American Paranoia

Ein Land rüstet sich gegen Amokläufe: Die Schule wird zur Festung, bei einer Rettungsübung fliesst Kunstblut.

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Zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten vor seinem Amoklauf braucht John «Chip» Bancroft nur noch eins: Blut. Nicht das hellrote aus den oberen Hautschichten, sondern das dunklere, sauerstoffarme Blut, das bei grossen, tiefen Wunden aus dem Körper austritt. Nach Schüssen in Oberschenkel, Bäuche und Köpfe, die Kinder und Jugendliche auf einem Softballfeld der Mattituck High School bald treffen werden. 

Wie ein Alchimist hat sich Chip an diesem frühen Morgen über einen Klapptisch gebeugt und rührt mit einem Holzlineal eine breiige Masse in Tupperdosen an. Vor ihm stehen eine Anderthalb-Liter-Flasche Hershey’s Sirup mit Schokoladengeschmack, Maissirup, Spülmittel, zerdrückte weisse Eierschalen und rote und blaue Lebensmittelfarbe. Chip trägt ein rotes Poloshirt mit der Aufschrift «Operation Local Tragedy», dazu ein dunkelblaues Basecap, das sein schütter werdendes, dunkelblondes Haar verdeckt. Sein Berufsleben als Kommandant verschiedener Freiwilliger Feuerwehren auf der Halbinsel Long Island im Bundesstaat New York hat ihm stattliche Brustmuskeln beschert, Polster haben sich mittlerweile aber auch um die Hüften des 62-Jährigen gelegt, der mit rauer, warmer Stimme Entscheidungen trifft.

Aus der Tasche seiner Cargohose wühlt Chip sein Handy hervor und flippt durch die Fotos bis zu seinem Rezept. Theaterblut wäre wohl auch gegangen, ist aber unpraktisch, weil schwer auszuwaschen, sagt Chip, und auf Youtube fand er kein Tutorial, das ihm gut genug erschien. Also experimentierte er selbst. Mittlerweile muss er die schokoladenbraune Flüssigkeit nur noch selten mit blauer Lebensmittelfarbe aufhellen. Er hat die perfekte Mischung gefunden, inklusive Eierschalen, die wie echte Knochensplitter aussehen. Und darum geht es Chip, es soll möglichst realistisch wirken. 

Er hat an diesem vorletzten Wochenende der Sommerferien ein Horrorszenario geplant, das jederzeit bittere Realität werden kann: ein Amoklauf an einer Schule. Sobald Rettungskräfte und Polizisten am Tatort eintreffen, soll Chips Szenario sie überwältigen. Logistisch. Psychologisch. «Ich will den ‹Ach du Scheisse, was ist hier los?›-Ausdruck auf ihrem Gesicht sehen», sagt Chip. Der Einsatz soll sie genau vor die qualvollen Entscheidungen stellen, die sie auch in Wirklichkeit treffen müssten, sobald klar ist, dass vom Täter keine Gefahr mehr für sie ausgeht: Wie können sie möglichst schnell möglichst viele Opfer versorgen? Und wen müssen sie wegen einer lebensgefährlichen Verletzung im Zweifel sterben lassen, um andere Leben retten zu können?

Am 20. April 1999 betraten zwei Zwölftklässler eine ganz normale High School in Littleton im Bundesstaat Colorado. Sie platzierten selbstgebaute Bomben im Gebäude, die nicht explodierten, dann eröffneten sie mit einem Karabinergewehr, einer halbautomatischen Pistole und zwei Schrotflinten das Feuer, erschossen innerhalb einer Stunde zwölf Schüler und einen Lehrer, ehe sie sich nach einem Schusswechsel mit der Polizei in der Bibliothek selbst töteten. Das Massaker von Columbine war der Schulamoklauf in der jüngeren Geschichte der USA, der alles veränderte: Seither hat sich das Land den Kopf darüber zerbrochen, was zu solchen Taten führt: die Musik von Marilyn Manson und Ego-Shooter-Spiele? Mobbingerfahrungen und psychische Erkrankungen? Die vielen Schusswaffen in Privatbesitz und die laxen Waffengesetze? Weil die politisch entzweite Nation zu keinen gemeinsamen Antworten findet, treibt sie, so der Eindruck, umso mehr um, wie Schulamokläufe verhindert werden können. Doch obwohl Politik, Polizeibehörden und Gesellschaft immer grössere Anstrengungen auf sich nehmen und mittlerweile Milliarden von Dollar für Sicherheitsmassnahmen ausgeben, nimmt die Zahl der Vorfälle nicht ab, sondern dramatisch zu – gerade in den letzten sechs, sieben Jahren. Seit Columbine hat es rund 400 Angriffe mit Schusswaffen an Schulen oder deren Umfeld gegeben, bei denen 650 Schüler und Lehrer getötet wurden. Mehr als 360 000 Kinder und Jugendliche haben in diesem Zeitraum die Erfahrung von Waffengewalt an ihrer Schule gemacht, rechnet die Washington Post vor. Es gehört aber auch zur Wahrheit, dass nicht einmal bei den Zählmethoden Einigkeit herrscht. 

