birane in die Stille hinein. «Sie träumen alle von Europa, genau wie wir.» 2020 sorgte der Fall eines 14-Jährigen für Aufsehen, der von seinem Vater losgeschickt wurde, um in Italien Fussballer zu werden. Der Junge wurde krank und starb auf der Überfahrt, seine Leiche landete im Meer. Der Vater wurde daraufhin in Senegal vor Gericht gestellt. Dabei spricht auch die senegalesische Regierung mit zwei Zungen. Während sie vorgibt, mit Spanien die illegale Migration bekämpfen zu wollen, animiert der senegalesische Minister für Arbeit junge Männer, das Land zu verlassen. Denn das rechnet sich für die politische Elite doppelt: Die Arbeitslosigkeit geht zurück, und die Auslandsüberweisungen nehmen zu. Was zynisch klingt, ist für Omar und Birane brutale Realität: Für das knappe Dutzend Tintenfische werden sie am Ende eines langen Tages auf dem Markt einen Betrag von umgerechnet 15 Euro bekommen. Wie sollen sie damit eine Familie ernähren?
Dabei gehörte Senegal vor der Pandemie regelmässig zu den afrikanischen Staaten mit dem höchsten Wirtschaftswachstum. Wenn das Land im kommenden Jahr mit der Offshore-Förderung mit Öl und Gas beginnt, könnte der Anstieg im zweistelligen Prozentbereich zu liegen kommen, schätzen Analysten. Nur geht diese Entwicklung weitgehend an Fischern wie Omar und Birane vorbei. Schlimmer noch: Die Weltmacht, die das Wachstum stark angefacht hat, schadet ihnen direkt. Das Handelsvolumen zwischen China und Senegal ist seit 2005 von 200 Millionen Dollar auf zuletzt über 2,5 Milliarden Dollar gestiegen. Es sind Waren, viele davon elektronische Geräte, Maschinen und Textilien, die am Hafen von Dakar ankommen. Umgekehrt interessiert sich China für Gold, Phosphate und seltene Erden, die im Osten abgebaut werden. Auch für Baumwolle, Erdnüsse und Getreide. Allein zwischen 2018 und 2019 hat sich das Exportvolumen von Senegal nach China mehr als verdoppelt. Dabei spielt auch Fisch eine Rolle. Exportierte der westafrikanische Staat 2009 Speisefisch, Krebs- und Weichtiere für etwa eine Million Dollar nach China, betrug der Warenwert ein Jahrzehnt später bereits 25 Millionen Dollar.
Dass China im Galopp vom Bauernstaat zur Industrienation geworden ist, lässt sich auch an der Ernährung ablesen. Bis in die 1980er Jahre war sie reich an Getreide, Gemüse und Hülsenfrüchten, heute dominieren Zucker, Fett und tierisches Eiweiss. China braucht deshalb sehr viel Fisch. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich der Konsum pro Kopf mehr als verdreifacht, auf über 40 Kilogramm im Jahr. Dieses Wachstum ist Folge des steigenden Wohlstands der chinesischen Gesellschaft, aber auch ein Auftrag an eine Armada, die grösser ist als die Flotten der Fischereinationen Taiwan, Japan, Südkorea und Spanien zusammen. Das Overseas Development Institute hat 2020 fast 17 000 industrielle Fernfischerboote ausgemacht, etwa sechsmal so viele wie von China offiziell ausgewiesen. Teilweise sind sie schwimmende Fabriken, auf denen der Fisch gleich filetiert und tiefgefroren wird. Oder unter Deck von Maschinen zu einem Pulver zermahlen, über das noch zu reden sein wird. Die meisten dieser Schiffe sind so gross, dass sie in einer Woche so viele Fische fangen wie viele der Pirogen in einem Jahr. Wird ihnen keine Fanglizenz erteilt, wie in Senegal für 52 chinesische Trawler 2020 tatsächlich geschehen, fahren diese Schiffe einfach unter der Flagge einheimischer Nationen. Die Praxis haben die Chinesen von den Europäern abgeschaut.
Mit «Prête-nom»-Verträgen, einer Art Joint Venture mit einheimischen Strohmännern, gelingt es immer wieder, chinesische Schiffe als «senegalesisch» zu nationalisieren – und so die entsprechenden Lizenzen zu erhalten. Oder sie operieren gleich ganz als Fisch-Piraten. Greenpeace schätzte bereits 2015, dass Senegal jedes Jahr durch Beifang und illegales Fischen maritime Ressourcen im Wert von 300 Millionen Dollar gestohlen werden. Eine Zahl, die Ministeriumdirektor Diéne Faye aktuell bestätigt. Im Index der Globalen Initiative zu illegaler, nicht gemeldeter und unregulierter Fischerei belegt China seit Jahren Platz 1.
