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Die Causa Blausee

Wegen toter Fische stiess man auf toxischen Altschotter. Aber im Berner Oberland liegt noch mehr Dreck.

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Am 22. Mai 2020 färbt sich der Blausee grau. Das weltberühmte Juwel im Kandertal, das aufgrund seiner spektakulären Farbe inmitten schroffer Gipfel und umgeben von hohen Tannen jedes Jahr Zehntausende Touristen aus der ganzen Welt besuchen, hat gerade sein wichtigstes Merkmal verloren. Die Welt befindet sich mehrheitlich im Corona-Lockdown, was dem Ort zugutekommt. Chinesische und arabische Touristen und Influencer lieben es, sich vor dem tiefblauen, glitzernden See abzulichten und die Fotos auf Instagram zu posten. Der Image-Schaden durch Bilder eines trüben, grauen Tümpels wäre fatal gewesen. Stefan Linder ist alarmiert. Er ist Miteigentümer und Verwaltungsratspräsident der Blausee AG, zu der neben einem kleinen Hotel und einem Restaurant auch eine Forellenzucht gehört. Eine solch starke Verfärbung hat er noch nie gesehen. Schon Tage zuvor hat ihm der Fischzuchtmeister gemeldet, dass die Forellen in den Zuchtbecken abgespreizte Kiemen hätten und unter Atemnot litten. Kurz nach der Trübung des Wassers sterben die Forellen in grossen Mengen, die Zuchtbecken schimmern weiss von den mit dem Bauch nach oben treibenden Tieren. Der Tierarzt, der herbeigeeilt ist, vermutet eine Vergiftung als Grund für das Fischsterben, wobei er keine Ahnung hat, welches Gift es sein könnte. 

Es gibt Geschichten, die wollen nicht so richtig in die Landschaft passen. Schon gar nicht ins schöne Berner Oberland. Die meisten Touristen reisen mit dem Zug an, durchs dichtbesiedelte schweizerische Mittelland, weiter entlang der blaugrünen Aare, die majestätische Alpenkette ist zum Greifen nah, am tiefblauen Thunersee vorbei hinauf durch postkartengrüne Täler, auf denen Kühe weiden, um auf dem Jungfraujoch auszusteigen, dem «Top of Europe», 3500 Meter über Meer. Andere wiederum unterqueren die Alpen von Nord nach Süd, um ans Mittelmeer zu gelangen – Speisewaggons tragen zur bequemen Reise bei, ein Glas Wein, etwas Aufschnitt, dazu Käse. Diese alpenquerende Route führt im Kandertal durch einen langen Tunnel, in dem der Blick durchs Fenster auf eine im Streulicht flackernde Schwärze trifft, die aus Millionen Tonnen Beton besteht.

Die Schweiz und ihr Käse mit Löchern; die Schweiz und ihre Berge mit Tunnels. Ein Loch ist ein von Materie umgebenes Fehlen derselben, erkannte Kurt Tucholsky. Das stimmt bei Käse, nicht bei Tunnels. Bei ihnen fehlt das Material nicht wirklich, auch nicht beim Lötschberg-Basistunnel in den Alpen, der bis vor wenigen Jahren der längste der Welt war. Dieses 34,5 Kilometer lange Meisterwerk der Ingenieurskunst ist das Herzstück der westlichen Achse der Neat, der Neuen Alpentransversale, die zum Rhine-Alpine Corridor gehört und Rotterdam mit Genua verbindet. «Connecting Europe», so bewirbt die Bahngesellschaft Bern-Lötschberg-Simplon (BLS) diese schnelle Verbindung. Bei einer Testfahrt im Tunnel gelang mit 281 Stundenkilometern ein schweizerischer Bahnrekord. Im Normalbetrieb rasen die Züge seit 2007 mit 250 Stundenkilometern durch die Alpen.

Nächtliche Begehung

Stefan Linder erinnert sich an ein Treffen mit dem pensionierten Geologen Hans-Rudolf Keusen bei einer privaten Feier. Keusen hat das Kandertal und seine vielfältigen Grundwasserströme über Jahrzehnte studiert, jetzt sieht er sich die zugeschickten Bilder des trüben Sees und der toten Fische an und ist gleichermassen irritiert. Da muss etwas am Oberstrom passiert sein, so seine erste Einschätzung. Keusen empfiehlt Linder, der Kander entlang flussaufwärts zu gehen, um nach einer möglichen Ursache zu suchen. Weil das Gelände nur schwer zugänglich ist, setzt Linder eine Drohne ein und entdeckt im nur 1,2 Kilometer oberhalb des Blausees gelegenen Steinbruch einen offenen Grundwassersee und einen auffälligen Schuttkegel. Der Verdacht: Gleisschotter. Keusen betreute dieses Thema während Jahrzehnten für die SBB, die Schweizerischen Bundesbahnen. Alter Gleisschotter ist problematisch, da er Abrieb von Fahrwerk und Bremsen, Asbest und Schwermetalle, dazu Chemierückstände aus Waggon-Leckagen und Teersubstanzen (PAK) enthält, die zur Imprägnierung von Eisenbahnschwellen dienen und als stark belasteter Sonderabfall gelten. «Lagerung und Behandlung von Bahnschotter in einer Grundwasserschutzzone sind höchste Alarmzeichen», sagt Keusen zu Linder; man brauche sofort Materialproben.

Gleich am nächsten Tag geht Linder auf ein benachbartes Grundstück, um von dort den Altschotter-Kegel im Steinbruch besser sehen zu können. Der ist zwar bereits etwas höher geworden, doch Arbeiter sind keine da. «Wir müssen im Dunkeln dorthin», sagt Linder zu seiner Frau Susanne. Die beiden Mittfünfziger wohnen im Dorf Faltschen, am Eingang des Kandertals gelegen, keine 15 Autominuten vom Blausee entfernt. Am 25. Mai, abends um halb elf, schleichen sich Stefan und Susanne Linder durch ein Wäldchen zum Steinbruch. Sie setzen sich hin und warten. Nichts passiert. Dann, kurz vor Mitternacht, gehen auf einmal Scheinwerfer an. Das Ehepaar erschrickt und duckt sich im Gebüsch. Baufahrzeuge der Berner Baufirma Marti treffen auf einem Umschlagplatz ein, Stimmen von portugiesischen Arbeitern sind zu hören. Um mehr zu erkennen, nähern sich die beiden der Grube und teilen sich auf. Susanne wird dabei fast entdeckt, erst in letzter Sekunde gelingt es ihr, sich hinter einem Container zu verstecken. Nun fahren Züge ein und entladen Schotter auf Lastwagen, die ihn nach kurzer Fahrt in den Steinbruch kippen. Bis halb fünf morgens wird mit Hochdruck gearbeitet. Nach dieser Nacht und weiteren Drohnenflügen ist für Keusen und Lin­der klar: Die Betreiberin des Steinbruch und Hartschotterwerks Blausee-Mitholz (SHB), die Firma Vigier, bearbeitet und lagert hochtoxischen Altschotter – unmittelbar ne­ben einem offenen Grundwassersee, Abfall von der laufenden Sanierung des Lötschberg-Scheiteltunnels. 

Zu diesem Zeitpunkt könnte die ganze Geschichte schnell enden. Ein Bekannter Linders fädelt für ihn ein Treffen mit dem CEO von Vigier ein. Doch am Vorabend erhält Linder die Nachricht, dass dieser nun doch keine Zeit für ihn habe, ein Stellvertreter werde sich um ihn kümmern. «Hätte mich der CEO empfangen, hätten wir ziemlich sicher versucht, der Sache auf den Grund zu gehen und eine Lösung zu finden», sagt Linder. Vom Stellvertreter will er sich allerdings nicht abspeisen lassen, er sagt das Treffen ab und geht stattdessen nachts erneut aufs Gelände. Linder holt sich Material- und Wasserproben und schickt diese zur Analyse dem Labor Bachema in Zürich. Wenige Tage später ist der Laborleiter am Telefon: «Gehen Sie sofort zur Polizei, Herr Linder, die Grenzwerte von Schwermetallen, giftigen Teerstoffen und Arsen sind massiv überschritten und extrem hoch!»

Um einen Tunnel zu bauen, kann man eine Tunnelbohrmaschine, kurz TBM, ein mechanisches Monster, sich durch den Berg fressen lassen. Die gebräuchlichste Methode ist jedoch das Heraussprengen des Tunnels. Die BLS Alptransit AG (BLS AT) hat 80 Prozent des Lötschberg-Basistunnels mithilfe von Flüssigsprengstoff geschaffen. Die für Reisende sichtbare Fahrstrecke beträgt «nur» 34,5 Kilometer, ist aber unsichtbar umgeben von Dutzenden Querstollen und einem Paralleltunnel. Es ist ein Tunnelsystem von 88 Kilometern Länge, das die Westflanke des Kandertals im Kanton Bern bis in den Kanton Wallis durchquert. Würde man das gesamte Ausbruchmaterial – 16,6 Millionen Tonnen – dieser komplexen Anlage mit Lastwagen wegtransportieren, es wären 830 000 Fahrzeuge nötig; würde man damit Güterwaggons der Bahn füllen, der Zug wäre 4100 Kilometer lang – so hat es der Bauherr, die BLS AT, berechnet und veröffentlicht. Zum Vergleich: Der Güterzug würde vom Kandertal im Berner Oberland bis nach Amman in Jordanien reichen.

Zur Beruhigung einer in Umweltfragen zunehmend sensibilisierten Öffentlichkeit schrieb der Bauherr zum Bauende im Jahr 2007 in Hochglanzbroschüren: «40% des Ausbruchmaterials konnten wiederverwertet werden. So stammt der grösste Teil der Betonzuschlagsstoffe für den Innenausbau aus eigener Produktion.» Mehr dazu später, auch zum Verbleib der übrigen 60 Prozent. So viel vorweg: Ein riesiger Teil des mit Sprengstoffrückständen kontaminierten Tunnelausbruchs wurde zusammen mit hochproblematischen Schlämmen und toxischem Baustellenabfall im Kandertal verscharrt. Am Fusse von Eiger, Mönch und Jungfrau liegen seit über 15 Jahren Millionen Tonnen verschmutztes Material, welches dem Volumen der Cheops-Pyramide entspricht.

