Der Brief, den der Wanderarbeiter Wu Guichun der Bibliothek von Dongguan im Jahr 2020 hinterliess, nachdem er durch die Pandemie und den Handelskrieg zwischen China und den USA seinen Job verloren hatte, machte den einfachen Mann mit einem Schlag berühmt.
Warum ausgerechnet Wu Guichun? Warum hat sich alles in der Bibliothek der Stadt Dongguan im Perlflussdelta am Chinesischen Meer zugetragen? Dies ist eine nahezu perfekte Geschichte von glücklichen Zufällen, die sich so kein zweites Mal ereignen wird. Sie trifft den Nerv einer Zeit grosser Umwälzungen. Und sie zeigt uns den Wert öffentlicher Bibliotheken. Vielleicht konnte das alles nur genau hier passieren – mit Wu Guichun, in der Bibliothek in Dongguan, einer Industriestadt an der Grenze zu Hongkong, die «die Werkbank der Welt» genannt wird, temporäres Zuhause unzähliger Wanderarbeiter. Es ist die Art Geschichte, wie sie nur in offener, nachsichtiger, pragmatischer und warmherziger Erde keimt.
Lesen lernen
Aus Der Traum der roten Kammer (einer der vier klassischen Romane Chinas, 18. Jahrhundert), Kapitel 15:
Der Papagei sah Lin Daiyu kommen, die gedankenversunken die Veranda betrat, und stiess mit einem lauten Kreischen herab … dann stiess er einen langgezogenen Seufzer aus, der Lin Daiyus übliches Seufzen nachahmte, und begann zu singen:
Heute verlacht man mich, weil ich Blumen begrabe
Wen kümmert es, wenn nächstes Jahr ich begraben werde?
Sieh, wie am Ende des Frühlings die Blüten fallen
Und wie die Blüte der Jugend vergeht!
Der Frühling vorbei, die Jugend dahin.
Wen kümmert es, wenn die Blüten gefallen sind und der Mensch
gestorben ist!
Als der heute 55 Jahre alte Wu Guichun im Jahr 2010 mithilfe des Xinhua-Wörterbuchs anfing, Bücher zu lesen, spornte die Figur dieses Papageis seinen Wissensdurst an. «Verdammt noch eins, ein Vogel, der Gedichte rezitieren kann!», erinnert er sich. «Ich konnte nicht einmal, was ein Vogel kann!» Seit dem Augenblick, als Lin Daiyus Papagei ihn aufrüttelte, hat er den Traum der roten Kammer viermal gelesen. Sein durch die Figur des Papageis geweckter Selbstrespekt und Lernwille halfen ihm dabei, jenes Gedicht auf die begrabenen Blüten auswendig zu lernen. Darüber hinaus führte die Entdeckung zu einem jahrelangen Doppelleben zwischen Fliessbandarbeit und Bibliothek.
Als er keine Arbeit mehr findet und plant, in seine Heimat Hubei in Zentralchina zurückzukehren, gibt Wu Guichun am Morgen des 24. Juni 2020 seinen Bibliotheksausweis zurück, um die hundert Yuan Pfandgebühr (etwa 14 Schweizer Franken) zurückzuerhalten. Auf die Bitte einer Bibliothekarin hin hinterlässt er der Bibliothek auf einem Blatt Papier eine Nachricht für ihr Gästebuch:
Siebzehn Jahre habe ich in Dongguan verbracht, in den letzten zwölf davon war ich regelmässig zum Lesen in der Bibliothek. Bücher machen verständig und sind das Einzige, das dem Menschen ausschliesslich Gutes bringt. Aufgrund der Pandemie haben in diesem Jahr zahlreiche Betriebe schliessen müssen. Wanderarbeiter finden keine Arbeit mehr und entschliessen sich dazu,nach Hause zurückzukehren. Denke ich an mein Leben in den vergangenen Jahrenzurück, war die Bibliothek für mich der beste aller Orte. Es fällt mir schwer zu gehen, aber so ist das Leben. Ich werde dich mein Leben lang nicht vergessen, Bibliothek Dongguan, und wünsche dir, du mögest mit jedem Jahr mehr gedeihen, zum Wohlergehen der Stadt und der Wanderarbeiter aus der Ferne.
2003 starb Wu Guichuns Vater. Im selben Jahr verliess seine Frau ihn und den gemeinsamen Sohn, weil er ihr zu arm war. Seine Mutter war schon länger tot. 37 Jahre alt, besass er nicht mehr als eine Grundschulausbildung, er lebte ein zielloses Leben, hatte erst auf den Feldern, dann in einem Restaurant gearbeitet und nach seiner Entlassung einen kleinen Frühstücksstand aufgemacht. Er hatte sich in vielem versucht, aber war mit nichts erfolgreich gewesen. Bei so gut wie jedem Schritt liess er sich vom Schicksal oder vom Strom der Zeit treiben. Auch zum Wanderarbeiter wurde er auf diese Weise. Wu Guichun ging nach Dongguan, dem Auffangbecken für Menschen seiner Art.
Auf dem Arbeitsmarkt in Dongguan rangierte er wegen seines Alters und des Mangels an Qualifikationen unter den am wenigsten gefragten Arbeitern. Während die grossen Fabriken ausschliesslich junge, kräftige Männer für die Fliessbandarbeit suchten, musste sich jemand seines Alters mit Jobs in kleinen Betrieben mit schlechten Arbeitsbedingungen begnügen. Dongguan zählt offiziell 1,8 Millionen registrierte Einwohner, zu denen allerdings noch einmal etwa 8,2 Millionen temporäre Einwohner kommen, davon sind achtzig Prozent Wanderarbeiter.
Zuerst arbeitete Wu Guichun in einer illegalen Fabrik. Nachdem er zwei Wochen dort geschuftet hatte, ohne Geld zu sehen, machte ihn jemand auf den Industriepark in der Nähe von Houjie im Süden der Stadt aufmerksam. Houjie gilt als Zentrum der weltweiten Schuhproduktion mit Hunderten von privaten Schuhfabriken.