Von aussen betrachtet, ist es das Recht auf Waffenbesitz, das die USA zu zerreissen droht. Das Second Amendment, der 2. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung aus dem Jahr 1791, verbietet es, den Besitz und das Tragen von Waffen bei Bürgern einzuschränken. Er gilt als historische Errungenschaft aus der Phase der Nationenbildung und ist für die meisten Amerikaner ein unveräusserliches Freiheitsrecht – wie viele ihrer Landsleute auch durch Schusswaffen sterben mögen. Allein im Jahr 2023 waren es über 40 000. Schusswaffen sind auch bei Kindern und Jugendlichen noch vor Krebs und Verkehrsunfällen die häufigste Todesursache. Dennoch sind die Waffengesetze vor allem in den republikanisch dominierten Bundesstaaten seit 2008 gelockert worden. Damals hatte ein Grundsatzurteil des Supreme Court die Bedeutung des Second Amendment gestärkt und das Recht auf privaten Waffenbesitz gegen Regulierungsversuche aus Washington verteidigt. Dort sind nur noch Minimalkompromisse möglich, ein landesweites Verkaufsverbot von Sturmgewehren und Maschinenpistolen, das zwischen 1994 und 2004 existierte, gilt heute politisch als nicht mehr durchsetzbar. 

Und so vollziehen sich nach Amokläufen mittlerweile eingeübte Rituale: Hinterbliebene schliessen sich in Trauer zusammen und fordern schärfere Gesetze, Politiker senden «thoughts and prayers». Und alles bleibt, wie es ist. In einer landesweiten Umfrage waren zuletzt 63 Prozent der Amerikaner mit der Ausgestaltung der Waffengesetze unzufrieden, ein neuer Höchstwert. 

All diese Diskussionen helfen nicht weiter, sagt Chip. «Ich kann mich nicht um Politik kümmern, sondern nur um die Sicherheit unserer Kinder. Wir wollen bestmöglich vorbereitet sein.» Während er weiter in seiner breiigen Masse rührt, über vier Liter Kunstblut werden es schliesslich sein, steigen die ersten Teilnehmer der Übung aus den Wagen ihrer Eltern. Die laufenden Motoren der Autos zerschneiden die Stille in der Nachbarschaft. Freistehende Häuser mit beiger Fassade oder minzgrüner Holzverkleidung verstecken sich hinter geschnittenen Hecken und weit ausladenden Blutbuchen, auf penibel geschnittenen Rasen stehen Trampoline, schlummern Kinderfahrräder. Ein Idyll an der nördlichen Spitze der fast 200 Kilometer langen Halbinsel. Die Gemeinden hier sind zwar nicht so reich und mondän wie die Orte auf der anderen Seite der Peconic Bay, in den Hamptons, wo Hollywood-Schauspieler, Popstars und Börsenmilliardäre in ihren Luxusanwesen leben. Aber auch Mattituck mit seinen 5000 Einwohnern ist sehr weiss, sehr alt und in Relation zum gesamten Bundesstaat New York überdurchschnittlich reich. 