Das Land subventionierte seine Fischereiindustrie zuletzt mit schätzungsweise über sieben Milliarden Dollar im Jahr. Der Fischereibiologe Daniel Pauly hat die Konsequenz daraus einmal als «Wettlauf nach unten» bezeichnet: Länder, deren Bestände erschöpft sind, schicken ihre Hochseeflotten in immer entlegenere Gebiete. Die Welthandelsorganisation versucht seit 20 Jahren, eine Begrenzung der Fischereisubventionen zu erreichen − und scheitert regelmässig auch am Widerstand Pekings. Die Subventionen, die auch von Japan und der EU massiv ausgeschüttet werden, gelten als Grund, warum es Ländern wie Senegal erst gar nicht gelingt, konkurrenzfähige Flotten aufzubauen. Gleichzeitig wären Subventionen der wichtigste politische Hebel, um den globalen Rückgang der Fischbestände zu stoppen. Diese Erkenntnis wird auch in China geteilt. Es ist deshalb schon vor vier Jahrzehnten zu einer Methode übergegangen, die ursprünglich als eine der Lösungen gesehen wurde, um die Überfischung der Ozeane zu stoppen: Aquakulturen, die kontrollierte Aufzucht von Fischen. Doch was vor 3000 Jahren während der Zhou-Dynastie in Chinas Karpfenteichen begann, ist zu einer globalisierten Industrie geworden, die den Raubbau an den Meeren neu befeuert hat.
FISCH FÜR SUBSAHARA
Nach dem Fischen mit der Piroge besuchen wir Ndeye, die kleine Schwester von Lamine, dem Fischer mit der Narbe über dem Auge. Ndeye teilt sich mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern ein Bett in einem dunklen Schlafzimmer, in dem ein barocker Kleiderschrank kaum Platz für Bewegung zulässt. Wenn sie nicht vom Esel im Hinterhof geweckt werden, sind es die drei Ziegen, die im Zimmer nebenan Lärm machen. Für umgerechnet fünf Euro im Monat haben sie es an den Nachbarn untervermietet, als Stall. Das Geld ist willkommen, Ndeye spart, sie will in Dakar Architektur studieren. Für ihren Berufstraum macht es ihr nichts aus, spätnachmittags die Fische vom Boden aufzusammeln, die beim Transport von den Pirogen zu den Händlern zu Boden fallen, und sie für ein paar Cents zu verkaufen.
Wir sind mit Ndeye unterwegs zur Fischfabrik von Joal-Fadiouth, der lokalen Räucherei und Trocknerei. Hier werden kleine pelagische Fische länger haltbar gemacht, eine Tätigkeit, die in allen Fischerorten an der Küste von Frauen ausgeübt wird. Die Fabrik entpuppt sich als ein Konglomerat von Gerüsten aus Schilfrohrstangen, die aussehen, als würden sie demnächst unter dem Gewicht der darauf zum Trocknen ausgelegten Fische zusammenbrechen. Überall liegen Plastik und Abfall herum, ein penetranter Gestank erfüllt die Luft, die örtliche Mülldeponie liegt gleich nebenan, aufsteigende Rauchsäulen so weit das Auge reicht. Unter einer Markise sitzen drei Frauen und warten auf Kundschaft. Plastikplanen schützen ihre Ware vor Fliegen oder einsetzendem Regen. Die Rauchsäulen stammen von den Öfen – einfache Betonkuben mit einem Gitterrost versehen, darunter brennendes Stroh –, auf denen die Fische geräuchert werden. Daneben klauben eine Frau und ihre Tochter in mühseliger Arbeit die Haut von den Tieren. Der gehäutete Fisch wandert in einen 20-Kilogramm-Behälter, der 10 Eurocents einbringt. Doch nicht deswegen verrichten die beiden die Arbeit: Die gelöste Haut wird an Kühe verfüttert. «Das verbessert die Milchqualität», sagt die Frau. Salzen, trocknen, räuchern: Der Prozess in der Fabrik dauert drei Tage und ermöglicht den Frauen ein kleines Einkommen. Anschliessend gelangt die Ware ins senegalesische Hinterland, nach Mali oder Burkina Faso. Für die Menschen fernab der Küste sind die haltbar gemachten Sardinen praktisch die einzige Form, Eiweiss zu sich zu nehmen. Doch auch die Lieferungen für die lokale Fabrik werden immer kleiner, weil eine globale Industrie in der Sardine kein Nahrungsmittel sieht, sondern einen Rohstoff.
Geht man nur nach den Zahlen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, so kündigte sich eine Zäsur in der Geschichte der globalen Fischwirtschaft an. Im Jahr 2026 wird die Menge an Zuchtfisch erstmals grösser als sämtliche Fänge in Meeren und Binnengewässern. Seit 1990 hat sich die Produktion von Aquakultur mehr als verfünffacht, kein Zweig der weltweiten Nahrungsmittelproduktion wächst schneller. Gewinner dieses Systems sind etwa börsennotierte Konzerne aus Norwegen, die in Süsswassertanks und Meereskäfigen Lachs für den Weltmarkt produzieren.