Klein und dichtgedrängt wie Streichholzschachteln verstecken sich diese Fabriken in von den Einheimischen selbst errichteten Gebäuden, viele davon sind, um Feuer- und Umweltschutzbestimmungen zu umgehen, nicht einmal mit Schildern versehen. Man schlüpft durch das Tor, zwängt sich gebückt über eine enge Treppe in den ersten Stock hoch und steht mitten in einer Fabrikhalle, die erfüllt ist vom Geruch von Klebstoff, Leder und Plastiksohlen.
In Wu Guichuns Erinnerung gab es dort nur Arbeiter mittleren oder fortgeschrittenen Alters. Diese Kleinfabriken bieten den Arbeitern weder Sozialversicherungsleistungen noch eine Unterkunft. «Jeder, der zwei Hände hat, kann hier arbeiten.»
Anfangs erledigt er Handlangertätigkeiten, wischt den Boden, bringt Sohlen, schleppt Lederrollen. Im Lauf der Zeit lernt er dazu und darf den letzten Produktionsschritt erledigen, das Polieren der Schuhe, bevor sie in die Kartons verpackt werden.
Für das Polieren benötigt er zwei Werkzeuge, eine Maschine mit einem rotierenden Schleifkopf und eine Heissluftpistole. Die erste Maschine entfernt getrockneten Klebstoff und Schmutz von den Schuhen, während die Heissluftpistole überstehende Fäden wegbrennt. Vor dem Polieren liegen mehr als ein Dutzend Arbeitsschritte, weshalb Wu Guichun einen Grossteil seiner Arbeitszeit mit Warten verbringt. Seine Abteilung befindet sich abseits der anderen Arbeitsstationen, neben zahlreichen, mit neuen Schuhen gefüllten Stahlregalen, inmitten von verstaubten Schuhsohlen, Lederresten und anderem Materialabfall.
Dort sitzt er immer allein. Wenn die anderen ihm die fertigen Schuhe bringen, haben sie ihr Tagwerk getan und gehen nach Hause. Yang Li, der Chef der Fabrik, erinnert sich, dass Wu während der Wartezeit seinen Hocker gern in den beleuchteten Korridor zog, um dort zu lesen.
Ein einsames Leben
Die meisten seiner Kollegen sind verheiratete Paare, die zusammen leben und arbeiten. Wu fristet siebzehn Jahre lang ein bescheidenes Dasein, um seinem Sohn zuerst die Schule, dann das Studium und dann den Master zu finanzieren. Für 180 Yuan Monatsmiete wohnt Wu in der billigsten Bleibe, die ihm die Grossstadt bietet, in einem Wohnheim mit geteiltem Bad, in einem winzigen Zimmer, in dem nicht mehr als ein Metallbett und eine Gaskochplatte Platz finden. Auf dem Bett liegen sein Fächer, das Xinhua-Wörterbuch der chinesischen Sprache, eine Lupe, zwei Bücher, eines über gesunde Ernährung und eines über die Prävention hoher Blutfettwerte. Unter dem Bett steht ein Krug mit in Schnaps eingelegten Gojibeeren und Orangenschalen. Das ist seine ganze Habe, die er jederzeit mit zwei Händen und einem Köfferchen transportieren kann, wenn er weggehen will.
Wegen der ohnehin kurzen Winter im Süden hat er sich nie eine Daunenjacke angeschafft. Pro Jahr kauft er etwa drei Sätze Kleidung, ein kurzärmeliges Hemd, ein Paar kurze und ein Paar lange Hosen zu je etwa fünfzehn Yuan; nie gibt er mehr als hundert Yuan im Jahr für Kleidung aus. Das am weitesten verbreitete Kleidungsstück in der Gegend sind Flip-Flops.
Er lebt von etwa dreissig Yuan am Tag, isst mittags und abends in einer der preiswerten Imbissbuden auf der Strasse, wo man für acht Yuan eine grosse Schüssel Nudeln bekommt. Die Inhaberin des Nudelladens, eine Frau aus Sichuan, betreibt ihr kleines Restaurant seit zwanzig Jahren und hat ein Herz für Wanderarbeiter. Einem wie Wu Guichun lädt sie gern eine Extraportion Nudeln in die Schüssel.
Obst hat er sich in den vergangenen siebzehn Jahren selten geleistet. Insgesamt, so sagt er, habe er in dieser Zeit vielleicht vierzig Yuan für Obst ausgegeben.
Wie in China nicht unüblich, kommunizieren Vater und Sohn kaum miteinander. Beide leben allein, fern ihrer Heimat und haben im Leben wenig Zeit miteinander verbracht. Von seinem Gehalt behält er tausend Yuan für sich und bittet seinen Chef, den Rest auf das Konto seines Sohnes zu überweisen, der im Wohnheim der Hochschule wohnt und die Ferien bei der Grossmutter mütterlicherseits verbringt.
Der Einzige, den er einen Freund nennen könnte, ist ein Mann aus Jiangxi, im Südosten Chinas. Sie lernen sich kennen, weil der Mann versehentlich Wus Schnapsglas umstösst. Aus dem daraus folgenden Streit gehen die beiden als Freunde hervor. «Wir waren wie Brüder», sagt Wu Guichun. Vor einigen Jahren dann starb dieser einzige Freund.
Zu Hause in Hubei hat er noch einen Bruder und eine Schwester. Nach dem Tod seiner Eltern liessen sie das alte einstöckige Haus abreissen und ein neues errichten. Inzwischen sind seine Nichten und Neffen erwachsen, und für Wu Guichun gibt es im Haus keinen festen Platz mehr, alles vom Bett bis zum Geschirr gehört den anderen. Er isst dort, wohin er zuerst zum Essen gerufen wird.