An der High School des Ortes soll an diesem Tag im August folgendes Szenario simuliert werden: Während eines Spiels auf dem Softballfeld erfolgen nacheinander zwei Explosionen. Ein fiktiver Attentäter eröffnet unvermittelt das Feuer, verletzt die minderjährigen Spieler und Zuschauer, bevor er sich in der Schule, einem viktorianischen Backsteingebäude mit weiss gestrichenen Fensterfronten, verschanzt.Dort wird er in einer gesonderten Übung von einem Mann gespielt und von der Polizei überwältigt. Chip ist der Nachbar, der von dem Knall aufgeschreckt wird und den mit den Behörden abgesprochenen Notruf absetzt.

Er will wissen, ob die beteiligten Hilfspolizisten, die Patrouillen, Verkehrskontrollen und Präsenzdienste bei Veranstaltungen von der Berufspolizei übernehmen, auch wirklich Ausschau nach dem Amokläufer und weiteren Sprengsätzen halten, bevor sie das Softballfeld für die heranrückenden Rettungskräfte freigeben. Jahrelang leitete er die Freiwilligen Feuerwehren von Westhampton Beach und Eastport, sass im Komitee für Kriseneinsätze des Staates New York und riskierte als Feuerwehrmann sein Leben. Chip weiss: Wie in so vielen kleinen Gemeinden in den USA reichen die Behandlungskapazitäten in den Krankenhäusern in der näheren Umgebung von Mattituck bei einer Grosslage wie einem Amoklauf nicht aus, es gibt zu wenig Operationssäle und zu wenig Blutkonserven. Deshalb müssen sämtliche Kräfte zusammenarbeiten, unter Zeitdruck, unübersichtlichen und potenziell traumatisierenden Bedingungen. Kann das funktionieren?

Schon während seiner Zeit als Kommandant plante er die ersten Amokübungen, um das Jahr 2013 war das, als der Amoklauf von Sandy Hook auf den Herzen der Amerikaner lastete. In Newton, einer Kleinstadt hundert Kilometer nördlich von New York, war ein 20-Jähriger mit dem Sturmgewehr seiner Mutter über eine von ihm durchschossene Eingangstür in seine ehemalige Grundschule eingedrungen und hatte zwanzig Erstklässler und sechs Schulangestellte getötet. Dann bekam Chip die Anfrage aus Greenport, einer Nachbargemeinde von Mattituck. Ob er mit seiner mittlerweile gegründeten Firma Firehouse Training Plus ein Übungsszenario für den Amoklauf an einer Schule entwickeln könne? Go big or go home, dachte er sich. Vier Monate lang plante er die Übung für insgesamt 300 Beteiligte. Keine zwei Wochen bevor sie im Juni 2022 stattfand, kletterte in Uvalde, einer Kleinstadt in Texas, ein 18-Jähriger über den Schutzzaun seiner ehemaligen Grundschule, betrat das Gebäude über eine nicht verschlossene Hintertür und tötete neunzehn Kinder und zwei Lehrer.  

Nachdem Chip den Helfern das Blut zum Schminken übergeben hat, spricht er mit dem Filmteam, das für den Kabelfernsehsender HBO einen Dokumentarfilm über die Übung dreht. Er kümmert sich um Sonnencrème und erinnert die Helfer daran, die Opfer mit den schwersten Verletzungen am Zugang zum Sportfeld zu platzieren, die Wunden der Kinder mit einem Schwamm erneut rot einzufärben und genug Wasserflaschen zu verteilen. Dann blickt er über die weite Rasenfläche mit den Sportplätzen der Schule, wo ein Rettungshubschrauber aufgesetzt hat und die Flagge der USA an einem silberfarbenen Fahnenmast am Rand des Grüns baumelt. Er blinzelt hinüber zu einem Drehleiterfahrzeug der Feuerwehr, auf dem sich ein Kameramann in Stellung gebracht hat, und greift dann zu seinem Handy. Er schaut auf die Uhr. Es ist 9 Uhr 45. Chip wählt 911.