Bis 2050 will das skandinavische Land die Produktion von Lachs und Forellen verfünffachen, und das mit fischhaltigem Futter, das zu 90 Prozent importiert werden muss. Der grösste Gewinner aber ist China, das sich zum mit Abstand grössten Fischproduzenten der Welt aufschwingen konnte. Und die Verlierer? Das sind Länder wie Senegal oder die benachbarten Staaten Gambia und Mauretanien. An ihnen zeigt sich, wie afrikanische Staaten einmal mehr zu Rohstofflieferanten degradiert werden. Aus Sardinen und Bongas wird der Rohstoff für Aquakulturen gewonnen, ein braunes Proteinpulver.
Fischmehl wurde ursprünglich aus Abfällen von filetierten Speisefischen gewonnen, die heiss gekocht, gepresst, getrocknet und schliesslich gemahlen werden. Mit der Industrialisierung der Fischerei blieben immer mehr Beifang und Schlachtabfälle übrig, die zu Fischmehl verarbeitet wurden. Damit wurden Schweine und Hühner gemästet, mit dem Wachstum der Aquakultur gingen Fischmehl und auch Fischöl zunehmend in diesen Sektor. Mittlerweile endet jeder vierte im Meer gefangene Fisch als Futtermittel. Der grösste Produzent von Fischmehl ist Peru, das dank des Humboldtstroms über artenreiche Gewässer an seiner Küste verfügt. Peru produziert 30 Prozent des weltweiten Fischmehls, die Hälfte davon geht nach China. Bei der peruanischen Stadt Chimbote sind die Auswirkungen der Fabriken seit Jahrzehnten zu besichtigen: eine marginalisierte Kleinfischerei, Luft- und Meeresverschmutzung, vermehrte Lungen- und Atemwegserkrankungen.
Dabei brauchte es eine Laune der Natur, um die Industrie von der Westküste Südamerikas nach Westafrika schwappen zu lassen. Als ein starker «El Niño» im Herbst 2009 die Nahrungskette im Pazifik mal wieder zum Kollabieren brachte, die Population und damit auch die Fangmenge von Heringsfischen einbrach und sich der Marktpreis für Fischmehl kurzfristig fast verdoppelte, wurden zunächst in Mauretanien mit chinesischem Geld ein Dutzend Fischmehlfabriken hochgezogen. Sie verarbeiteten nicht mehr Abfälle, sondern ganze Sardinen zu Fischmehl − wie in Peru. Diese Fischmehlfabriken traten in direkte Konkurrenz zu den einheimischen Fischern. Laut der Coalition for Fair Fisheries Arrangements geschah bald Folgendes: Die Verbotszone für Trawler vor der Küste wurde von 15 auf 20 Seemeilen erweitert, um die Bestände vor Überfischung zu schützen. In der Zone sollten zunächst senegalesische Fischer die Sardinen für die Fischmehlfabriken fangen. Sie wurden ab 2016 durch türkische Fischerboote ersetzt, die mit Ringwadennetzen ungleich effektiver waren. Allein in der Stadt Nouadhibou entstanden nach und nach zehn chinesische Fischmehlfabriken, die ihre Produktion von Jahr zu Jahr steigerten, während die Fänge der Kleinfischer immer kümmerlicher wurden. Also entschied die Regierung Mauretaniens, die Förderung von Fischmehl erst zu beschränken, dann bis 2020 ganz einzustellen. Die EU, assistierte mit Vorschlägen für mehr Transparenz und Nachhaltigkeit, doch verändert wurde kaum etwas. Stattdessen hat sich die Ausfuhrmenge von Fischmehl wegen allerlei Ausnahmeregelungen für die chinesischen Fabriken seit 2010 vervierfacht. Diese Entwicklung war beileibe keine nationale Angelegenheit Mauretaniens, weil die Sardinenschwärme zwischen Guinea-Bissau im Süden und Marokko im Norden wandern. Wurden sie in den Gewässern Mauretaniens überfischt, so würden sie bald auch in Senegal und Gambia fehlen. Auch dort erlagen sie den chinesischen Verheissungen nach Arbeit, Steuern und Fortschritt. Bald waren an der 600 Kilometer langen Küste beider Länder ein Dutzend Fischmehlfabriken platziert wie Häuser beim Brettspiel Monopoly. Denn wer zuletzt kommt, mahlt zuletzt.