In Hubei sind die Winter kalt. Wenn er alle paar Jahre zum chinesischen Neujahrsfest nach Hause fährt, leiht er sich von einem seiner Brüder etwas Warmes zum Überziehen und gibt es zurück, wenn er das Dorf wieder verlässt.
Gerne würde er sich mehr mit anderen unterhalten, aber er findet niemanden. Von seiner Frau ist er zwar noch nicht offiziell geschieden, hat sie aber seit Jahren nicht gesehen. Hin und wieder unterhält sich der Vater des Inhabers der Schuhfabrik mit ihm. Der alte Mann erinnert sich an Wus resignierte Bemerkung: «Älter als sechzig will ich gar nicht werden. Ich habe kein gutes Leben, wozu also lange leben?»
Seine Arbeit in der Fabrik erfordert keine technische Fertigkeit und ist ziemlich unbefriedigend. Ausserhalb der Saison muss er irgendwie die Zeit totschlagen. Während seine Kollegen Karten spielen, einkaufen oder spazieren gehen, fehlt ihm das Geld zum Spielen oder zum Shoppen, «ich werde wohl mein Leben lang wenig Geld haben».
Dann kauft er bei Strassenhändlern ein paar gebrauchte Bücher gegen die Langeweile. Dabei fällt ihm zum ersten Mal im Leben ein abgegriffenes Exemplar des Traums der roten Kammer in die Hände.
Ein Doppelleben
Vor seiner Zeit in Dongguan war Wu Guichun alles andere als ein begeisterter Leser. Etwa zwei Jahre nachdem er angefangen hat, sich an Strassenständen Bücher zu kaufen, empfiehlt ihm ein Kollege, Bücher in der Bibliothek zu leihen. Wu fürchtet, das könnte zu viel kosten oder «dass die sowas wie eine Gebühr für die Klimaanlage erheben». Tatsächlich wohnt er weniger als einen Kilometer von der Bibliothek entfernt. Er wagt einen ersten Besuch, überaus nervös. Schon der Sicherheitsdienst vor dem Eingang macht ihm Angst, denn mit solchen Wachmännern hat er in seiner Anfangszeit im Süden «schlechte Erfahrungen gemacht».
An diesem Tag will der Sicherheitsdienst aber nicht einmal seinen Ausweis sehen. Er spaziert einfach hinein, zieht im zweiten Stock ein Buch aus dem Regal und liest darin, bis es dunkel wird. Auch beim Hinausgehen schenkt ihm niemand Beachtung. Erst jetzt glaubt er, dass die Bibliothek wirklich keine Gebühren erhebt, und macht sich fortan keine Gedanken mehr.
Bei seinem zweiten Besuch bringt er Notizbuch und Stift mit, um sich die Schriftzeichen, die er nicht kennt, zu notieren und sie zu Hause im Wörterbuch nachzuschlagen. Wenn es in der Nebensaison in der Schuhfabrik keine Arbeit für ihn gibt, geht er gleich nach dem Frühstück in die Bibliothek und kommt erst am Abend wieder zurück, ohne etwas zu Mittag gegessen zu haben. «Ich hatte einfach keinen Hunger, vielleicht weil die Klimaanlage perfekt eingestellt war, da verbraucht der Körper weniger Energie. Beim Lesen bewegt man sich auch nicht viel.»
So beginnt Wu Guichuns Doppelleben zwischen der Schuhfabrik und der Bibliothek. Zuerst nimmt er sich die Biografien berühmter Persönlichkeiten vor, danach interessiert er sich zunehmend für Geschichte und Literatur. In China wird die Pinyin-Lautschrift zur Wiedergabe der Aussprache der Schriftzeichen gebraucht. Kennt man die Aussprache eines Schriftzeichens, kann man seine Bedeutung anhand der Lautschrift in einem alphabetisch geordneten Wörterbuch nachschlagen. Wu Guichun hat das Pinyin-System nie gelernt. Er kann Schriftzeichen daher nur anhand ihrer sinntragenden Bestandteile, der sogenannten Radikale nachschlagen (davon gibt es 214). Unter dem jeweiligen Radikal plus der Anzahl der Striche, aus denen das Zeichen besteht, ist im Wörterbuch seine Bedeutung zu finden, was relativ zeitaufwendig ist. Auf diese Weise lernt Wu Guichun über Jahre hinweg im Selbststudium, komplexe klassische Werke, wie Die Frühlings- und Herbstannalen, das Geschichtswerk Spiegel für den weisen Herrscher, die Chroniken der Östlichen Zhou-Dynastie oder Drei Worte und zwei neue Geschichten zu lesen.
Ein Ende als Anfang
Als er an besagtem 24. Juni seinen Bibliotheksausweis zurückgibt, trifft er an der Infotheke auf einen jungen Mann, der sich einen Ausweis ausstellen lassen will. Sie wechseln ein paar Worte und stellen fest, dass sie sich beide sehr für Geschichte interessieren. Die Bibliothekarin Wang Yanjun erinnert sich daran, wie der junge Mann Wu Guichun fragte: «Es gibt so viele Geschichtsbücher, und in jedem steht etwas anderes. Haben Sie sich einmal Gedanken darüber gemacht, welche die Wahrheit sagen und welche nicht?»
«In der Geschichte gibt es keine absoluten Wahrheiten, jeder schreibt über Geschichte so, wie er sie selbst empfindet. Je mehr du liest, desto eher weisst du, welcher Version du Glauben schenken möchtest.»