Warnung vom Regierungsrat

Nach dem Anruf aus dem Bachema-Labor tritt Linder eine Lawine in Gang, die heute, über zwei Jahre nach der Blausee-Trübung, die Bundeshauptstadt Bern überrollt. Nach 18 Jahren an der Spitze des Swiss Economic Forum (SEF), einer jährlichen Veranstaltung in Interlaken, wo sich die Chefs der Schweizer Politik und Wirtschaft vernetzen und austauschen, kennt Linder viele Politiker, Departementsvorsteher und Unternehmer im Land. Mehrere sind involviert in staatliche Grossprojekte von strategischer Wichtigkeit und einem Investitionsvolumen von rund drei Milliarden Franken: Auf dem Spiel stehen der pünktliche Ausbau des Neat-Tunnels zur Doppelspurigkeit, für die Schweiz ein Schlüsselprojekt in ihrem Verhältnis zur EU, und die möglichst rasche Räumung des beim Steinbruch gelegenen Sprengstofflagers Mitholz aus dem Zweiten Weltkrieg mit der damit verbundenen Umsiedlung des Dorfes Mitholz. Dazu kommt der gute Ruf von Ingenieuren, Bundesbeamten, ranghohen Politikern. Dem Kanton Bern, dem Bund und den beteiligten Firmen droht wegen möglicher Aufräumarbeiten ein finanzielles Desaster. «Sie legen sich mit der Abfallmafia der Schweiz an», warnt Peter Füglistaler, Vorsteher des Bundesamts für Verkehr (BAV), Stefan Linder bei einem Treffen Anfang Juli 2020. Auf die Nachfrage von Linder, ob es eine solche in der Schweiz wirklich gebe, habe ihm Füglistaler geantwortet: «Ja, ihre Fäden führen bis ganz oben hinauf – die ist perfekt organisiert.» Füglistaler lässt einen Mediensprecher ausrichten, dass er lediglich von einem «Anschein» gesprochen habe.

Am 2. Juni 2020 um 17 Uhr 30 informiert Linder den Berner Regierungsrat und Vorsteher des Baudepartements Christoph Neuhaus. Der verweist ihn an den Generalstaatsanwalt. Dessen Stellvertreter rät Linder, auf einem Polizeiposten Anzeige zu erstatten, was bei einem Umwelt-, also einem Offizialdelikt, seltsam anmutet. Stattdessen kontaktiert Linder den Polizisten Walter Schneeberger, seinen früheren Sicherheitschef beim Swiss Economic Forum. Schneeberger will für den nächsten Tag ein Treffen mit verschiedenen Akteuren und der Kantonspolizei in Bern organisieren. 

Am Morgen des 3. Juni um 7 Uhr 30 ruft Regierungsrat Christoph Neuhaus Linder an. Dieser ist mit dem Auto unterwegs, seine Frau Susanne auf dem Beifahrersitz hört über den Lautsprecher mit: «Stefan, pass auf, wo du deine Nase hineinsteckst. Es sind schon andere in einem Steinbruch verschwunden und nicht mehr aufgetaucht.» Linder ist irritiert und ruft unmittelbar danach mehrere Personen an, um von dieser Warnung zu berichten. Neuhaus verneint uns heute gegenüber, dass es diesen zweiten Anruf gegeben habe, und bezeichnet die Behauptung als eine «infame Unterstellung».

An der Sitzung am späten Nachmittag bei der Berner Polizei präsentiert Linder den Stand seiner Ermittlung: Fotos, Videos sowie die Bachema-Wasseranalyse. Der beim Amt für Wasser und Abfall  (AWA) für Letzteres zuständige Oliver Steiner entgegnet laut Linder darauf, in dieser Grube sei nichts drin. Ausserdem könne das Fischsterben gar nicht mit den Giftstoffen in einem Zusammenhang stehen, weil diese nicht wasserlöslich seien und somit auch nicht in den Blausee gelangten. An einer späteren Sitzung wurde Steiner noch deutlicher: «Wir vom Kanton können diese Baustelle nicht stoppen. So etwas kann nur der Bund verfügen.» 

Eine Patrouille aus Interlaken wird am nächsten Tag mit der Entnahme von Proben beauftragt. Linder gibt den beiden Polizisten Tipps, wie sie unbemerkt aufs Gelände gelangen könnten und welches Zeitfenster ihnen zur Verfügung steht.

«Übungsabruch, Befehl von oben»

Im Hintergrund beginnen die Drähte heisszulaufen: «Das ist ein Sturm im Wasserglas», beruhigt Regierungsrat Neuhaus in einer SMS, die uns vorliegt, den BLS-Präsidenten Rudolf Stämpfli, «ich kümmere mich darum.» Geologe Keusen schreibt derweil eine Mail an den mit den Ermittlungen beauftragten Polizisten Roc Bürgi: «Die Analysewerte sind erschreckend. Die Trübung des Blausees steht aus meiner Sicht in einem direkten Zusammenhang mit den Aktivitäten im Steinbruch.» Bürgi setzt eine Observation auf den 8. Juni an, man will die mutmasslichen Umweltsünder bei ihrem nächtlichen Treiben beobachten. Am Vormittag besucht der Polizist Linder auf dem Blausee-Areal. Während rund vier Stunden erzählt ihm Linder alles, was er weiss, führt ihn durch die Fischzucht und überreicht ihm einen USB-Stick mit dem gesamten bisher gesammelten Material. Anschliessend fahren die beiden zu der Stelle neben der Grube, wo man für die Nacht die Observierung plant. Zwei Polizisten in Zivil sind schon vor Ort und installieren hinter Bäumen Kameras.

Doch dann, um 11 Uhr 37, klingelt Bürgis Telefon: «Übungsabbruch, Befehl von oben», sagt er zu Linder. «Weshalb?», fragt dieser. «Wegen übergeordneter Interessen und zu wenig hohem Anfangsverdacht», zitiert Bürgi seinen Anrufer, dessen Identität er nicht preisgibt. Zurück am Blausee dreht der Wind definitiv: «Herr Linder, ich muss gegen Sie drei Verfahren eröffnen. Eines wegen Hausfriedensbruchs, eines wegen Drohnenflügen in einem militärischen Sperrgebiet sowie eines wegen illegaler Foto- und Video-Aufnahmen.» Linder fällt aus allen Wolken. Bisher war er der Meinung, dass er mithelfe, einen Umweltskandal aufzudecken – jetzt steht er plötzlich selbst am Pranger. Doch er fasst sich schnell: «Herr Bürgi, nur fürs Protokoll: Die Drohne ist lediglich 249 Gramm leicht und fällt deshalb nicht unter das Drohnengesetz. Den Punkt können Sie schon mal streichen.» Bürgi verbietet Linder, weiter zu ermitteln, die Polizei werde sich nun um den Fall kümmern.

Wer die Gegenwart verstehen will, muss in der Vergangenheit blättern, lautet das leicht angepasste Bonmot von André Malraux, dem ehemaligen französischen Kulturminister. Also folgen wir dem Malrauxschen Blick tief hinein in den Bau des Neat-Tunnels in den Alpen, in das Jahrhundertwerk der Schweiz. Um zu verstehen, wie im Zusammenspiel von Behörden und Firmen im Kanton Bern Abfallfragen «gelöst» werden und welches System dahintersteckt.

Der Bau des Lötschberg-Basistunnels der Neat war ein grandioses Grossprojekt mit Pioniercharakter. Noch nie zuvor hatte es ein derart langes, zusammenhängendes Tunnelsystem gegeben – mit Ausnahme vielleicht von unterirdischen Militäranlagen in den USA, in der ehemaligen Sowjetunion oder in Nordkorea. Geheime Bauten, von denen wir bei allen drei Ländern wenig wissen. Beim Bau der Neat war nichts geheim. Oder fast nichts.

Dem Tunnelbau im Kandertal waren ab Ende der 1980er Jahre verkehrspolitische, finanzpolitische und wirtschaftliche Diskussionen in der Schweiz und mit der Europäischen Union vorausgegangen. Nach einer intensiven Planungsphase wurde dem Schweizer Stimmvolk 1992 schliesslich das teuerste Bauwerk der eidgenössischen Geschichte zur Abstimmung vorgelegt: 63 Prozent stimmten mit Ja. Dann mal los.

Reichhaltiger Chemie-Cocktail

Und zwar zügig, denn eine Vereinbarung im EU-Schweiz-Vertragswerk «Die Bilateralen» gab vor, dass die Schweiz erst mit der Fertigstellung des Neat-Lötschberg-Basistunnels den Tarif der lastabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) für Lastwagen erhöhen durfte – es winkten Millionen-Einnahmen. Dafür musste der Tunnel im Jahr 2007 betriebsbereit sein. Peter Teuscher, Direktor der BLS Alptransit AG, sagte damals in Interviews, dem Ziel 2007 würde «alles untergeordnet». Er stehe permanent unter Termin- und Kostendruck.

Eine Röhre durch jahrtausendealtes Gestein zu schaffen, das ist laut einem Mitarbeiter und Unternehmer (Name der Redaktion bekannt), der während des gesamten Neat-Baus fast täglich auf allen Abschnitten arbeitete, vor allem dies: «Heiss, laut, giftig und gefährlich. Schmutziges Wasser, Dreck und Schlamm sind überall.» Beim Sprengvortrieb bohren dreiarmige, wassergekühlte Ungetüme, sogenannte «Bohrjumbos», rund hundert bis zu vier Meter tiefe Löcher in den Felsen, dann wird Flüssigsprengstoff hineingepumpt. Jetzt ziehen sich die Mineure, die Sprengmeister, zurück. Nach der Explosion gilt es wegen der tödlichen Abgase etwa eine Viertelstunde zu warten, bis die Luft wieder rein ist. «Wer zu früh reingeht, liegt ab», lautet eine Regel der Mineure. Beim Neat-Bau sorgt ein potentes Belüftungssystem für Frischluft.

Nun liegen also mehrere Tonnen Felsbrocken am Boden. Ein spezieller Bagger schaufelt sie in den «Brecher», eine Zerkleinerungsmaschine für Gestein, das anschliessend per Förderband zum Tunnelausgang transportiert wird. Die neu geschaffenen Tunnelmeter müssen möglichst rasch mit schnell härtendem Flüssigbeton bespritzt werden, um sie zu sichern und Arbeiter vor herunterfallenden Brocken zu schützen. Je nach Felsbeschaffenheit sind zusätzlich Eisenarmierungen nötig. Auch die Tunnelbrust, die Wand, in deren Richtung es weitergehen soll, wird beim Neat-Bau meistens mit Beton zugespritzt, bevor die Tentakel des Bohrjumbos die Wand und das dahinterliegende Gestein erneut löchern. Zwei- bis dreimal am Tag erfolgt eine Sprengung, Tag für Tag, sechs Jahre lang.