GAMBIA
Das Staatsgebiet von Gambia, dem kleinsten Land Kontinental-Afrikas, wird vollständig von Senegal umschlossen. Der Entwicklungspfad beider Länder ist ähnlich. Gambia nahm erst 2016 diplomatische Beziehungen zu China auf. Ein Jahr später liess der autoritäre Machthaber Yahya Jammeh Beschränkungen für die industrielle Fischerei in den Hoheitsgewässern fallen. Denn der Fisch verschwand auch so aus dem Meer. Zuletzt waren es vor allem chinesische Boote, die wegen unerlaubten Fischfangs von den Behörden und den Aktivisten von Sea Sheperd in der Wirtschaftszone gestoppt wurden.
Als 2015 im Fischerdorf Gunjur eine chinesische Delegation der Firma Golden Lead auftauchte, wurde das als Zeichen gedeutet, dass es nun vorbei sei mit den unsicheren Zeiten. Die Chinesen erzählten, dass sie eine Sardinenkonservenfabrik zu bauen beabsichtigten und dass sie dafür bloss etwas Land brauchten, jenes am Strand, neben der Lagune im Naturschutzgebiet. Im Gegenzug würden 600 Arbeitsplätze geschaffen, eine asphaltierte Zufahrtsstrasse anstelle der zerfurchten Schotterpiste gebaut und eine Markthalle für die Frauen des Dorfes errichtet. Versprechen, die in der Schwebe blieben, weil kein Dokument jemals unterzeichnet wurde. Doch die Vorfreude auf Prosperität liess sie die Warnungen eines Mauretaniers auf Durchreise ignorieren, der ihnen prophezeite, dass sie den Landverkauf schwer bereuen würden, spätestens dann, wenn die Fabrik ihren Betrieb aufnehmen würde. Als die Bewohner Gunjurs aus ihren Zukunftsträumen erwachten, war es zu spät. Seither bestimmt ein bestialischer Gestank nach Fisch und Rauch ihr Leben.
Wir sitzen im Wohnzimmer von Lamin Jassey, ein Umweltaktivist und ehemaliger Grundschullehrer, der sich für seine Dorfgemeinschaft engagiert, indem er Geld für Strassenbau sammelt, damit es Frauen in ihren Wehen lebend ins nächste Krankhaus schaffen, oder der Fussballspiele organisiert, um die jungen Männer vielleicht von ihrem Vorhaben abzubringen, nach Europa zu migrieren. «Die Chinesen haben uns von Anfang an betrogen. Erst nach der Inbetriebnahme dämmerte es uns, dass hier nicht Konserven befüllt, sondern Fischmehl produziert wurde. Auf den unerträglichen Geruch folgte die Verschmutzung des Wassers der Lagune. Es färbte sich blutrot. Dann starben die Fische und die Krebse. Die Abwässer der Fischmehlproduktion wurden über eine Rohrleitung direkt in das Naturschutzgebiet und in den Ozean geleitet.»
Weil auf die gambische Regierung nicht zu zählen war, verlangte Jassey von den Betreibern, das Abflussrohr zu entfernen und die Abfälle mit Tankwagen zu Kläranlagen abzutransportieren. Das schien zu funktionieren, bis das Rohr eines Tages bei Ebbe erneut zum Vorschein kam; genau an der Stelle am Strand, wo die Kinder des Dorfes badeten. Die Chinesen hatten kurzerhand Einheimische beauftragt, das Rohr zu vergraben. Jassey machte sich daran, das Rohr mit seinem Team zu entfernen. Schliesslich bewilligte die Regierung den Bau eines längeren Abflussrohrs, das weiter in den Ozean gelegt wurde. Die Chinesen feierten ihren Triumph, indem sie am Strand ihre Nationalflagge hissten. Im Gegenzug bezahlt Golden Lead den Bewohnern von Gunjur eine Entschädigung für die sechs Monate, in denen die Fabrik während der Fangsaison in Betrieb ist. «Wenn wir sie schon nicht zur Schliessung zwingen können, sollten sie wenigstens für den Schaden, den sie anrichten, aufkommen», sagt Jassey.
An den Perspektiven der Jungen im Dorf hat sich seit der Fabriköffnung nichts geändert. Aus den versprochenen 600 Arbeitsplätzen wurden am Ende 80 – sie wurden von der chinesischen Geschäftsleitung an auswärtige Arbeiter vergeben. Dann passierte das, was Jassey unbedingt vermeiden wollte. «Die Jugendlichen im Dorf hatten sich heimlich organisiert, fast 200 Minderjährige trafen sich eines Nachts am Strand und bestiegen eine grosse Piroge mit dem Ziel Europa. Zum Glück waren sie zu jung und unerfahren: Die See war rau, sie bekamen Angst und kehrten um», erzählt Jassey, dem der Schock der Beinahe-Tragödie ins Gesicht geschrieben steht.