Die meiste Zeit hat Wu Guichun im Lesesaal im zweiten Stock verbracht, sein Lieblingsplatz war immer das rote Sofa vor der Wand in der nördlichen Ecke. Das Sofa stand neben einer Stahlkonstruktion, und wenn er müde wurde, lehnte er sich gegen den Stahl und döste eine Weile. Kam er etwas später, und sein Lieblingsplatz war bereits besetzt, war er enttäuscht. Von diesem Sofa aus hatte man einen schönen Blick auf die Bäume vor dem Fenster, Mango- und Banyanbäume, Magnolien und Kampferbäume, typische Gewächse dieser Gegend. Das Personal des Lesesaals erinnert sich gut an ihn. Manchmal brachte er sich etwas Brot oder Kekse mit. Doch niemand massregelte ihn, obwohl in der Bibliothek Essen und Trinken verboten sind. «Wir hätten ihn nur ungern gestört, er war immer so konzentriert», sagen sie.
Gegen Jahresende ist die Hauptsaison für die Menschen, die hier im Süden ein Auskommen suchen, vorbei. Noch vor dem Neujahrsfest Ende Januar leert sich das Perlflussdelta praktisch über Nacht, und es wird ruhig in der Stadt.
Nach Hause fahren bedeutet Geld ausgeben, weshalb Wu Guichun in den vergangenen siebzehn Jahren das Neujahrsfest meistens in Dongguan verbracht hat. Sämtliche Kollegen sind über Neujahr nach Hause gefahren. Die an der Hauptstrasse parkenden Autos sind verschwunden. Etwa vierzig Tage lang kommt der Betrieb der Fabrik weitgehend zum Erliegen. In Dongguan gibt es kein Neujahrsfeuerwerk. Ringsum herrscht Stille. Also fährt Wu in die Bibliothek, niemand ausser ihm sitzt im Bus. Er fühlt sich einsam. «Für mich ist es das Natürlichste der Welt, meine freie Zeit lesend zu verbringen. Die Bibliothek ist mein ganzer Lebensinhalt.» Hätte er die vierzig freien Tage nicht Jahr um Jahr in der Bibliothek verbracht, hätte er wohl niemals so viele Bücher gelesen, sagt er.
«Ich hätte nicht gewusst, wie ich Neujahr verbringen sollte, wenn die Bibliothek nicht geöffnet hätte. Die Bibliothek ist meine wahre Welt, mein Schicksal. Alles ist Schicksal.»
Wu Guichun ist zufrieden mit dem, was das Schicksal ihm beschert hat. Wäre er nicht schon zu alt gewesen, um in einer grossen Fabrik zu arbeiten, wäre er niemals in diesem im Niedergang begriffenen Industriegebiet in der Nähe der Bibliothek gelandet, und sein Leben wäre ganz anders verlaufen. Ohne Bücher.
Der Liebesbrief
Am Vorabend der Neujahrsferien 2019 erzählte Wu Guichun seinem Vorgesetzten Yang Li stolz, dass sein Sohn jetzt eine feste Stelle habe und er daher seinen Job in der Schuhfabrik aufgebe. Er wolle sich eine einfachere Arbeit suchen und komme auch mit einem Gehalt von zweitausend Yuan im Monat aus.
Yang Li liess ihn ziehen. Der Handelskrieg zwischen China und den USA erschütterte das produzierende Gewerbe in Dongguan, und von den ehemals hundert Arbeitern in Yang Lis Fabrik war nur noch die Hälfte übrig, weil die Bestellungen eingebrochen waren.
Dann kam im Februar 2020 die Pandemie und brachte jedermanns Pläne durcheinander. Wu Guichun, der im Februar eigentlich nach Dongguan zurückkehren wollte, um eine einfache Arbeit zu finden, blieb bis Juni bei seinem Bruder wohnen. Yang Lis Fabrik, die für gewöhnlich spätestens ab April den Betrieb wieder aufgenommen hätte, erhielt bis Mitte Juni keine einzige Bestellung aus dem Ausland.
Unvorhergesehene Ereignisse und makroökonomische Entwicklungen bestimmen das Schicksal der Wanderarbeiter. Die kleinen Schuhfabriken schliessen eine nach der anderen. «Wer sein Geschäft verloren hat, macht kein neues auf, und wer bankrott ist, bleibt bankrott», berichtet Yang Li. Früher gab es in Dongguan zahlreiche Fahrer, die ihre Chefs chauffierten, mittlerweile müssen die meisten sich als Fahrer von Taxis oder inoffiziellen Mitfahrgelegenheiten über Wasser halten.
Anfang April 2020 wurde der Lockdown in Wuhan aufgehoben. Arbeiter mit offiziellen Arbeitsbescheinigungen ihrer Betriebe durften sich Zugtickets kaufen. Eine kleine Schuhfabrik wie Wu Guichuns konnte solche Zertifikate nicht ausstellen, und er musste bis zum 23. Juni warten, zwei Tage vor dem Drachenbootfest, bis er nach Dongguan zurückkehren durfte.
Seine Miete hatte er für fünf Monate im Voraus bezahlt, am 26. Juni würde die nächste Miete fällig. Vor seiner Rückkehr hatte er sich telefonisch bei Bekannten in Dongguan nach der Lage erkundigt und erfahren, dass die meisten Schuhfabriken geschlossen waren und seine ehemaligen Kollegen keine Arbeit mehr fanden. Seine Aussichten, dort noch einmal eine Anstellung zu finden, waren gering. Er nahm sich vor, sein Zimmer und seinen Bibliotheksausweis zurückzugeben und künftig in seiner Heimatstadt ein kleines Auskommen zu suchen.
Es ist der 24. Juni um die Mittagszeit, als Wu Guichun an der Ausleihtheke der Bibliothek im Erdgeschoss steht und seinen Ausweis zurückgeben will. An diesem Tag hat die Bibliothekarin Wang Yanjun Dienst. Wu Guichun steht vor ihr, zögert, behält seinen Bibliotheksausweis unschlüssig in der Hand.
«Was ist los?», fragt Wang Yanjun. «Es fällt mir schwer, den Ausweis zurückzugeben.», antwortet Wu. «Seit 2008 komme ich zum Lesen in diese Bibliothek, jede Menge Bücher habe ich gelesen. Würde ich eine neue Arbeit finden und müsste ich nicht nach Hause zurück, dann würde ich niemals den Ausweis abgeben.»