Der steinhart gewordene Spritzbeton auf der Tunnelbrust und das Gestein dahinter werden bei der nächsten Sprengung gemeinsam weggesprengt. Auf dem Boden liegen nun Gesteinsbrocken, die mit einem Chemikaliengemisch kontaminiert sind. Zusätzlich liegt hier auch der sogenannte Rückprall, Klumpen aus jenem Spritzbeton, der beim Sichern des frisch herausgesprengten Abschnitts nicht an den Wänden haften blieb, sondern abprallte und herunterfiel. Es gibt viel Rückprall: 100 000 Kubikmeter, knapp ein Viertel des gesamten beim Neat-Bau eingesetzten Spritzbetons oder das Volumen von vierzig olympischen 50-Meter-Schwimmbecken. Dieser Rückprall ist zwar nutz-, aber nicht harmlos. Der Fachmann reibt seinen Daumen am Zeigfinger: «Damit Spritzbeton sämig und geschmeidig wie eine feine Crème wird, damit er pump- und spritzbar ist, um Sekunden später an der Wand sofort auszuhärten, enthält er einen reichhaltigen Chemie-Cocktail. Mit Sand, Kies, Zement und Wasser allein, der üblichen Betonmischung, wird dieses erwünschte Verhalten von Beton niemals erreicht.» Meistens wird als Betonverflüssiger ein Naphthalin-Sulfonsäure-Formaldehyd-Kondensat eingesetzt. In hohen Konzentrationen ist es für Mensch und Tier tödlich.

Was das Förderband beim Tunnelausgang auswirft, ist also Gestein, vermischt mit dem Spritzbeton-Rückprall betonierter Tunnelbrust und fein verteilten Chemikalien des explodierten Flüssigsprengstoffs. Es wurden insgesamt rund 9 Millionen Kilogramm Sprengstoff verbraucht. Das entspricht etwas mehr als dem Gewicht der Munition aus dem Zweiten Weltkrieg, die im Armee-Nachschub-Lager Mitholz, jenem Stollenkomplex in der gegenüberliegenden Talflanke, gelagert war – bis in der Nacht am 19. Dezember 1947 die Hälfte davon explodierte, mehrere Häuser zerstörte und neun Bewohner des Dorfes Mitholz im Schlaf tötete.

Private Task-Force

Linder lässt entgegen der polizeilichen Anordnung seine Drohne weiterhin starten, vom Nachbarsgrundstück Wolfersweidli aus, und er schart ein Team von Freunden zusammen, die den Steinbruch beobachten. Über den Sommer 2020 übermittelt Linder dem Polizisten Roc Bürgi sogar regelmässig Berichte. «Eisenbahnschwellen und somit Sondermüll werden auf dem Gelände zersägt und gelagert.» – «Unsere Task-Force stellt fest: Die Polizei macht nichts.» – «Es droht Beweisverdunkelung: Die Grube wird aufgeräumt, der Grundwassersee wird zugeschüttet.» Nach dem anfänglichen Ärger über seinen trüben See und die toten Fische sowie den daraus entstandenen Sach- und Imageschaden macht sich nun ein anderes Gefühl in Linder breit: Unverständnis angesichts der anscheinenden Untätigkeit der Behörden in Anbetracht toxischer Abfälle, die weiterhin im Steinbruch landen. Was ihn am meisten umtreibt: «Wie kann so etwas in der angeblich so vorbildlichen und sauberen Schweiz passieren?»

Erst ab dem 12. Juni, nach Intervention des AWA, wird schmutziger Alt-Gleisschotter zwar nicht mehr in die SHB-Grube gekippt, aber auf ihrem vor Regen ungeschützten, unbefestigten Umschlagplatz zwischengelagert, danach im Steinbruch gewaschen und nur teilweise in eine Deponie abgeführt, wie Überwachungskameras dokumentierten. Auch toxische Eisenbahnschwellen treffen weiterhin in der SHB ein und werden umweltgefährdend gehandhabt.

Seit Linders erster Meldung an die Polizei, das AWA und Regierungsrat Neuhaus sollte es noch 111 Tage dauern, bis am 20. September diese Art des Umgangs mit Abfall gestoppt wurde. 

Am 1. Juli 2020 trifft Linder die Geschäftsleitung der BLS und informiert die Bahnleute darüber, was auf ihrer Baustelle passiert. Die BLS liegt mit der Baufirma Marti bereits seit längerem im Clinch, insbesondere weil die Sanierung des hundert Jahre alten Lötschberg-Scheiteltunnels, der dem Lötschberg-Basistunnel gegenüberliegt, nicht wie veranschlagt 87 Millionen Franken kosten soll, sondern knapp das Doppelte. Ein BLS-interner Revisionsbericht, der uns vorliegt, weist nach, wie fehlerhaft die BLS ihre Ausschreibung für die Sanierung des Lötschberg-Scheiteltunnels formulierte, die zu hohen Mehrkosten für den Steuerzahler geführt hat. Und jetzt also noch das: ein sich anbahnender Umweltskandal, mitverursacht durch einen Staatsbetrieb. Grubenbetreiber und Pächter ist zwar Vigier, Besitzer des Landes aber die BLS Netz AG. Der damalige Verwaltungsratspräsident Stämpfli hört aufmerksam zu und sagt: «Ich glaube, ich muss kurz raus und kotzen gehen.»

Linder ist jetzt nicht mehr zu bremsen. Zusammen mit Blausee-Miteigentümer und Ex-Nationalbankpräsident Philipp Hildebrand besucht er noch am gleichen Tag die Bundesrätin und Vorsteherin für das Departement für Verkehr, Simonetta Sommaruga. Und kurz darauf Roman Lanz, den Präsidenten der für den Blausee zuständigen Gemeinde Kandergrund. Lanz gibt sich unwissend. Später erfährt Linder, dass Gemeindevertreter zusammen mit dem Amt für Wasser und Abfall bereits vor dem Treffen eine Begehung des Geländes durchgeführt haben. Linder ist stinksauer, Lanz gibt kleinlaut zu, dass ihm das AWA verboten habe, Linder darüber zu informieren.

Der Töfflibueb

Ein unbekannter Anrufer, der eine geplante Polizei-Razzia wegen «übergeordneter Interessen» absagt; ein ranghoher Mitarbeiter einer Umweltbehörde, der trotz eindeutig toxischer Abfälle in einer Grundwasserschutzzone «den Bau nicht stoppen kann»; ein Polizist, der während der laufenden, von Linder unterstützten Ermittlung den Spiess umdreht und gegen den Unterstützer drei Verfahren eröffnet; ein vor der Abfallmafia warnender Departementsvorsteher, der später relativiert; ein drohender Regierungsrat, der dies nie getan haben will; ein Gemeindepräsident, der sich vom AWA gängeln lässt, und eine Justiz, die anscheinend nichts tut. Das Ganze flankiert von einem Bahnunternehmen, das seit Jahren von einer Krise in die nächste schlittert und sich von einem Baukonzern Mehrkosten in zweistelliger Millionenhöhe aufbürden lassen muss. Dazu ein französischer Milliarden-Konzern, der zwar gerne über grüne Strategien spricht, aber nur ungern mit Medien über mögliche eigene Verfehlungen. In der Summe könnte man angesichts der Umstände sagen: keine Chance, Widerstand zwecklos. Immerhin ist der finanzielle Schaden wegen des Fischsterbens durch die Versicherung grösstenteils gedeckt, und nach dem ersten Corona-Lockdown kommen auch die Touristen für ihre Selfies wieder an den Blausee.

Je mächtiger der Gegner, so der Eindruck, desto mehr läuft Stefan Linder zur Hochform auf. Ein paar Kilometer südlich vom Steinbruch befindet sich eine weitere Pyramide. Es ist der Niesen, der Hausberg der Stadt Thun, dem findige Tourismusmarketingleute aufgrund seiner markanten Form den Namen «The Swiss Pyramid» verpasst haben. Von seinem Wohnort Faltschen ist Linder mit dem Mountainbike in wenigen Minuten am Fuss des Berges. Jahrelanglief er einmal wöchentlich zusammen mit seinem Geschäftspartner hinauf, um anstehende Projekte zu besprechen. Heute nimmt er uns mit, denn wir wollen verstehen, wie Linder tickt. Er händigt Wanderstöcke aus. «Sind die wirklich nötig?» – «Doch, doch, die sparen Kraft, das ist inzwischen wissenschaftlich erhärtet.» Die Antwort passt zu Linder, ein Macher, der sich – und das zieht sich wie ein roter Faden durch seine Biografie – am Faktischen orientiert. Im Gespräch beginnen seine Sätze oft mit: «Neulich stand in der NZZ », «Soeben las ich eine Studie von » oder «Beim Gespräch mit dem CEO der Firma XY erfuhr ich, dass ». Er freut sich dann jeweils, wenn er sieht, dass er mit der Information beim Gegenüber punkten kann. 

Als Teenager war Stefan Linder ein Töfflibueb. So nennt man in der Schweiz Jungs, die sich schon früh von Benzinduft, Motorengeräusch und dem mit einer Portion Freiheit verbundenen Geschwindigkeitsrausch angezogen fühlen. Linder hatte ein Flair, aus Mopeds das Maximum herauszuholen. Dass sein Vater Polizist war und ihn hätte erwischen können, erhöhte eher den Reiz, als dass es den Jungen bremste. Die Schule war ihm einerlei. Er blieb auf der Primarstufe hängen, was ihn aber nicht kümmerte, ein Akt pubertärer Rebellion. Schon zu Schul­zeiten kaufte er Motorräder und Gebrauchtwagen. Er motzte sie auf und verkaufte sie weiter, obwohl er sie noch nicht fahren durfte. Eine Automechaniker-Lehre war der folgerichtige Einstieg ins Berufsleben.

Linder, Oberleutnant bei den Gebirgsgrenadieren, geht selbstverständlich auf dem steilen Bergweg voran und passt sein Tempo unmerklich seinem Begleiter an. Nach ein paar weiteren Höhenmetern, beim Eingang in ein flacheres Waldstück, wechselt die Konversation von den neusten Ereignissen im Fall Blausee zu Linders aktueller Lektüre: einem Buch über die Kontrolle des eigenen Glukosehaushalts. Dass man mit gezielter, per Apple-Watch überwachter Essens- und Lebensführung den Blutzucker regeln kann («Desserts sind immer okay – Snacks nie!»), dass dadurch Milliarden an Gesundheitskosten vermieden werden und sich die Lebenserwartung erhöht, fasziniert Linder. Längst steigt der Pfad wieder steil an, doch Linder spricht mit dem Enthusiasmus eines Silicon-Valley-Startup-Gründers weiter, als ob er federnd bergab ginge.