Das vielleicht einschneidendste Problem der lokalen Fischmehlproduktion ist, dass sie praktisch alle Bongas und Sardinen verschlingt, die in Gunjur von den Fischern angelandet werden. Was das für die lokale Bevölkerung bedeutet, erläutert Gaoussou Gueye, Vorsteher einer Vereinigung handwerklicher Fischer: «Die Sardine ist der Fisch der Armen. Um den Jahresbedarf an Proteinen eines Senegalesen oder Gambiers zu decken, ist der Verzehr von rund 25 Kilogramm Sardinen empfehlenswert. Das ist ziemlich genau die Menge, die zur Herstellung von fünf Kilogramm Fischmehl benötigt wird. Damit kann ein Kilogramm Lachs gezüchtet werden. Mit anderen Worten: Ein europäisches Lachsessen für fünf Personen entspricht dem Grundernährungsbedarf eines Westafrikaners für ein ganzes Jahr.» Gueye bezieht sich mit der Rechnung auf eine Studie von Greenpeace, auf die wir in Senegal mehrmals aufmerksam gemacht werden. Forschungseinrichtungen konstatieren dagegen, dass die Industrie längst viel effizienter bei der Futterverwertung geworden ist. Ungeachtet dieser Kontroverse werden die Fänge direkt geliefert. Die Träger rennen mit ihren vollen Körben am Strand an den Frauen vorbei, die sich mit der Weiterverarbeitung ihr Auskommen verdienen. Erst wenn die Fabrik für ihre Tagesproduktion gesättigt ist, dürfen sie die Reste aufkaufen. Dabei hat sich der Marktpreis von Bonga-Fisch vervierfacht. Viele der Frauen arbeiten mittlerweile wieder auf Feldern. Besonders sauer stösst Aktivisten auf, dass manche Pirogen zwei Stunden nach dem Auslaufen üppig beladen zurückkehren, während andere Fischer tagelang auf dem Meer ausharren, ohne nennenswerte Fänge vorweisen zu können. Für die Aktivisten liegt der Verdacht nahe, dass die von Golden Lead losgeschickten Pirogen mit Fisch beladen werden, den Industriefischer zuvor weit draussen im Atlantik gefangen haben.
Der Schwund der Fische durch die Fischmehlfabriken sät Zwietracht in den Küstendörfern. Der Riss geht quer durch Familien. In Kartong, an der Südgrenze Gambias zu Senegal gelegen, erzählt uns Mustapha von seinem Cousin Bouba, der in einer Fischmehlfabrik als Lokalmanager arbeitet. In den Augen der Dorfbewohner ist er ein Verräter. Auch für seine Schwester Isatou ist er nicht mehr der Bruder, der er einmal war. Obwohl sie unter dem gleichen Dach leben, sprechen sie kaum miteinander, und wenn doch, dann streiten sie sich über die Fabrik. «Seit die Chinesen gekommen sind, ist die Stimmung in der Nachbarschaft schlecht», sagt Isatou. «Neuerdings schliessen wir nachts die Türen, weil wir uns unsicher fühlen.» Die Diebstähle in Kartong hätten zugenommen, seit Billiglohnarbeiter aus Guinea, Liberia und Sierra Leone von den Fabriken angeheuert wurden.
In Sanyang, Ort der dritten chinesischen Fischmehlfabrik Gambias, entluden sich die sozialen Spannungen in realer Gewalt. San-yang könnte eine touristische Perle sein: feinster, weisser Sand, kleine, schmucke Boutique-Hotels, in denen Cocktails serviert werden, schattenspendende Palmen, dazu Reggae-Musik, die sich im englischsprachigen Gambia grosser Beliebtheit erfreut. Doch das Paradies ist im Herbst 2021 leer, nicht nur wegen Corona. Unnatürliche Schaumkronen zieren das Meer, der Sand ist mit Müll übersät. Eine Gruppe junger Leute der NGO Ocean Heroes vergräbt ihn – auf Empfehlung europäischer Umweltexperten – einfach im Sand. Nichts ausrichten können die Ocean Heroes gegen den Geruch der Fischmehlfabrik – oder tonnenweise angeschwemmte, tote Fische. Die gibt es, wenn die Chinesen den senegalesischen Fischern nicht den ganzen Fang abnehmen und diese die Fische aus Ärger darüber ins Meer kippen.
Zwischen Senegalesen und Gambiern gibt es in aller Regel keine Probleme. Aber als Anfang 2021 wieder einmal ein paar Dutzend senegalesische Fischer, die zuvor die Fabrik beliefert hatten, in Sanyang übernachteten, machte sich einer von ihnen davon und brach in ein Haus ein. Er wurde ertappt, es kam zu einem Handgemenge, ein Messer blitzte auf, und ein junger Dorfbewohner – zuvor gerade Vater geworden – blieb reglos am Boden liegen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ein Mob zündete noch in derselben Nacht die Fischmehlfabrik an, weil die für alles Übel im Dorf stand. Als die Polizei den Mörder wenig später fasste, stand bald auch das Polizeirevier in Flammen.