An der Ausleihtheke werden tagtäglich zahllose Bibliotheksausweise ausgestellt und zurückgegeben. Die Stosszeiten sind in dieser Bibliothek etwas anders als in anderen Landesteilen. Kurz vor dem Neujahrsfest geben zahlreiche Wanderarbeiter ihre Ausweise zurück, um das Pfand dafür wiederzubekommen. Je nach Dauer zahlt man hundert, zweihundert oder dreihundert Yuan. In dieser Zeit müssen die Bibliothekare täglich mehrere tausend Yuan Bargeld vorrätig haben. Nach dem Frühlingsfest kommen dann viele wieder und holen sich neue Ausweise.
Die meisten Nutzer erledigen das schnell und schweigsam. Noch nie in ihren sechzehn Jahren als Bibliothekarin hat Wang Yanjun einen Nutzer erlebt, der so sehr an seinem Bibliotheksausweis hing wie Wu Guichun.
Dieser Nutzer hat für sie etwas Besonderes. Sie zieht ein Blatt Papier hervor, legt es ihm hin und bittet ihn, einen Brief für das Gästebuch der Bibliothek zu hinterlassen.
Wu Guichun denkt ein paar Minuten darüber nach, was er schreiben soll. Er ist gelassen. Für ihn steht bereits fest, dass er hier keine Arbeit mehr finden wird.
Dann schreibt er. Die letzten Sätze lauten: «Wenn ich an mein Leben in den vergangenen Jahren zurückdenke, war die Bibliothek der beste Ort für mich. Mir fällt es furchtbar schwer zu gehen, aber so ist das Leben. Ich werde dich niemals vergessen, liebe Bibliothek Dongguan.»
Er verlässt die Bibliothek. Yanjuns Kollegin Huiting kommt aus der Mittagspause zurück, und Yanjun zeigt ihr den Brief. «Das ist ja ein regelrechter Liebesbrief!», sagt Huiting. Sie fotografiert den Brief ab und teilt das Bild im internen Netzwerk der Bibliothek.
Ein neues Leben
In den darauffolgenden vierundzwanzig Stunden geht Wu Guichuns Schreiben viral; es verbreitet sich wie ein Lauffeuer über die sozialen Netzwerke und die Presse und generiert unzählige Leserkommentare. Wu Guichun weiss von alldem nichts.
Am Morgen des 25. Juni leiht er sich ein E-Bike und tourt damit die Gegend um Xinji im Süden der Stadt ab, er hegt noch immer einen Funken Hoffnung und sucht nach Arbeitsangeboten. Vergeblich.
Doch sein Brief an die Bibliothek hat innerhalb eines Tages sein Schicksal geändert. Nach dem Mittagessen rufen plötzlich zahlreiche Journalisten bei ihm an, «Sie sind eine Internet-Berühmtheit!», erklären sie. «Ich hatte keine Ahnung, wovon die reden», sagt Wu Guichun. «Ich habe nur die Anrufe angenommen, ich wusste nicht, was ich sonst tun soll.» Als sein Sohn vor zwei Jahren eine Stelle fand, schenkte er seinem Vater ein Smartphone. Wu Guichun kennt sich kaum aus mit dieser Sorte von Geräten. Abgesehen von Nachrichten der Bibliothek hat sich bisher so gut wie nie jemand bei ihm gemeldet. «Ich bin nur ein einfacher Mensch», sagt er.
Am Abend erhält er einen Anruf vom lokalen Arbeitsamt. Der Anrufer fragt, welche Art von Arbeit ihm vorschwebe, denn sie seien auf der Suche nach einem passenden Job für ihn, damit er in Dongguan bleiben könne. Er antwortet, dass er am liebsten wieder in einer Schuhfabrik arbeiten würde. Tags darauf hat das Amt eine Stelle in einer grossen Schuhfabrik in Houjie am anderen Ende der Stadt für ihn aufgetan, aber Wu Guichun möchte nicht so weit weg von der Bibliothek arbeiten. Inzwischen hat die Dongguan Everbright Immobilien sich beim Arbeitsamt gemeldet und bietet ihm einen Job zur Instandhaltung einer Grünanlage im Bezirk Jinghu Garden an, im Süden der Stadt, nur zwei Kilometer entfernt von der Bibliothek. Wu Guichun willigt ein und bleibt in Dongguan. Am 26. Juni verlässt er sein Wohnheimzimmer, in dem er siebzehn Jahre lang gewohnt hat, und zieht in das Angestelltenwohnheim von Everbright Immobilien ein. Das Schicksal meint es gut mit Wu Guichun, dessen Leben sich schlagartig verändert hat.
Das Asyl
Wu Guichuns Brief lenkt den Blick aber auch auf die öffentlichen Bibliotheken, die lange Zeit alles andere als im Fokus der Aufmerksamkeit standen. Das System der öffentlichen Leihbibliotheken entstand im 19. Jahrhundert als Anlaufstelle für die Bedürfnisse der Arbeiterschaft. Dahinter stand die soziale Idee, jedermann Wissen zugänglich zu machen.
Li Donglai kommt 2002 aus Nordchina nach Dongguan. Nach seinem Abschluss in Bibliotheks- und Informationswesen an der Peking-Universität wird er mit 34 Jahren Vizedirektor der Bibliothek der Provinz Liaoning. Schon kurz darauf, im September 2002, wird er wegen «hervorragender Talente» zum Direktor der neu gegründeten Dongguan-Bibliothek ernannt.