Bergauf ging es auch auf der Karriereleiter nach der Automechaniker-Lehre. Sein Schlüsselerlebnis war der Rat eines Berufsschullehrers, in Bildung zu investieren. Linder leistete sich ein Jahresabonnent der NZZ, und dem bisher im Kandertal verwurzelten Zwanzigjährigen, umgeben von schroffen Bergflanken und zuweilen auch engstirnigen Grinden, gingen neue Weltenauf. Seine Neugierde war entfacht, er wollte fortan alles wissen, verstehen und erkannte schnell, dass er mit seiner Primarschulbildung nicht weit kommen würde. Also absolvierte er die Diplommittelschule und die Höhere Wirtschafts- und Verwaltungsschule. Für den Zugang zum Master-Kurs in Wirtschaft an der Universität Basel reichte Linders Qualifikation dennoch nicht. Mit der gleichen Akribie, wie er später Gewässerschutzverordnungen und Deponiegesetze in der «Causa Blausee» analysierte, durchkämmte er das Universitätsreglement und entdeckte, dass mit genügend Credits der Zugang zu schaffen ist. Credits, die er mit Kursen an zwei amerikanischen Universitäten in einem halben Jahr erlangte.

Am 17. September 2020 laden die drei Blausee-Eigentümer Stefan Linder, André Lüthi und Philipp Hildebrand in Bern zur Medienkonferenz. Sie haben den Betrieb 2014 gekauft, um ihn nicht in die Hände ausländischer Investoren geraten zu lassen. Das Trio gehört zu den Überfliegern der Schweizer Wirtschaft. Lüthi hat das Reiseunternehmen Globetrotter mit unkonventionellen unternehmerischen Ansätzen und mit einer medialen Dauerpräsenz seiner Person zur Nummer vier der Branche gemacht. Philipp Hildebrand, der als Nationalbankpräsident in der Finanzkrise die grösste Schweizer Bank UBS mit einem 60-Milliarden-Rettungspaket vor dem Abgrund bewahrte, anschliessend aber über ein Insider-Geschäft stolperte, ist heute Vizepräsident bei Blackrock, dem weltgrössten Vermögensverwalter. Und eben Linder. Hätte ein unbekannter Oberländer Hotelier und Fischzüchter zu einer Medienkonferenz gerufen, wäre ausser dem Lokalanzeiger Frutigländer niemand gekommen. So aber sind alle da, und der Umweltskandal vom Blausee ist die Top-Meldung in den Abendnachrichten des Schweizer Fernsehens. Anderntags bebildern tote Forellen die Frontseiten der Tageszeitungen.

Weshalb haben die Tunnelbaufirma, das Steinbruch und Hartschotterwerk Blausee-Mitholz und andere Beteiligte den materiellen Schaden der Fischzucht, ohne mediale Scheinwerfer anzuwerfen, nicht aussergerichtlich geregelt? Zugegeben, in dieser Frage steckt die Annahme, dass eine Kausalität zwischen dem Fischsterben und der Tunnelsanierung besteht. Stimmt das? Laut Professor Walter Wildi, einem führenden Schweizer Geologen für Altlasten und Umweltfragen, ist eine «hohe Kausalität wahrscheinlich». Klingt, je nach Leseverständnis, unscharf, doch es geht hier nicht um eine mathematische Beweisführung wie beim Satz von Pythagoras, hier steckt etwas anderes dahinter. In der unvergleichlichen Poesie des Juristendeutschs aus der Rechtsprechung des Bundesgerichts: «Nach dem Beweismass der hohen oder überwiegenden Wahrscheinlichkeit gilt ein Beweis als erbracht, wenn für die Richtigkeit der Sachbehauptung nach objektiven Gesichtspunkten derart gewichtige Gründe sprechen, dass andere denkbare Möglichkeiten vernünftigerweise nicht massgeblich in Betracht fallen.» Um diese «anderen denkbaren Möglichkeiten», die fürs Fischsterben infrage kommen oder eben auch nicht, werden wir uns noch kümmern.

Bergwasser und Tunnelwasser

Doch zurück zum Bau unseres Neat-Jahrhundertwerks, bei dem noch zwei weitere Stoffe heikel sind: Bergwasser und Tunnelwasser. Ersteres ist oft gutes Quellwasser. 100 Liter pro Sekunde fliessen stellenweise aus den Gesteinsschichten, manchmal sind es bis zu 190 Liter pro Sekunde. Dieses Wasser in den Fluss, die Kander, abzuleiten, geht nicht, denn bei Felstemperaturen von bis zu 46 Grad Celsius sind Wassertemperaturen von über 30 Grad keine Seltenheit, und das würde jede hiesige Fischart töten. Das Bergwasser wird deshalb in Becken zur Abkühlung aufgefangen, bevor es in die Kander fliessen darf. 

Das Tunnelwasser hingegen ist je nach Bauphase eine mehr oder weniger schmutzige Brühe aus Betonschlämmen und anderen bereits erwähnten Rückständen. Dieses Schmutzwasser – um die 200 Liter pro Sekunde! – wird ebenfalls in separaten Becken gesammelt, wo Schlamm sich absetzt. Diesen presst später eine sogenannte Kammerfilterpresse zu einem Filterkuchen. Die Presse steht im Steinbruch SHB. Schlämme und Filterkuchen weisen die höchste Konzentration unerwünschter Giftstoffe auf. Sie müssen in einer dafür lizenzierten Deponie entsorgt werden. Doch das wurden sie oftmals nicht. Der bereits erwähnte Mitarbeiter sagt, die Baubegleitung habe sich für die Kontrolle des Tunnelwassers und der Becken mehrere Tage vorher angemeldet. Am Besuchstag sei dann immer alles «schön» gewesen. Er fügt hinzu: «Wenn man sich immer an alle Vorschriften gehalten hätte, wäre der Bau des Neat-Tunnels gar nicht möglich gewesen.»

Die Schlamm-Absetzbecken wiesen eine bestimmte Kapazität auf. Laut einem damaligen Mitarbeiter war man überrascht, dass deutlich mehr Tunnelwasser anfiel als erwartet, mehr als die Becken anfänglich fassen konnten. Vielsagend fragt der Insider rhetorisch: «Was tun, wenn die Kapazität nicht reicht, das Schmutzwasser aber unaufhörlich herausschiesst?» Die Antwort liege nahe, sagt er, hier fliesse ja die Kander vorbei und weiter in den zwanzig Kilometer entfernten Thunersee. Wer erinnert sich? 

Dort traten kurz nach dem Jahrtausendwechsel bei jungen Felchen eigenartige Gonaden-Veränderungen auf, Mutationen an den Keimdrüsen, verkümmerte oder fehlende Eierstöcke, verwachsene Hoden. Rund die Hälfte aller Felchen im See war betroffen. Das sorgte schweizweit für Schlagzeilen. Untersuchungen ergaben, dass im pflanzlichen Plankton des Sees Schadstoffe angereichert waren – Wasserflöhe fressen es und werden wiederum von Felchen gefressen. 

Hans Stucki, Umweltchemiker, damals Mitarbeiter der Armasuisse im VBS und zuständig für Munitionschemie, hat eine von keinen Zweifeln getrübte Meinung zu den Erkrankungen der Felchen: «Die ersten Gonaden-Veränderungen traten ungefähr zwei Jahre nach Sprengbeginn bei der Neat und dem Tunnelausbau mit Beton auf. Ich gehe davon aus, dass sich in den Betonchemikalien jener Stoff befindet, der die Felchen im Thunersee schädigte.»

Ob tatsächlich die Neat-Abwässer schuld sind, lässt sich heute nicht mehr beweisen. Ebenfalls nicht restlos geklärt ist, was in den Felchen im Detail geschah, als sich ihre Keimdrüsen und anderes veränderte. Stucki sieht jedoch im grossen Bild ihn überzeugende Fakten: «Nach Abschluss der Neat-Bauphase dauerte es etwa sechs Jahre, bis alle Fische aus dieser Zeitspanne gefangen oder gestorben waren. Danach traten keine Mutationen mehr auf. Es ist verblüffend, diese zeitliche Abfolge verläuft präzis parallel mit der Verschmutzung des Thunersees – und zwar durch die Neat-Baustelle.»

Eine Cheops-Pyramide in den Alpen

Dort präsentieren sich andere Probleme. Wohin mit den 16,6 Millionen Tonnen Ausbruchmaterial, dem 4100 Kilometer langen Güterzug? Das Material wurde von Geologen je nach Eignung für die Betonherstellung bereits im Tunnel klassifiziert, von K1 bis K4. Über den Verschmutzungsgrad sagen diese Klassen nichts aus, kontaminiert sind sie, wie die Arbeitspraxis zeigte, alle ähnlich. Aus K1-Material lässt sich Betonzuschlagsstoff gewinnen, entsprechend werden die Förderbänder ausgerichtet: Es wird teilweise schon in Anlagen im Tunnel oder aber in den Aussenwerken weiter zerkleinert, gesiebt und gewaschen. Es entstehen Sand, Kies und toxische Schlämme. Alle anderen Klassen wirft das Förderband ungewaschen auf Hügel, mit allem Schmutz, den sie enthalten. 

Fast das gesamte K1-Material verwandelte sich zusammen mit Zement in jene 2 Millionen Kubikmeter Beton, die für den Ausbau des Tunnelsystems benötigt wurden – damit liessen sich etwa 25 000 zweistöckige, unterkellerte Einfamilienhäuser bauen.

Interne BLS-Protokolle, Faktenblätter und Fachartikel der Neat-Erbauer zeigen: Bei der Aufbereitung des K1-Materials ist mit 20 Prozent Verlust (Steinmehl, nicht klassierter Sand) zu rechnen, die deponiert sein wollen. Mehr als eine halbe Million Tonnen K1-Material wurde zudem aus dem Wallis in die SHB transportiert, aber nur teilweise genutzt, die Hälfte liegt noch heute ungewaschen da, wie auch weiteres Ausbruchmaterial von minderer Gesteinsqualität. Beim Betonieren im Tunnel entstehen Schlämme; ein Teil wurde korrekt in externen Deponien entsorgt, ein Teil nicht. Bei Wengi-Ey wurde eine Wiese und anderswo diverse Trassees mit Ausbruchmaterial aufgeschüttet. Abfälle aus den Jahren 2012 bis 2020 landeten hingegen in der SHB. In der Summe liegen bei Mitholz nicht «nur» 1,2 Millionen Tonnen belastetes Material, wie die Behörden bestätigen, sondern das Fünffache davon: Kontaminiertes, aber vom Staat als unbedenklich deklariertes Material, unsere «Cheops-Pyramide». 