Im kleinen Gambia kommt vieles zusammen: Irreführung der Bevölkerung, Umweltverschmutzung, Überfischung, soziale Spannungen. Dazu gesellt sich die Auslagerung der Wertschöpfung. Die Fischmehlfabriken stehen dabei für eine besondere Pervertierung der globalen Ernährungswirtschaft. Der zerbröselte Fisch aus Gambia wird nicht nur auf die Nordhalbkugel transportiert, um dort Zuchtfische zu mästen. Diese landen am Ende auch in Gambia, zum Beispiel in einem Supermarkt der Hauptstadt Banjul, wo es Tilapias gibt – gezüchtet in China, mit einiger Wahrscheinlichkeit auch gefüttert mit gambischem Fischmehl.
CHINA
Jährlich verlassen Containerschiffe westafrikanische Häfen mit rund 80 000 Tonnen Fischmehl an Bord. Sie fahren dann meist Richtung Süden, runden das Kap der Guten Hoffnung und passieren das Kap Komorin und die Strasse von Malakka, ehe sie nach eineinhalb Monaten zum Beispiel im Hafen von Guangzhou ankommen. Er war einer der Ausgangspunkte der maritimen Seidenstrasse und ist heute der viertgrösste Containerhafen der Welt. Wer sich von hier aus auf die Spur des afrikanischen Fischmehls begibt, findet im Internet Hunderte Kontakte zu Importhändlern, nur wollen sie nicht über ihr Geschäft sprechen. Schliesslich erklärt sich Jianguo Zhong zu einem Gespräch bereit. Der 49-Jährige stammt aus dem Westen von Guangdong, einem Zentrum der Futtermittelproduktion und der Fischzucht. Wie ein Flickenteppich liegen Teichanlagen auf den weiten Wattflächen der Provinz. An der Küste zeichnen sich die Konturen Tausender runder Netzkäfige ab. Diese Infrastruktur hat ihren Preis: Seit 1960 ist die Fischpopulation im südchinesischen Meer durch Überfischung und Aquakulturen um 90 Prozent gesunken. Für die nationalen Gewässer gibt es deshalb Fangbeschränkungen. Aus dem längsten Fluss des Landes, dem Jangtse, dürfen für zehn Jahre keine Fische entnommen werden. Seit August 2018 ist eine Mindestmaschengrösse für Fischernetze vorgeschrieben, damit sich die Bestände vielleicht noch erholen. Chinesische Fischer reagierten, indem sie in den vergangenen Jahren dazu übergingen, kleinere Fische wie Sardinen zu fangen und sie auch Fischmehlproduzenten anzubieten.
Zhong arbeitete als Tabakhändler, bevor er 2011 in die Branche kam. «Ich habe einen Cousin, dessen Firma Fischmehl importiert hat. Nachdem ich Geld investierte, haben wir es gemeinsam verschifft», sagt er am Telefon. In China gebe es eine grosse Nachfrage nach importiertem Fischmehl, weil es eine bessere Qualität als das einheimische Pulver habe, sagt Zhong. Laut einer Recherche von NBC News wird Fischmehl aus Peru in China seit Jahren mit minderwertigem Fischmehl aus Fischabfällen vermischt, um die hohen Gewinnspannen im Markt aufrechtzuerhalten. Zudem ist die politische Führung bei Fragen der Lebensmittelsicherheit mittlerweile vorsichtig geworden. Das bekam auch Jianguo Zhong zu spüren. Seine Kunden waren kleinere Futtermittelfabriken und Schweinezüchter, bis 2018 die Afrikanische Schweinepest in Guangdong ausbrach. Hunderttausende Schweine mussten gekeult werden, die Futtermühlen standen über Monate still, und Zhong blieb auf seinen Beständen sitzen. Er kehrte zu seiner Familie zurück und baut mittlerweile in seiner Heimat auf zwei Dutzend Hektar Reis, Paprika und die Futterpflanze Esparsette an. Auch viele seiner ehemaligen Kollegen sind aus dem Geschäft mit Fischmehl ausgestiegen.