Der Neubau beginnt 2002, und im September 2005 öffnet die Dongguan-Bibliothek ihre Türen. Am 27. Juni desselben Jahres sagte Li Donglai in einem Fernsehinterview: «Dongguan hat eine hohe Zahl von Wanderarbeitern, die Fluktuation ist hoch, und wir hoffen, dass wir diesen Menschen einen umfassenden, freien und gleichen Bibliotheksservice bieten können.» Zum Motto der Bibliothek werden die drei Worte: Freizeit, Austausch, Wissen. So mancher habe damals nicht verstanden, warum die Bibliothek nicht «Wissen» an die erste Stelle ihres Mottos stellte. Li Donglai erläuterte mehrfach seine Idee von «Freizeit»: «Es ist nicht wichtig, ob der Nutzer die Bücher liest oder nicht, Hauptsache, er kommt erstmal zu uns. Vielleicht kommt er herein, ohne zu wissen, was für ein Ort das ist, und sieht sich einfach ein bisschen um. Die Leute können tun und lassen, was sie möchten. Solange sie niemanden stören, ist es völlig in Ordnung, wenn sie nicht lesen.»
Die Bibliothek ist, inmitten des Verwaltungszentrums der Stadt gelegen und umgeben von öffentlichen Plätzen, Grünanlagen, Museen und Regierungsgebäuden, in den heissen Sommern des Südens eine Oase mit Klimaanlage und Leseecken. Ein Ort zum Ausruhen.
Was benötigt ein normaler Mensch für den Eintritt in die Bibliothek? «Nichts», sagt Mo Qiyi, verantwortlich für den Leserservice der Bibliothek. «Vor der Pandemie hatten wir nicht einmal Ausweiskontrollen, wer nichts ausleiht, braucht keinen Bibliotheksausweis. Man kann hereinkommen, ein Buch aus dem Regal nehmen und lesen.»
Ursprünglich mussten die Nutzer der alten Bibliothek Bücher mit Namen und Buchnummer an der Ausleihe bestellen. Das bedeutet für das Personal den geringsten Arbeitsaufwand. Zur Neueröffnung führte Li Donglai frei zugängliche Regale ein – und es regnete Beschwerden vonseiten des Personals. «Jedermann kommt, zieht Bücher aus dem Regal und stellt sie anschliessend irgendwohin zurück. Das Personal muss das Durcheinander wieder aufräumen.»
Aber Li Donglai blieb hartnäckig. «Das ist eine Menge Arbeit, aber unser Anspruch ist es, immer weiter in Richtung Offenheit zu gehen. Die Nutzer mögen Chaos anrichten, aber wir sollten wissen, wo die Bücher hingehören. Wissen wir das nicht, müssen wir uns ein besseres Ordnungssystem überlegen, darin besteht schliesslich der Job von Bibliothekaren.» Mitarbeiterin Wang Yanjun erinnert sich an eine Diskussion, in der Li Donglai erklärt habe: «Die Nutzer bedienen sich an den Regalen wie in einem Supermarkt. Sie ziehen hier und dort ein Buch heraus. Aber wenn man im Supermarkt den Wagen voll hat und drei Sachen zurückstellen will, stellt man sie auch ab, wo man will.»
«Ich nicht», habe ein Mitarbeiter geantwortet.
«Das ist löblich», habe Li Donglai entgegnet, «aber es ist auch kein Verbrechen, sich anders zu verhalten. Dann ist man eben kein perfekter Kunde oder Nutzer, ohne dass jemand einem Vorhaltungen macht.»
Seit 2011 schreibt die chinesische Regierung für die lokale Bevölkerung freien Eintritt in Kunstmuseen, Kulturzentren und öffentliche Bibliotheken vor, aber der Besuch der Dongguan-Bibliothek ist schon seit der Eröffnung des Neubaus 2005 offen, gratis und barrierefrei. Hier entstand auch die erste 24-Stunden-Selbstservice-Ausleihe Chinas. Die Sommer in dieser Region sind lang, und viele Leute sind bis zehn Uhr abends noch draussen. Nutzer schrieben Nachrichten, in denen sie die frühe Schliessung um neun Uhr abends beklagten, und baten darum, die Bibliothek rund um die Uhr zu öffnen, so wie Unibibliotheken.
Es seien die kleinen Details in Li Donglais Art, die sie und ihre Kollegen beeinflussten, sagt Wang Yanjun. «Deshalb ist hier jedermann bemüht, den bestmöglichen Service für die Nutzer zu bieten.»
Lesen und Leben
Die Bibliothek liegt am Übergang von der alten zur neuen Stadt. An der Hongfu Lu, der wichtigsten Verkehrsader der Stadt, befinden sich das Gebäude der Stadtverwaltung und die Dongguan-Messehallen. Auf dem grossen Platz vor der Bibliothek stehen zwei Säulen mit der Aufschrift «24-Stunden-Selbstbedienungs-Bibliothek».
Neben dem Hauptgebäude inmitten der zentrumslosen urbanen Landschaft verfügt die Bibliothek über zweiundfünfzig Nebenstellen, die über die ganze Stadt verteilt sind. Nutzer können mit dem Ausweis an jeder beliebigen Zweigstelle Bücher ausleihen und zurückgeben. Um den Industriearbeitern die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr zu ersparen, bietet die Bibliothek zusätzlich 102 mobile Ausleihstationen an. Nebenher gibt es seit 2005 kostenlosen Kantonesisch-Unterricht, auch das auf Bitten der Nutzer hin. Der Kurs hat noch immer regen Zulauf.
Jedes Jahr im Sommer spucken die Züge, die in den Städten des Perlflussdeltas halten, zahlreiche Kinder aus den Zentralprovinzen des Landes aus. «Kleine Wandervögel» nennen die Medien diese Kinder, die weite Strecken reisen, um ihre im Süden arbeitenden Eltern wiederzusehen. Vor drei Jahren rief Wang Yanjun zusammen mit ihren Kollegen einen digitalen Sommer-Leseworkshop für diese Kinder ins Leben. Sie brachten den jungen Menschen den Umgang mit Computern bei und einfaches Programmieren. Ausserdem helfen sie in ihren digitalen Lesesälen Wanderarbeitern, die keinen eigenen Internetzugang besitzen, bei der Buchung von Zugfahrkarten, um zum Frühlingsfest nach Hause zu reisen. Vor dem Südeingang der Bibliothek stehen drei grosse, runde Tische, drei grosse Sonnenschirme und zwölf Liegestühle – ein Pausenbereich, den sich die Nutzer vor ein paar Jahren gewünscht haben.