Das Bundesamt für Verkehr, das für jede Phase der Neat-Bauarbeiten die Bewilligungen erteilte, verweigert uns gegenüber das Gespräch mit dem damals wie heute dafür zuständigen Peter Mayer. Die BAV-Medienstelle schreibt: «Es konnten bis heute weder aus dem abgelagerten Ausbruchmaterial noch aus ‹Neat-Schlämmen› umweltgefährdende Auswirkungen festgestellt werden.» Und weiter: «Aufgrund der historischen Entwicklung gibt es heute Standorte, die aufgrund von Entsorgung von Schlämmen in der Vergangenheit in den öffentlichen Katastern der Kantone als belastet, nicht aber als sanierungspflichtig gelten. So wurde im Bereich Mitholz eine Zone als belasteter Standort in den kantonalen Kataster aufgenommen.» Gemeint ist der «Neat-Hügel», wie ihn Einheimische nennen. Der Katasterplan weist bei der erwähnten Parzelle No. 05640018 nicht aus, worin die Verschmutzung besteht, sondern nur dies: «Ablagerung Alptransit, Steinbruch SHB IP Mitholz, Status: Nicht definiert. Stufe: Untersuchung bei Bauvorhaben.»

Sind diese Parzelle und die «Cheops-Pyramide» also unbedenklich? Knapp 20 Jahre später (!) erstellen die Geologiefirmen Geotest und Jäckli Gutachten. Geotest hatte Wasser aus Sondierbohrungen im Bereich des abgelagerten Neat-Ausbruchmaterials analysiert, das am Rand und teilweise innerhalb des Abbauperimeters der SHB liegt: «Es zeichnet sich mit 0.29 mg/l Ammonium eine deutliche anthropogene [vom Menschen verursachte, Anm. d. Red.] Beeinflussung des Grundwassers ab, welche den für Trinkwasser definierten Wert von 0,1 mg/l überschreitet (…). Eine Beeinflussung durch Sprengmittelrückstände kann dort nicht ausgeschlossen werden.»

Der Kommentar dazu im Jäckli-Gutachten: «Die Proben sind arm an Sauerstoff und zeigen erhöhte Werte eLF (673, 683 µS/cm), Ammonium (0,26, 029 mg/l), Sulfat (140 mg/l), Calcium (110 mg/l) sowie teilweise Spurengehalte von Trichlorethen (0,16 µmg/l) und Naphtalin (0,002 µm/l) und einiger Schwermetalle. (…) Eine potenzielle Schadstoffquelle ist die im Zustrombereich gelegene Deponie Alptransit und insbesondere deren Teil, welcher als belasteter Standort Nr. 05640018 registriert ist.» 

Die Geologiefirma Jäckli dokumentiert in ihrem Gutachten, dass der in der SHB vorgeschriebene Sicherheitsabstand von vier Metern zum Grundwasser an verschiedenen Stellen um mehr als zwei Meter verletzt worden ist. Abwasser vom Lagerungsplatz in der Steingrube erwies sich «als leicht belastet mit Schwermetallen und PAK». Zusammenfassend hält das Jäckli-Gutachten fest, «dass im Untersuchungsperimeter und insbesondere im Zustrombereich des Blausees und der umliegenden Quellen diverse belastete Standorte existieren, welche noch nicht altlastentechnisch untersucht sind».

Al Gore im Berner Oberland

Fragt man die Menschen vor Ort, so weiss niemand, was genau im «Neat-Hügel» und im nahen Steinbruch steckt. Mehrere Quellen bestätigen, dass in der SHB sogar Baumaschinen und alte Autos «entsorgt» wurden. Gemeindepräsident Lanz sagt: «Es würde mich nicht wundern, wenn man diesen Hügel nochmals umgraben müsste.» Der Umweltexperte Walter Wildi erinnert daran, dass in der Schweiz das Umweltschutzgesetz von 1983 und die Altlastenverordnung IV von 1998 gelten, die (fast) alle Aspekte im vorliegenden Fall regeln. Die Frage stelle sich, weshalb gewisse Kantone diese rechtlichen Grundlagen immer wieder zu umgehen versuchten. Wildi: «Man muss eine vollständige und korrekte Abklärung der Altlasten durchführen. Erst nach dem geplanten Neat-Ausbau zu sanieren, wäre gegen das Gesetz.»

Die Hälfte des Aufstiegs ist geschafft. Ein paar Schlucke Wasser, den mitgebrachten Energieriegel akzeptiert Linder aus Höflichkeit. Weiter. Nach der Universität heuerte er als Export- und Marketingleiter beim Skibindungshersteller Fritschi im Nachbardorf Reichenbach an. Die Qualitätsskibindungen liefen Mitte der neunziger Jahre gut, noch verschafften die Aufträge des Militärs der Firma eine solide Basis, einziges Exportland damals: Österreich. Linder expandierte und verkaufte die neue Tourenskibindung Diamir bald überall auf der Welt, wo Schnee lag. Nach fünf Jahren und einer Vervierfachung des Firmenumsatzes war Diamir Marktführer in 22 Ländern. «Ich flog pro Jahr zweimal um die Welt», sagt Linder und stellt gleich selbst fest, dass dies der wohl grösstmögliche Gegenentwurf zum Leben seiner Jugendfreunde aus Turnverein- und Skiklub ist, die allesamt nach der Lehre im Ort sesshaft blieben. Weil Linder daneben eine Familie gründet und das Haus seines Grossvaters umbaut, fehlt ihm die Zeit für das Bier am Stammtisch mit den Vereinskollegen, denen das in den falschen Hals gerät. «Du bist dir wohl zu schade für uns», hört er immer wieder.

In Thun wurde das Oberländer Jungunternehmerforum auf das Marketingtalent aufmerksam. Dort lernte er den Ingenieur Peter Stähli kennen, mit dem zusammen er die Idee eines neuen Forums entwickelte, das kleine und mittelständische Unternehmen untereinander vernetzt und mit der Politik zusammenbringt. Ein World Economic Forum nur für die Schweiz. Im ersten Jahr kamen 460 Teilnehmer, im zweiten doppelt so viele. 2004 dann der Durchbruch. Linder ging eine Kooperation mit dem Schweizer Radiosender DRS 3 ein. Dem jungen Radiopublikum wurden Wirtschaftsthemen attraktiv zugänglich gemacht, und das SEF erfuhr eine publizistische Breitenwirkung. Im gleichen Jahr sagte der ehemalige US-Vizepräsident und Präsidentschaftskandidat Al Gore seine Teilnahme zu. «Abu Ghraib war damals in aller Munde, und deshalb reisten ausländische Fernsehteams ans SEF», erzählt Linder. Gore schrieb gerade an seinem Buch, und das Berner Oberland gefiel ihm ausgesprochen gut, so dass er seinen Aufenthalt verlängerte. Linder traf ihn täglich, ging mit ihm spazieren: «Seither kann ich ihn jederzeit auf seiner Handynummer anrufen, wenn ich einen Kontakt oder sonst etwas aus den USA brauche.»

Von nun an ging es rasch aufwärts. Bei Linder und Stähli, anfänglich von Zürcher Managern noch als «Hinterwäldler aus den Bergen» belächelt, gaben sich bald die mächtigsten Vertreter der Schweizer Politik und Wirtschaft die Klinke in die Hand, sonnten sich im Kreis von international renommierten Referenten wie Richard Branson, Nicolas Sarkozy oder Michail Chodorkowski. «Wir wanderten mit ihnen auf eine Berghütte und assen ein Fondue, das förderte dauerhafte Beziehungen», erklärt Linder ihr Erfolgsrezept. Interviews mit Linder im Frutigländer, abgebildet an der Seite des aktuellen Bundespräsidenten, liessen sowohl Bewunderung wie Neid auf den einstigen Primarschüler und Töfflibueben aus dem Tal wachsen. 2016 verkauften Linder und Stähli das SEF an die NZZ. «Wir sahen keine Weiterentwicklung mehr. Und wir wollten auch nicht als über 80-Jährige jedes Jahr die Eröffnungsrede halten wie Klaus Schwab am WEF.» Linder hatte Lust, sich mit neuen, aufkommenden Technologiethemen wie Datenanalyse, künstliche Intelligenz oder Kryptowährungen auseinanderzusetzen. Nach dem Verkauf schrieb er sich zuerst an der Stanford University im Silicon Valley und später an der Harvard University in Boston ein, um erneut die Schulbank zu drücken.

Dass beim Neat-Bau gewaltige Mengen schmutziges, unbrauchbares Ausbruchmaterial anfallen würden, war vor Baubeginn klar. Die Verwertungsidee des Berner Nationalrats Walter Donzé, wohnhaft im Kandertal, war deshalb willkommen: Am 6. November 1999 präsentierte er dem Schweizer Parlament eine dringliche Motion. Er schlug vor, Ausbruchmaterial für den Bau eines Lawinenschutzes auf der Strasse von Frutigen nach Kandersteg zu verwenden, sie zu überdachen, das Material so aufzuschichten, dass im Tagbau ein Tunnel entsteht: der Mitholz-Strassentunnel. Vorschlag angenommen. 

Im Jahr 2000 begann dieser Bau, der an das Gelände der SHB grenzt und nur einen Steinwurf vom Neat-Tunnelausgang entfernt ist. Es wäre «gäbig», wie Berner sagen, also naheliegend, bequem und praktisch, an dieser Stelle mehr ungewaschenes, verschmutztes Ausbruchmaterial loszuwerden als eigentlich geplant. Und so geschah es. 110 000 Tonnen toxische Filterkuchen wurden auch gleich «eingebaut». Ende Oktober 2002 wurde der 640 Meter lange Tunnel eröffnet. Kaum in Betrieb, traten in der Gewölbedecke Risse auf, dann Brüche, es drohte Einsturzgefahr. Nach weniger als zwei Jahren Betriebsdauer wurde der Tunnel im Juli 2004 gesperrt.

So also geht «Wiederverwertung»

Jetzt geschehen Dinge, die geschildert werden müssen, wenn man verstehen will, nach welchem System die BLS, die SHB und der Kanton Bern handeln – bis heute, bis zur «Causa Blausee».