Eine Fahrt mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Guangzhou Richtung Küste nach Doushan dauert 50 Minuten, vorbei an dichten Hochhaussiedlungen und Teichen, die am Streckenrand in die Felder eingelassen sind. Die Region Taishan gilt als das Land der Fische und des Reises. Im Dorf Fuyue wurden früher Gänse gezüchtet, heute sind es Aale für den japanischen Markt. Weil in der Fischzucht nicht viele Hände gebraucht werden, hat ein Grossteil der jungen Menschen die Region verlassen. Über einen Bekannten bekommen wir Zugang zu einer Aalfarm, die von einem Zaun umgeben ist, um das Eindringen von Dieben zu verhindern. Dort treffen wir Li Fu, der eigentlich anders heisst. Er ist 44 Jahre alt, gross und stämmig und spricht Mandarin mit einem nördlichen Akzent. Der jüngste von vier Söhnen einer Bauernfamilie kam nach seinem Universitätsabschluss als Teil einer Welle von Wanderarbeitern in die Provinz Guangdong. Dort arbeitete er mehrere Monate in einer Fabrik am Fliessband, in der ihm aber der Lohn nicht pünktlich ausgezahlt wurde. Deshalb wechselte er auf die Aalfarm, deren Firmenlogo an diesem Tag auf seinem blauen Polohemd prangt.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends befand sich die Aalzucht in Taishan gerade im Aufschwung. Die günstigen Grundstückspreise, eine gute Wasserqualität und das milde Klima, das eine ganzjährige Zucht ermöglichte, zogen Investoren an. Heute ist der Betrieb, für den Li Fu verantwortlich ist, 700 Hektar gross. «In jedem der 30 Fischteiche mit einer Grösse von 3 bis 4 Fussballfeldern und einer Wassertiefe von etwa eineinhalb Metern befinden sich etwa 30 000 Aale.» Die Arbeiter füttern die Fische zweimal täglich über eine Futterplattform. Hier stecken rund 80 Sardinen oder 1,6 Kilogramm vergleichbarer Fischarten in der Menge Futter, die es braucht, um 1 Kilogramm Aal zu züchten. Nachts müssen die Arbeiter die Teiche im Auge behalten und schnell reagieren, wenn der Strom für die Sauerstoffgeneratoren ausfällt. Ihre Schlafräume befinden sich direkt neben den Teichen in einfachen Hütten mit Wellblechdächern. Li Fu sagt, er und die 20 Arbeiter hätten sich daran gewöhnt, die abgelegene Farm kaum noch zu verlassen. Dass japanische Aale in freier Wildbahn vom Aussterben bedroht sind und hohe Schwarzmarktpreise erzielen, weiss er nicht. Li Fu weiss von seinem Chef nur, dass man mit Aalen viel Geld verliert, wenn ihre Produktion nicht die strengen japanischen Bestimmungen erfüllt.
Die vielen Zuchtbetriebe haben der Provinz Guangdong wirtschaftlichen Aufschwung beschert. Dabei hat die Zentralregierung ihren Kurs zuletzt korrigiert, weil Umweltverschmutzungen durch Aquakulturen stark zugenommen haben. Denn die Fische werden in der Regel unter Einsatz von Pestiziden gezüchtet. In den Abwässern der Farmen sammeln sich Ausscheidungen und Medikamentenrückstände, die meist ungefiltert in Flüsse und ins Meer gelangen. Weil immer wieder Fische aus eingenetzten Aquakulturen entschlüpfen, schleppen sie Krankheitserreger und Parasiten ins Meer. Bereits 2009 hatten örtliche Behörden deshalb Genehmigungen von Fischfarmen im Westen der Provinz Guangdong nicht mehr verlängert. Im Juni 2021 berichtete das Magazin Sixth Tone über die Meeresbucht von Shuidong, die als Umweltzone eingestuft worden ist. Die Behörden gaben den Züchtern – viele von ihnen waren seit über zwei Jahrzehnten in der Gegend tätig – zwölf Tage Zeit, um den Betrieb einzustellen und ihre Teiche zu räumen. Dann rückten die Bagger an, Fische, Krabben und Krebse entflohen ins Meer.
Es ist nur ein Beispiel, wie wenig zimperlich China bei der Umstrukturierung seiner Fischereiwirtschaft vorgeht. Sie soll auch mit Mitteln der Digitalisierung effektiver werden. Und nachhaltiger. China gilt in der Branche als einer der Antreiber, den Anteil von Fischmehl im Fischfutter durch verbesserte Fütterungstechnik und Ersatzstoffe weiter zu senken. Experten gehen davon aus, dass der Fischanteil im Futter von Zuchtfisch bis 2050 noch einmal halbiert werden muss, um den weltweiten Pro-Kopf-Verbrauch an Fisch halten zu können. Forschungen mit Ersatzstoffen aus Algen, Insekten und mit höherem Soja-Anteil laufen. Letzteres verlagert den Raubbau jedoch nur nach Brasilien und Argentinien, wo für Sojafelder Regenwälder abgeholzt werden.