An einem Samstagmittag im Juli ist dieser Bereich gefüllt mit Nutzern, die hier ihr mitgebrachtes Essen verzehren. Unweit davon, vor dem Treppenaufgang, stehen Buden, an denen man Kokosnüsse, Fladenbrot, Gegrilltes, Sushi oder kalte Nudeln nach Sichuan-Art kaufen kann.
Diese lebendige Atmosphäre sind die Mitarbeiter der Bibliothek gewohnt. Seitdem die Bibliothek rund um die Uhr geöffnet hat, schlafen manche Leute sogar darin. «Natürlich zieht es Leute an, dass der Zugang umsonst ist und es Wasser und eine Klimaanlage gibt», sagt Wang Yanjun. «Aber es ist uns wichtig, dass die Menschen wissen: Es gibt einen Ort wie diesen, an dem man zur Not auch die Nacht verbringen kann.»
Unter den Menschen, von denen sie weiss, dass sie schon in der Bibliothek genächtigt haben, amüsierte sie der Fall eines Geschäftsmanns aus Taiwan. Er kam mit einem teuren Koffer in der Hand, ging in die Bibliothek, und nach Infothekenschluss übernachtete er im 24-Stunden-Bereich. «Er sagte, er habe seinen Ausweis verloren. Er war recht akkurat gekleidet, vielleicht ein bisschen angeschmuddelt. Seinen Koffer stellte er kurzerhand im Putzraum ab, was den Putzdienst einigermassen schockiert hat. Zwei oder drei Monate lang hat er in der Bibliothek gewohnt. Sie bot ihm vorübergehend Asyl. Irgendwann halfen ihm dann die Bibliothekare, Kontakt zur Taiwan-Business-Vereinigung aufzunehmen. Tags darauf packte er seinen schicken Koffer und verschwand.»
Jeder ist willkommen
In den sechzehn Jahren, in denen Wang für die Bibliothek gearbeitet hat, sei es immer wieder passiert, dass Nutzer zur Infotheke kommen und sich darüber beklagen, «der Typ neben mir am Lesetisch stinkt so furchtbar, es ist nicht auszuhalten». Dann gehe sie hin und sehe nach, helfe demjenigen, der sich beschwert hat, einen anderen Platz zu finden. «Wie wäre es da drüben, das sieht doch gut aus. Ich helfe Ihnen, Ihre Sachen hinüberzubringen. So müssen Sie nicht mehr neben ihm sitzen.»
Im fünften Stock gibt es ein Duschzimmer, und es gab den Vorschlag, bei Beschwerden den «stinkenden» Nutzern anzubieten, die Dusche zu nutzen. Aber nach kurzer Diskussion wurde die Idee verworfen. «Jemanden aufzufordern, sich zu duschen, wäre irgendwie respektlos.»
Über einen Nutzer in der Bibliothek gab es besonders häufig Beschwerden, «er machte den Eindruck eines Landstreichers», sagt Wang Yanjun, «in der Regel wirkte er stabil. Er las gerne und verbrachte viele Jahre allein lesend im Lesesaal. Aber hin und wieder brauste er unvermittelt auf und redete ununterbrochen auf seine Nachbarn ein oder führte laute Selbstgespräche.»
In der Bibliothek gibt es ein Ruhezimmer. Wenn er einen seiner Ausfälle hatte, gingen Wang Yanjun und ihre Kollegen auf ihn zu und brachten ihn dorthin, bis er sich beruhigt hatte. «Wir geben ihm ein Glas Wasser zu trinken, und damit ist es dann auch schon wieder gut, das sind nur vorübergehende Anfälle.» Dem Team der Bibliothek komme es gar nicht in den Sinn, solche Nutzer auszuschliessen. «Das würden wir nicht machen. Erstens hätten wir gesetzlich gar nicht das Recht dazu, und zweitens ist es nicht nötig, diese Anfälle treten nur gelegentlich auf.»
Wang Yanjun hat den Mann seit einer Weile nicht gesehen, denn mit der Pandemie kamen strenge Ausweis- und Gesundheits-Regeln. Vor ein paar Tagen trafen sie ihn zufällig vor dem Eingang. Da er kein Smartphone besitzt, konnte er den nötigen QR-Code mit dem Gesundheitsnachweis nicht vorzeigen.
Eine Mutter und ihre Tochter haben unter den vielen Nutzern, die Wang im Laufe der Jahre kennengelernt hat, einen besonders tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen. Die beiden tauchten eines Tages in der Comic-Abteilung der Bibliothek auf, das Mädchen war etwa fünf oder sechs Jahre alt, wirkte ungewaschen, die Hände schwarz vor Dreck. Sie sei mit ihrer Tochter von zu Hause weggelaufen, weil ihr Mann sie ständig geschlagen habe, erzählte die Frau. Die beiden schliefen im 24-Stunden-Bereich, und die Mitarbeiter kauften ihnen jeden Tag ein Mittagessen.
Wang Yanjun mochte das kleine Mädchen. Einmal fertigte Wang eine Bleistiftzeichnung für die Kleine an, und anderntags kam das Mädchen mit zwei puddinggefüllten Teilchen, die sie wer weiss woher hatte, zu ihr, legte eins davon auf Wangs Servicetheke ab und rannte davon.