Der Kanton Bern als Besitzer des unbrauchbaren Strassentunnels ermittelt polizeilich die «Baumaterialien» und klagt wegen Verletzung von kantonalen Umweltgesetzen vier Personen an, darunter Peter Teuscher, Direktor der BLS Alptransit AG. Der Gerichtsfall macht klar, welche kantonalen Regeln für den Steinbruch SHB, der in einem Gewässerschutzgebiet liegt, gelten: «Eine Einlagerung mit den Filterkuchen aus der Kammerfilterpresse SHB in das Ausbruchsmaterial (K3) ist verboten.» Was aber, wie das Gericht feststellte, getan wurde. Das damalige Amt für Gewässerschutz und Abfallwirtschaft (GSA, heute AWA, Amt für Wasser und Abfall) hatte schriftlich kritisiert, der Zustand im Steinbruch SHB sei unhaltbar. Die Abbaustelle Mitholz erfülle die Anforderungen für eine Inertstoffdeponie in keiner Weise, ausschliesslich unverschmutztes Aushub- und Ausbruchmaterial dürfe abgelagert werden. Das leuchtet ein, die SHB ist ein Steinbruch, keine Deponie.

Die Neat-Bauleitung hatte mit Ausbruchmaterial Experimente durchgeführt. Die Angeklagten beriefen sich auf die Ergebnisse, es gab keine kritischen Nitrit- und Ammonium-Auswaschungen, alles sei im grünen Bereich gewesen. Die ökologische Baubegleitung der Neat machte zudem darauf aufmerksam, dass ein «erheblicher Kostenaufwand» entstünde, wenn die Filterkuchen in eine entsprechende Inertstoffdeponie überführt werden müssten. Das kantonale Amt aber forderte die Tunnelbauer schriftlich auf, das Material in eine andere, geeignete Deponie mit Kammerfilterpresse abzuführen «… oder bei der zuständigen Bundesbehörde eine Ausnahmebewilligung für Ablagerung der Schlämme in Mitholz zu erwirken». So steht es in den Gerichtsakten.

Im Klartext schlägt der Kanton also dies vor: Der Bund könne ja das von ihm, dem Kanton, verbotene Vorgehen zur Ablagerung der Schlämme in Mitholz bewilligen. Als ob die mögliche Gefährdung durch Giftstoffe damit verändert würde. Einzig die Verantwortung verlagert sich, weg vom Kanton, hin zum Bund. Der Kanton nahm die mögliche Gefährdung des Grundwassers in Kauf.

Diese Haltung des Kantons Bern kritisiert Prof. Walter Wildi scharf: «Die Verantwortlichen im Kanton Bern haben nicht begriffen, welche Prioritäten gelten. Der Schutz der Bevölkerung kommt vor der Wirtschaft, nicht umgekehrt. Das ist keine abstrakte Angelegenheit, es geht um ein konkretes Schutzgut, nämlich um Grundwasser.»

Die Anklage hatte auf Missachten von Auflagen des Gewässerschutzes in Mitholz, das Erwirtschaften eines unrechtmässigen Vermögensvorteils, das Vermischen und illegale Ablagern von Sonderabfällen gelautet. Erstaunlich: Wir werden diesen Anklagepunkten 15 Jahre später in der «Causa Blausee» wortwörtlich wieder begegnen.

Dann urteilte das Gericht: Freispruch. Die Urteilsbegründung: Der Kanton sei nicht zuständig für die Erteilung oder die Verweigerung einer Bewilligung. Der Bund, das Bundesamt für Verkehr, habe gestützt auf das Eisenbahngesetz den Segen für das Vorgehen erteilt, und das schliesse die Materialbewirtschaftung mit ein. Das bedeutet konkret, dass in der SHB toxische Schlämme verarbeitet und anderes schmutziges Material vergraben werden dürfen – der Steinbruch war für die Zeit des Neat-Baus offiziell zu einer Deponie in einem Gewässerschutzgebiet geworden. Im Urteil vom 4. Dezember 2007 wird erwähnt, dass im bewilligten Materialbewirtschaftungskonzept nicht von «deponieren» die Rede sei, sondern von der «Ablagerung von Tunnelausbruchmaterial im Sinne einer Wiederauffüllung des Steinbruchs». So also geht die von der BLS stolz kommunizierte «Wiederverwertung».

Vor Gericht hatte Peter Teuscher gesagt: «Wir haben nie etwas getan, was vom Bund nicht gestützt war.» Im Urteil steht: «Fazit ist, dass kein strafrechtlich relevanter Verstoss gegen umweltschutzrechtliche Vorschriften erfolgt ist. Das Vorgehen entsprach dem mit der Plangenehmigung genehmigten Materialbewirtschaftungskonzept.» Peter Teuscher hat also recht. Die Frage, die sich aufdrängt: Kann eine derartige Bewilligung vom Bund rechtens sein?

Ominöses Geheimabkommen

Im Jahr vor der Schliessung des maroden Mitholz-Strassentunnels hatten BLS-AT-eigene Messungen ergeben, dass die toxischen Pressschlämme aus der SHB-Kammerfilterpresse doch höher belastet waren «als angenommen». Dem Bundesamt für Verkehr teilte man deshalb am Donnerstag, 25. Juni 2003, mit, dass ab Freitag keine Schlammkuchen mehr in Mitholz deponiert würden. War es den Tunnelbauern doch nicht ganz wohl bei ihrem kostensparenden Umgang mit toxischen Filterkuchen? Statt sie wie bis anhin im Kandertal zu verscharren, beziehungsweise zu «verwerten», wie wir jetzt wissen, karrte man sie in die gut 100 Kilometer entfernte Deponie La Tuffière bei Hauterive im Nachbarkanton Freiburg. Die Deponie gehört wie die SHB dem Vigier-Konzern, war aber als Deponie Typ B für diesen toxischen Abfall nicht lizenziert. Sie erhielt jedoch vom Bund die Bewilligung.

Anwohnern der Deponie fiel der plötzlich ansteigende Lastwagenverkehr auf. 72 000 Tonnen Abfall – das sind mindestens 5000 LKW-Ladungen – füllten die Grube. Besorgte Bürger holten Proben zum Analysieren. Ergebnis: hohe Konzentration von Schadstoffen, darunter krebserregendes Chrom VI, das bei der Verarbeitung von Beton anfällt. Die Anwohner alarmierten die Polizei.

Dann gingʼs schnell. Die Freiburger Behörde bestätigte das Ergebnis. Das weitere Deponieren von Neat-Abfall in La Tuffière wurde vom zuständigen Freiburger Amt im März 2005 verboten. Wo ein kantonaler Wille ist, ist auch ein Weg. Der Kommentar eines nicht genannt sein wollenden Freiburger Rechtsprofessors: «Bewilligt Bundesbern etwas, so ist man im Kanton Freiburg – anders als im Kanton Bern – zuerst mal skeptisch.»

Der Kanton Bern verklagt beim Handelsgericht die beim Pfusch am Mitholz-Tunnelbau Beteiligten auf 25 Millionen Franken Schadenersatz für die Sanierung. Ein Gutachten hatte festgestellt: Fehleinschätzungen der Belastung des über dem Tunnel aufgeschütteten Materials; Fehleinschätzung des ungünstigen Baugrunds; Fehleinschätzung der Querkräfte. «Es war eine unglückliche Verkettung von Berechnungsfehlern», rechtfertigt sich heute ein Ingenieur, der anonym bleiben will und damals für ein involviertes, renommiertes Planungsbüro arbeitete. Heute besetzt er eine verantwortungsvolle Stelle beim Kanton Bern.

Das Verfahren dauerte. Eine öffentliche Hauptverhandlung fand nie statt, denn im Januar 2012 gab das Handelsgericht Bern bekannt, der Kanton Bern erhalte 16 Millionen statt der geforderten 25 Millionen. Es sei gelungen, die Angelegenheit zu regeln. Wie genau, darüber sei Stillschweigen vereinbart worden. 

Unser Antrag auf Einsicht in den Fall Aktenzeichen HG 22 45 unter Berufung auf das Öffentlichkeitsprinzip, das auch im Kanton Bern gesetzlich verankert ist, wird von allen beteiligten Parteien, denen wir auch in der «Causa Blausee» begegnen, wortreich durch ihre Anwälte bestritten, unsere Replik ebenso. Der Präsident des Handelsgerichts, Christian Josi, entscheidet am 19. August 2022: Antrag abgelehnt. Grundsätzlich ist nichts gegen eine aussergerichtliche Einigung einzuwenden, jedoch muss sie veröffentlicht werden, weil der Kanton Bern als Kläger diese Öffentlichkeit vertritt, sagen kritische Juristen. Eine Vereinbarung, an der eine öffentliche Stelle beteiligt ist und über die Stillschweigen bewahrt wird, öffnet die Türe für Willkür und Missbrauch.

Der zu schwere und verschmutzte Überbau des Mitholz-Strassentunnels wurde nur teilweise korrekt in eine Deponie entsorgt, nämlich nur jenes toxische Material, das man bei den Entlastungsarbeiten hier und dort zufällig beim Baggern angetroffen hatte. Der grosse Rest, so belegen Fotos, landete nebenan, auf dem «Neat-Hügel».

Die Strategie: «Abstreiten, aussitzen»

Die öffentliche Meinung nach der Pressekonferenz vom 17. September 2020 ist schnell gemacht, die Sympathien sind grösstenteils auf der Seite der Blausee AG, die sich gegen einen offensichtlichen Umweltskandal wehrt. «70:30 für euch», sagt Linders Hausarzt aus Reichenbach aufgrund von Patientenreaktionen im Tal zu diesem. Doch im Hintergrund rüstet die Gegenseite auf. Die Grubenbetreiber laden Schweizer Medienschaffende zur Besichtigung ein. Diese sehen ein aufgeräumtes Gelände und einen Container voller Altschotter, der alle Zweifel am korrekten Vorgehen zerstreuen soll. Es entfacht sich ein Streit darüber, wer wo welche Proben in der Grube entnommen hat, die zu unterschiedlichen Resultaten führen. 

Bei einer Begehung mit Vertretern des BAV, des Bafu und des AWA wird festgehalten, dass keinerlei Gefährdung von der SHB und den gelagerten Materialien mehr ausgehe. Es erscheinen Untersuchungen von Ämtern, die auf eine möglicherweise unsachgemässe Handhabung der Blausee-Forellenzucht hinweisen. Regierungsrat Christoph Neuhaus erzählt in der Folge auf seiner Wahlkampf-Tour am Rande jeder Veranstaltung, dass die Blausee-Betreiber ihre Fische nicht sachgemäss gehalten hätten und jetzt einen Schuldigen suchten. 