Mittlerweile investieren auch chinesische Staatsunternehmen in Ländern wie Senegal und Gambia, um die Umweltverschmutzungen durch Fischerei und Aquakultur in den nationalen Gewässern zu verringern. Da die Fabriken dort aber zunehmend auf eine kritische Öffentlichkeit treffen, führt die Spur des Fischmehls die Küste hinab. Im vergangenen Jahr verkaufte die Regierung von Sierra Leone einen Strandabschnitt mit 100 Hektar Regenwald an eine chinesische Firma, die dort einen industriellen Fischereihafen errichten will. Lokale Umweltaktivisten sehen darin bereits die Vorstufe zum Aufbau einer Fischmehlfabrik. In Liberia haben 2020 chinesische Trawler eine Lizenz für Fänge mit den Meeresboden zerstörenden Grundschleppnetzen erhalten. Trotz dieses «Fishgrabbings» wird China bis 2030 die einheimische Nachfrage nach Speisefisch nicht mehr decken können. Im Oktober 2021 hat das Landwirtschaftsministerium wohl auch deshalb Botschafter von Entwicklungsländern in die Hafenstadt Dalian eingeladen, um ihnen mitzuteilen, dass man bereit sei, seine Technologie mit ihnen zu teilen. China finanziert die Ausbildung von Fischwirten und Aquakultur-Projekten seit Jahren. Nun sehe man Wachstumspotenzial für weitere Offshore-Fischfarmen in Afrika. Gaoussou Gueye von der Vereinigung der senegalesischen Fischer ist gewarnt: «Wenn es eine Entwicklung der Aquakultur in Afrika gibt, dann kann es sich nicht um eine Aquakultur handeln, die von Fischmehl abhängig ist.»
China wäre aber vermutlich nicht China, wenn es nicht noch eine weitere Strategie verfolgen würde: Seit Januar fährt die «Guoxin 1» zu Testzwecken durch das Gelbe Meer. In dem Containerschiff, das doppelt so gross wie die «Titanic» ist, sollen in 15 Tanks 4000 Tonnen Lachs gezüchtet werden. Bis 2035 soll es 50 solcher Schiffe geben – sie sind der grösstmögliche Gegensatz zu der Piroge der Familie von Mamadou.
Damit dessen Brüder Omar und Birane in Zukunft nicht auf die Idee einer Überfahrt auf die Kanarischen Inseln kommen, hat die EU im Februar angekündigt, Grenzbeamte, Schiffe und Drohnen nach Senegal zu entsenden. Für das westafrikanische Land wäre es 43 Jahre nach dem Fischereiabkommen wieder eine Premiere: das erste Statusabkommen für eine Mission der Grenzagentur Frontex ohne Berührung mit der EU-Aussengrenze. Sie soll die Migration über den Seeweg eindämmen und sieht ein Rückführungsabkommen vor, um neu ankommende Fischer aus Senegal von den Kanaren abschieben zu können. Als EU-Unterhändler im Februar in Dakar waren, um «Global Gateway» vorzustellen, ein 150 Milliarden Euro schweres Investitionsprogramm für Afrika, mit dem die EU auch den Einfluss Chinas zurückdrängen will, fiel ein bemerkenswerter Satz. Er kam von der EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Sie sagte, ein Frontex-Einsatz in Senegal könne auch dazu dienen, die illegale Fischerei im Atlantik zu bekämpfen.
Die beiden Fischer Lamine und Mamadou betreffen diese Entwicklungen nicht mehr. Sie haben sich während unserer Recherche angefreundet und wohnen zusammen in Teneriffa. Ende Februar 2022 haben sie jeweils ein Schriftstück vom spanischen Innenministerium erhalten, mit ihren Passfotos und gestempelt von der Polizei von Santa Cruz, dass sie auf der Insel bleiben und auf Arbeitssuche gehen dürfen. Der verheiratete Mamadou hat sich mit einem lokalen Fischer angefreundet und ist zuversichtlich, bald wieder seinen Beruf ausüben zu können. Auch Lamine ist guter Dinge. Er hofft, eine europäische Frau zu finden.
Taxifahrer Amed ist der Erfüllung seiner Träume noch nähergekommen. Nachdem die spanische Regierung 2021 Migranten auf das Festland durchliess, um die Situation in den Aufnahmelagern auf den Kanaren zu entspannen,verbrachte er einen heissen Sommer in der Extremadura und einen kühlen Winter im Baskenland. Vom Staat erhielt er wöchentlich 40 Euro für Lebensmittel und monatlich 50 Euro Taschengeld, welches er auf die Seite legte. Wegen einer administrativen Ungereimtheit hat man seine Akte geschlossen, er musste die Wohnung verlassen und schlief ein paar Nächte auf der Strasse. Dann kaufte er sich ein Busticket nach Strasbourg, wo ihn sein Bruder abholte. Als Papierloser hofft er, in der Schweiz einen Job als Schweisser oder Maler zu finden. Ameds Weg nach Europa mag illegal gewesen sein. Illegal wie viele der Wege afrikanischen Fischs auf unsere Teller.