Mutter und Tochter verbrachten bestimmt eine Woche in der Bibliothek, während das Kollegium sich Gedanken darüber machte, wie sie der Frau helfen könnten. «Wir würden gern für Sie bei der Sozialfürsorge anrufen», schlug Wang Yanjun der Frau vor, die darauf nur mit einem verlegenen Lächeln antwortete. Am nächsten Tag waren Mutter und Tochter verschwunden.
Zehn Jahre sind seitdem vergangen, und Wang Yanjun lässt die Geschichte immer noch nicht los. Sie macht sich Vorwürfe. Vielleicht hätte sie besser nichts von der Sozialfürsorge gesagt? «So oder so bin ich nicht richtig mit der Situation umgegangen. Ich hätte mir mein Vorgehen besser überlegen müssen.»
«Die Gesellschaft braucht solche öffentlichen Räume, Räume ohne Zugangsbeschränkungen, gratis und ohne Ausweiskontrolle. Ein Ort, den jedes Mitglied der Gesellschaft gelassen betreten kann und innerhalb dessen Rahmen man die Ressourcen und die Unterstützung bekommt, die man braucht», sagt der Kommunikationswissenschaftler Fan Bingsi.
In Wirklichkeit aber haben öffentliche Bibliotheken in China die Ideen der freien und gleichen Teilhabe, aus denen sie geboren wurden, lange Zeit nicht in die Praxis umgesetzt.
In den 1990er Jahren ermunterte die Staatsregierung die Bibliotheken dazu, Dienstleistungen gegen Bezahlung anzubieten, um rentabel zu wirtschaften. «Daher erhoben viele Bibliotheken Ausleihgebühren. Ohne Geld kam man gar nicht hinein.» Fan Bingsi hat zahlreiche Artikel veröffentlicht, in denen er diese Praxis kritisiert.
Noch auf einer Konferenz zu Bibliotheks- und Informationswesen 2004 hörte Li Donglai viele Kollegen von ihren guten Erfahrungen mit bezahlten Dienstleistungen schwärmen, «ohne zu erkennen, wie das Konzept von finanziellen Privilegien die chinesische Gesellschaft verändert», wie er sagt. «Wir möchten jeden, der in unsere Bibliothek kommt, jeden, der nach Dongguan kommt, gut behandeln. Das verstehen wir unter Gleichheit.»
Ein Zweig und ein Baum
Wu Guichun besitzt bis heute ein Notizbuch. Es war der Preis, den er bei seiner Teilnahme am Wissenswettbewerb der Bibliothek zum chinesischen Neujahrsfest 2011 gewonnen hat. In diesem Notizbuch, das er seither aufbewahrt hat, hat Wu Guichun auch sein Einkommen während der Jahre in Dongguan aufgelistet. 2014: März 4400 Yuan, April 6800 Yuan, Mai 8000 Yuan, Juni 4000 Yuan, Juli 4300 Yuan, August 6000 Yuan, September 5600 Yuan, Oktober 7300 Yuan, November 6400 Yuan, Dezember 4600 Yuan, Januar 8000 Yuan. 2015: März 3100 Yuan, April 6700 Yuan, Mai 3700 Yuan, Juni 4600 Yuan, Juli 7600 Yuan, August 7600 Yuan. 2014 und 2015 waren die beiden Jahre, während derer sein Sohn sein letztes Schuljahr und sein erstes Jahr an der Uni bestritt. «Ohne diese beiden Jahre wäre ich nicht in der Lage gewesen, meinem Sohn die Ausbildung zu bezahlen.» Wu Guichun sparte in dieser Zeit 100 000 Yuan für seinen Sohn zusammen. Er sieht sich selbst als jemanden, dem es nicht schwerfällt, die Härten des Lebens zu überstehen. Er hat viele Jahrzehnte lang geschuftet und meist von der Hand in den Mund gelebt.
Für ihn ist das Schicksal. Er hatte immer im Sinn, ein Verspaar zu schreiben, wie man es sich als Motto rechts und links neben den Türrahmen hängt. Die eine Zeile sollte lauten: Kleiner Wohlstand kommt von harter Arbeit und lässt sich mit der gebündelten Kraft der Familie gut erreichen. Und die andere Zeile: Grosser Wohlstand kommt vom Schicksal, gehen die Geschäfte gut, steigt auch der Wohlstand. Da er aber nie eine eigene Wohnung hatte, hat er es bis heute nicht geschrieben.
Je mehr Wu Guichun in den letzten Jahren gelesen hat, umso klarer sieht er. Aber er ist alt geworden. Oft denkt er: «Es ist zu spät, um dieses Buch zu lesen.» Wenn er früher, in jungen Jahren mit dem Lesen begonnen hätte, als er nichts zu tun hatte und Vögel fangen oder angeln ging, wenn er gelesen hätte, bevor er zum Wanderarbeiter wurde, dann wären seine Lebensumstände heute vielleicht andere. «Aber das ist Schicksal. Ich kann nicht noch einmal von vorn anfangen.»
Im Lauf der Zeit fühlte sich Wu Guichun im Süden immer mehr beheimatet und zugehörig. «Der Süden ist offen, er nimmt Menschen von ausserhalb auf, wie ein Meer, in dem alle Flüsse zusammenfliessen, er vermittelt das Gefühl von Grösse und Weite.»
Wu Guichun mag die Region um Dongguan. Wenn er zum Frühlingsfest in den Norden zurückkehrt, werden die Bäume kahl sein, ohne ein Blatt. Es wird wieder Frost und Schnee geben, die Luft kälter als in einem Kühlschrank. Im Süden grünt und blüht es rund um das Jahr. Es gibt reichlich Sonnenschein und Regen. Von den hohen Banyanbäumen mit dem üppigen Blattwerk hängen die Luftwurzeln, und ihre Erdwurzeln brechen den Strassenbelag auf. Wer einmal hier war, sagt gern, dass man in dieser Gegend nur einen Zweig in die Erde stecken muss, und im nächsten Jahr ist ein Baum draus geworden.
Aus dem Chinesischen von Karin Betz.