Seit die Zürcher Kommunikationsagentur Hirzel. Neef. Schmid. mit einem Mandat von Vigier ausgestattet ist, erscheinen in Ringier-Medien Artikel, die von Verfehlungen in der Fischzucht reden und die drei «illustren Millionäre» verunglimpfen. Eine Formulierung, die Neuhaus bei jeder sich bietenden Gelegenheit genüsslich korrigiert; es handle sich um «zwei Millionäre und einen Milliardär» [eine Anspielung auf Hildebrands schwerreiche Partnerin Margarita Louis-Dreyfus, Anm. d. Red.]. Und plötzlich steht die Blausee AG selbst als Umweltsünder da. Beim Kaffee mit dem SHB-Grubenleiter Marcel Rychen wird Linder erneut gewarnt: «Du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst und wie mächtig wir sind.» 

Vigier ist eine Tochtergesellschaft des französischen Familienkonzerns Vicat. Das Unternehmen stellt Baustoffe her, darunter jährlich mehr als 30 Millionen Tonnen Zement, Zuschlagstoffe sowie Beton.

In den letzten Jahren hat Vicat seinen Willen zum «Schutz des Planeten» durch eine Politik der sozialen Verantwortung und der «territorialen Ökologie» ausgedrückt. Vicat spricht auch ausgiebig über seine Bemühungen, den CO₂-Ausstoss zu reduzieren – ein kommunikativer Erfolg: Frankreichs Industrieministerin Agnès Pannier-Runacher lobte Vicats Werke als beispielhaft für die «Dekarbonisierung». Die Zementindustrie ist eine der umweltschädlichsten Industrien der Welt, da beim Zementbrennen bei sehr hohen Temperaturen erhebliche Mengen an CO₂ entstehen. Nach Berechnungen des Investigativ-Mediums Mediapart gehört Vicat zu den zehn grössten Umweltverschmutzern Frankreichs. 

Der Schweizer CEO von Vigier, Piero Corpina, bittet um Verständnis dafür, dass man sich wegen der heiklen Angelegenheit nicht äussern wolle und alle Kommunikation mit besagter PR-Agentur abzustimmen sei. Dort verweist man auf bereits früher verfasste Medienmitteilungen und bezeichnet unsere Fragen als «nichtzutreffende Annahmen, Unterstellungen und Behauptungen, die klar falsch sind». Ein Mitarbeiter aus dem Steinbruch erzählte uns, dass die Konzernorder aus Paris bei Krisen stets lautet: «Abstreiten, aussitzen.»

«Wir sagen nichts!»

Die Marti AG, 1922 in Bern gegründet, ist einer der bedeutendsten Player in der Schweizer Baubranche. Sie hat die weltweit bekannte Römerbrücke im Verzascatal gebaut, war an der Gotthardstrasse beteiligt und dem Zürcher Prime Tower. Der Umsatz der Firma wird auf 1,7 Milliarden Schweizerfranken geschätzt. Damit ist die Marti AG das zweitgrösste Bauunternehmen der Schweiz, hinter Implenia. Die Firma wird seit ihrer Gründung traditionell von Vater zu Sohn weitergegeben. Seit 2016 wird sie in vierter Generation von Reto Marti und seinem Vater Rudolf geführt. Zu sehen kriegt man die beiden allerdings nicht. Wirtschaftsanlässe, Interviews, Fotos – all das meiden die Alleinbesitzer.

Marti gilt in der Branche als hartnäckiger, aber kompetenter Konkurrent, der unkonventionell arbeitet. So beschäftigt der Konzern laut mehreren Quellen ein Dutzend Anwälte, die sich auf das sogenannte Claim Management spezialisiert haben. Dabei werden gezielt Lücken in Ausschreibungen gesucht, um nach dem erhaltenen Auftrag Nachforderungen stellen zu können – wie bei der Vergabe des Sanierungsauftrags der BLS für den Lötschberg-Scheiteltunnel geschehen. Im aktuellen Blausee-Verfahren wird gegen fünf Marti-Mitarbeiter wegen Vergehen gegen Umwelt- und Grundwassergesetze im Zusammenhang mit Altschotter-Lieferungen ermittelt.

Einer Anhörung Ende August 2022 verkam zu einer absurden Veranstaltung: Die Marti-Mitarbeiter antworten auf sämtliche Fragen des Staatsanwalts drei Stunden lang mit dem immer gleichen Satz: «Auf Empfehlung meiner Verteidigung mache ich zu der gestellten Frage im Moment keine Aussagen.»

Marti schweigt, und Vigier bestreitet jeden Zusammenhang zwischen Fischsterben und den Vorgängen im Steinbruch. Doch woher stammen Arsen, Blei, Kadmium, Kupfer, Mangan, Quecksilber, Zink, Nickel, Chrom und Aluminium und die hohe Konzentration an PAK in den Forellen, die das Interlabor in Belp festgestellt hat? Man muss kein Sherlock Holmes sein, um das Ausschlussprinzip zu kennen. Auch die Polizei suchte im Blausee-Areal nach alternativen Ursachen für das Fischsterben. Welches der folgenden Szenarien lässt sich ausschliessen?

1. Die Blausee AG tötet die Fische mit einem giftigen Futtercocktail, um Versicherungsgeld zu kassieren. Wurde überprüft, Antwort: Nein.

2. Ein Blausee AG-Gegner vergiftet wiederholt die Quelle. Nein, die Polizei fand keinen Grund, in diese Richtung zu ermitteln, niemand wurde verhaftet.

3. Ein Lieferwagen für verschiedene Chemikalien verunglückte, Regen spülte die Toxine in die Fischzucht. Nein, es gab zwischen 2018 und 2020 keinen derartigen Unfall.

4. Zu viele Fische in den Zuchtbecken, sie sind an ihrem eigenen Kot gestorben. Wurde überprüft, Antwort: Nein.

5. Raubvögel übertrugen beim Fischfressen Keime auf die Forellen. Möglich, erklärt aber die Gifte nicht.

6. Die Wassertemperatur in den Becken war deutlich zu hoch. Nein, der Durchfluss ist derart stark, dass kaum Temperaturschwankungen auftreten.

Wegen der Corona-Massnahmen stellte die Marti Tunnelbau AG ab dem 8. April 2020 die Arbeit im Tunnel ein – der Abtransport von kontaminiertem Material in die SHB stoppte. In den folgenden zwei Wochen verendeten 60 Fische täglich, ein normaler Ausfall. Am 27. April wurde die Tunnelsanierung wieder aufgenommen. Innert eines Tages – so schnell fliesst das Grundwasser aus dem Steinbruch zur Blausee-Quelle, wie unabhängige Strömungsversuche bestätigen – verdoppelte sich das Fischsterben. Und dies von Tag zu Tag.

Besonders in Biofisch-Zuchtanlagen sterben regelmässig grössere Fischbestände, so auch in der Blausee AG. Die Mortalität in den Jahren 2018 bis 2020 überstieg das Übliche bei weitem. In dieser Zeitspanne wurde verschmutzter Gleisschotter, toxisch imprägnierte Eisenbahnschwellen und anderes aus dem Lötschberg-Scheiteltunnel in der flussaufwärts gelegenen SHB teilweise entsorgt, zwischengelagert und sorgar weiterverarbeitet. Das wahrscheinlichste Szenario: Grundwasser und Regen spülten Feinpartikel und Toxine in die Fischzucht. Die Sterberaten normalisierten sich ab 2021, als in der SHB kein Tunnel-Abfall mehr verarbeitet wurde.

Ein Maulkorb für Linder

Zündstoff enthalten auch Artikel in der Berner Zeitung und Beiträge der Rundschau des Schweizer Fernsehens über verschiedene Vergehen im Steinbruch SHB in den Jahren 2012 bis 2020: illegaler Export von Bahnschwellen, Transport und illegale Ablagerung von Filterkuchen aus Zürich ins Berner Oberland, illegale Deponie von Gleisschotter aus dem BLS-Streckennetz, die Liste ist lang und umfasst insgesamt 60 000 Tonnen toxisches Material, das gemäss geltendem Recht nie und nimmer in der SHB hätte landen und dort verarbeitet werden dürfen. Offensichtlich macht die SHB einfach so weiter, als wäre sie immer noch eine bewilligte Deponie wie in der Neat-Zeit. 

Linder erhält wegen des laufenden Verfahrens auf Antrag von Vigier von der Staatsanwaltschaft bis Ende 2021 einen Maulkorb verpasst und darf sich nicht mehr öffentlich äussern. Was diesen nicht daran hindert, sich immer tiefer in den Fall hineinzuarbeiten. Er spricht mit Tunnelbau-Experten und Geologen, verfolgt die Fährte eines Hinweises, wonach das Aufkommen von Krebsfällen im Kandertal besonders auffällig sei (was sich nicht erhärten lässt), liest alles zum Munitionsdepot Mitholz. Als Privatkläger hat er Akteneinsicht und geht regelmässig zur Staatsanwaltschaft, wo er stundenlang Dokumente einscannt. 

Der im Februar 2022 veröffentlichte Blausee-Bericht der Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Kantons Bern, die ein gutes Jahr lang rund 50 beteiligte Personen befragt hat, fällt dennoch erstaunlich zahm aus, rügt lediglich die kantonalen Aufsichtsbehörden – man hätte besser kontrollieren müssen. Auch die Justiz mäandert: Staatsanwalt Sandro Thomann erhielt bereits am 25. Mai 2018, also zwei Jahre vor dem Blausee-Fischsterben im Frühling 2020, einen Rapport der Fachstelle Tierdelikte über ein «grosses Fischsterben» in der Blausee AG, für dessen Ursache von einer Vergiftung ausgegangen werde, aber keine mögliche Giftquelle erwähnt. 

Als Thomann von der GPK im Dezember 2020 zur «Causa Blausee» angefragt wird, antwortet er: «Die Staatsanwaltschaft wurde am 03.06.2020 um 18 Uhr 57 von der Kantonspolizei über den Sachverhalt und damit den Verdacht der Blausee AG orientiert, dass die seit 2018 angeblich stattfindenden Fischsterben in der Fischzuchtanlage der Blausee AG in Zusammenhang mit den Bautätigkeiten im Rahmen der Sanierung des Lötschberg-Scheiteltunnels und der illegalen Entsorgung von Schotter stehen könnten.» − «Angeblich gestorben»? Die Fische waren unbestritten tot. Thomann weiter an die GPK: «In der Folge wurde seitens der Staatsanwaltschaft umgehend eine Untersuchung eröffnet, …». Eigenartig, er lässt sich 36 Tage Zeit, bis er am 8. Juli ein Verfahren eröffnet. Und erst am 6. November erhält die Fachstelle Umweltkriminalität von ihm den Ermittlungsauftrag.

Erstaunlich ist auch eine Mail von Martina Rivola, Chefin der Umweltpolizei, die über das gut dokumentierte Fischsterben im Bilde ist, nahm sie doch an der Notfall-Sitzung vom 3. Juni teil. Rivola schreibt einen Tag nach der Eröffnung des Verfahrens an Linders Anwalt: «Wir haben die Angelegenheit intern besprochen und sehen keinen Sachbeschädigungstatbestand bezüglich der Blausee AG.» Der Polizeibericht vom 15. November 2021 zuhanden der Staatsanwaltschaft hingegen spricht Klartext: «Die Ermittlungen ergaben, dass die Firma Steinbruch und Hartschotterwerk Blausee-Mitholz (SHB) widerrechtlich Abfälle angenommen hatte, diese verarbeitet und die daraus entstandenen Abfälle in ihrer Materialentnahmestelle eingebaut hatte.»

Die Spitze der sprichwörtlichen Pyramide

Mehrere SHB-Mitarbeiter bestätigten, dass Pressschlämme und Gleisaushub – alles toxische Bauabfälle – vergraben wurden. Im Polizeibericht steht, dass auch mehrere hundert Tonnen flüssige Schlämme «verbotenerweise von der SHB angenommen wurden», etwa von einer Kanalreinigungsfirma und einer Neat-Tunnel-Reinigungsfirma. Nebst anderen Vergehen wurde das «Vermischungsverbot von Abfällen missachtet», indem sauberes Material mit verschmutztem gemischt und widerrechtlich verkauft wurde. Der Polizeibericht schildert detailliert, wie die SHB als Deponie ohne Bewilligung betrieben wurde: «Die umfangreichen Ermittlungen zeigten auf, dass ein System zweier Tochterfirmen bestand, durch das über Jahre unrechtmässig Geld generiert wurde.»

Zustande gekommen war der Polizeibericht, nachdem im November 2020 die Polizei die Computer der SHB beschlagnahmt hatte, die Firma erfolgreich die Versiegelung verlangte, die ein Jahr andauerte, und als sie endete, gelang es Polizist Roc Bürgi innert einer Woche die SHB-Geschäftstätigkeit anhand von Lieferscheinen auszuwerten, auch anhand von E-Mail-Verkehr, der offenbarte, dass die SHB planmässig vorgegangen war und wusste, dass sie beispielsweise belasteten Betonschlamm entgegennahm. Doch das alles betrifft, wie wir nun wissen, nur die Spitze der sprichwörtlichen Pyramide.

Das letzte steile Stück über der Baumgrenze, Linder erzählt aus seiner Berggrenadier-Zeit, von den Kampfübungen, wo es «ziemlich zur Sache ging und schon mal ein paar Knochen brachen», oder von ausländischen Elite-Truppen, für die Oberleutnant Linder und sein Team Überlebensübungen im Gebirge organisierte und durchführte. Der Eindruck, dass der Grenadier immer noch in Linder steckt, drängt sich unweigerlich auf. Sein langjähriger Geschäftspartner Peter Stähli sagt, dass er niemanden kenne, der derart ausdauernd und belastbar sei. «Er hat eine blitzschnelle Auffassungsgabe, und wenn er an etwas glaubt, dann ist er kaum mehr davon abzubringen», sagt Stähli. Seine aus Kandersteg stammende Frau Susanne hat Linder vor fast 30 Jahren am Country-Festival in Frutigen kennengelernt. Die Gärtnerin und Floristin hinterlässt den Eindruck einer Frau zum Pferdestehlen, wirkte jahrelang am SEF im Hintergrund mit und steigt schon mal nachts in einen Steinbruch. Susanne streicht den Perfektionismus ihres Mannes hervor. «Steff ist ständig am Optimieren», sagt sie und fährt fort: «Ich bin enttäuscht, dass, seit das mit dem Blausee passiert ist, niemand aus dem Bekanntenkreis anrief, um beispielsweise Unterstützung anzubieten.» Die Drohungen machten ihr Angst, doch noch mehr nagt an ihr der Liebesentzug aus dem Tal. Nadine Ott kennt Linder, seit dieser in der Firma Ascom neben seinem Studium arbeitete. «In zwei Wochen wollte ich ihn in die Buchhaltung einführen und ihm alles zeigen, doch nach zwei Tagen begann er, mir Dinge zu erklären», blickt sie zurück. «Seine Hilfsbereitschaft gegenüber allen machte ihn im Betrieb schnell beliebt. Man spürte, der ist echt und kein Bluffer.» Aufziehender Nebel trübt den Panoramablick auf den Thuner- und den Brienzersee, wir sind oben angekommen. 

Linders ständige Erwähnung in den Medien lässt im Kandertal die Stimmung gegen die Blausee-Besitzer kippen. Die anfänglichen Sympathien weichen einer wachsenden Skepsis. «Sind die wirklich so selbstlos, oder schielen die bloss auf mediale Aufmerksamkeit und eine satte Entschädigung für ihre toten Forellen?» – «Kriegen diese Millionäre denn nie genug, und könnten sie die Sache nicht einfach sein lassen?» – «Haben die nicht selbst genügend Dreck am Stecken, um jetzt auf einmal den Saubermann rauszuhängen?» So reden viele Leute im Tal. Die grösste Gemeinde ist Frutigen, der Rest sind kleine Weiler und Dörfer, wo jeder jeden kennt. Und man seine Worte abwägt, bevor man sie einem Journalisten sagt. «Dazu sage ich lieber nichts», das ist denn auch die häufigste aller Antworten. Hinzu kommt, dass die SHB und die Blausee AG die beiden grössten Arbeitgeber sind, da will man es sich nicht verscherzen. Trotzdem: Nach einer Woche vor Ort lautet es gefühlt 30:70 – gegen die Blausee-Herren und diesen «Herrgottsdonner Linder», eine berndeutsche Wendung, die gleichermassen Beschimpfung ist und Respekt bezeugt. Den Meinungsumschwung beschleunigt hat eine 10-Millionen-Betreibung der Blausee-Anwälte gegen die Gemeinde Kandergrund. Zwar als juristische Formalität eingereicht, um einer möglichen Verjährung des Falls zuvorzukommen, doch goutiert wurde das nicht. Im Gegenteil. «So springt man nicht mit seinen Nachbarn um», wettert Gemeindepräsident Lanz, um gleich vorsichtig nachzuschieben, dass man dem Blausee für die wirtschaftliche Wertschöpfung im Tal natürlich auch dankbar sei.

89-seitige Beschwerde

Im Gespräch mit Behördenvertretern und Politikern in Bern fallen zu Linder Worte wie «Strebertum» und «Verbissenheit», er verfüge über «wenig Einfühlungsvermögen», sei «vom Geld getrieben» und einer dieser Manager, «die sofort und bei jedem Thema Bescheid wüssten». Und jetzt gebärde er sich wie ein «Möchtegern-Robin-Hood». Dass er einen Polizisten anzeigte, wie Linder das den seiner Meinung nach ungenügend ermittelnden Roc Bürgi tat, goutiert man hinter vorgehaltener Hand nicht. Was auffällt: Viele fühlen sich von Linders Tempo und Wissen überfordert. Als Linder zu einer «Versöhnungssitzung» bei der BLS eingeladen war, erschien er allein und ohne Unterlagen. Auf der Gegenseite ein knappes Dutzend BLS-Manager und Anwälte, die bei jedem Diskussionspunkt in ihren Akten blätterten, während Linder frei redete und alle Fakten auswendig kannte.

Linder ist sich der Abneigung einiger Leute ihm gegenüber bewusst. Sie kümmert ihn wenig: «Man kann im Leben nicht alles haben. Solange meine Freunde und meine Familie hinter mir stehen, reicht mir das.» Den Punkt aufzugeben hat er längst überschritten: 1800 Stunden habe er in den letzten beiden Jahren investiert und sich zu Fragen der Geologie, des Deponiewesens und des Rechts Fachwissen angeeignet. «Es geht darum, dass so etwas in der Schweiz einfach nicht toleriert werden darf», sagt Linder, «wer, wenn nicht wir, die den finanziellen Schnauf haben, könnte sich sonst der Abfallmafia entgegenstellen?»

Vigier und Marti schweigen, für beide Firmen gilt die Unschuldsvermutung. Bei der BLS und den Behörden BAV und AWA ging man lange davon aus, dass dieser Linder es sicher nicht so weit kommen lassen würde, Grossprojekte von nationalem Interesse zu blockieren. Doch dessen Vertrauen in Bewilligungsbehörden, den Staatsbetrieb BLS und in die Firmen Marti AG und SHB/Vigier ist beschädigt: «Mir geht es schon lange nicht mehr um die toten Fische. Bei der laufenden Tunnelsanierung wurde, wie die Polizei bewies, jede Abfallsorte illegal gehandhabt, wie auch schon andere Abfälle in den Jahren zuvor. In Zukunft, beim Neat-Ausbau und bei der Räumung des Mitholz-Munitionsdepots, soll plötzlich alles korrekt laufen? Dafür wollen wir Garantien.»

Die mit enormer Bautätigkeit verbundenen Grossprojekte werden auf nicht befriedigend analysiertem Terrain – einer Cheops-Pyramide aus Neat-Ausbruchmaterial – stattfinden. Das Bundesamt für Verkehr hat die Plangenehmigung für den Neat-Ausbau erteilt. Am 5. Juli 2022 bringt Linder ein 8,3 Kilogramm schweres Paket auf die Post in Bern. Adressat: das Bundesverwaltungsgericht. Der Inhalt: eine 89-seitige Beschwerde inklusive Beilagen gegen die Plangenehmigung. Die simple Forderung: zuerst aufräumen, dann bauen.

Mitarbeit: Mara Simperler, Alexia Eychenne, Regine Naeckel, Rachel Häubi, Steven Vanden Bussche

Recherchenachweise finden Sie hier.

Recherche-Unterstützung:

Diese Recherche wurde mit Unterstützung von JournaFONDS und dem Recherchefonds von Reportagen umgesetzt. Sie erscheint zeitgleich auf Französisch im Westschweizer Magazin Heidi News.