Am Rand des Innenfeldes liegt ein Teenager auf dem Rücken, in roten, knielangen Shorts und azurblauem T-Shirt. Die Beine ausgestreckt, ein Unterarm rotgetränkt. Seine Nase wirkt wie in Ketchup getaucht, nur die Nasenlöcher sind noch zu erkennen. «Helft mir, wo bleibt ihr, es tut so weh!», schreit er immer wieder. Laut, aber nicht zu oft – so gibt es ihm die laminierte Karte auf seiner Brust vor. Auf ihr steht auch: Offene Wunden am linken Arm, an Nase und Stirn, gleichmässige Atmung, Radialispuls bei 118, ansprechbar. Das Opfer ist also schwer verletzt. Aber nicht in Lebensgefahr. Zwischen seinen Schreien hört er eine andere Stimme, die über das Feld kommt und geht wie eine Brandung. Aus dem scheppernden Gewirr der Walkie-Talkies, aus den Rufen und Wehklagen der anderen Verwundeten, sticht sie rau und heiser heraus: «Come on, ihr seid verletzt, schreit, ruft, macht es so realistisch wie möglich!» Und Wyatt Nicholas Race, 17 Jahre, schreit mit zusammengekniffenen Augen erneut den tiefblauen Himmel an.

Seine Mutter hat ihn und einen Freund an diesem Morgen aus dem Örtchen Water Mill nach Mattituck gebracht. Vierzig Minuten Autofahrt, um seinen Tod zu spielen. Wyatt hat die Kapuze seines grauen Hoodies über den Kopf gezogen, die Augen vom Schlaf noch geschwollen, als sie an Weingütern und Sonnenblumenfeldern vorbeifahren. Der Wagen rollt auf den Parkplatz der High School, neben dem Softballfeld steigen die Jugendlichen aus und gehen an einem Polizei-Absperrband vorbei zu einem Pavillonzelt. Der Treffpunkt der Freiwilligen, es ist 7 Uhr 30. An einem normalen Schultag würde in zwei Minuten die Schulglocke läuten, in fünf Minuten begänne die erste Stunde.

Kleine Trauben aus Kindern und Jugendlichen reden, scherzen und lachen. Nervöse Vorfreude. Aus dem gesamten Norden von Long Island sind sie gekommen, Kinder von sieben, acht Jahren, Töchter und Söhne der Feuerwehrleute und Rettungssanitäter aus New Suffolk oder Cutchogue. In der Überzahl sind es High-School-Schüler wie Wyatt. Er gehört zu den Besten seiner Schule, wird von seinen Lehrern zu Förderkursen geschickt, bei denen er lernt, woran er Mobbing erkennt, wie er Mitgefühl und Verständnis für andere entwickelt und wie er gegen den Hass ankämpfen kann, der aus den sozialen Medien auch in sein Umfeld gespült wird. Er sei ein Anführer, sagt Wyatt. Als ihm Kym, die Leiterin der beteiligten lokalen Jugendorganisation, vor einigen Wochen während eines Zoom-Calls schilderte, worum es bei der Übung gehen werde, sagte er sofort zu. Ihn trieb die Neugierde, der Nervenkitzel, aber nicht nur. Wyatt will seine Erfahrungen in Mattituck nach den Ferien an seine Mitschüler weitergeben. 

Er nimmt unter einem der Pavillonzelte auf einem Klappstuhl Platz. Dort entstehen zwischen Kaffeebechern und Papiertüten von Dunkin’ Donuts Schusswunden auf den Körpern der Schüler. Eine Helferin greift zu einem Schwamm und tunkt ihn in eine der Tupperdosen mit der klebrigen, dunkelroten Flüssigkeit. Wyatt wundert sich über den Schokoladengeruch des Kunstbluts und über das darin getränkte, zerrissene Toilettenpapier, das dafür sorgt, dass Wunden auf Nasen und Ohren matschig aussehen. 

Innerhalb von Minuten werden aus Kindern und Teenagern Schwerstverletzte mit zerfetzten Oberschenkeln, aufgeplatzten Stirnfronten, suppenden Armwunden. Wyatt staunt über die mortadella-farbenen Silikonmanschetten, die einigen Teenagern um Hand, Bein oder Bauch gelegt werden. Sie sehen aus der Ferne aus wie kleine Vulkane und Bratwurstketten. «Ganz schön eklig, oder?», sagt Wyatt. In den letzten Minuten vor Beginn der Übung werden sie nochmals darauf eingeschworen, auf möglichst realistische Weise Opfer zu spielen. Auf den Sitzbänken der kleinen Zuschauertribüne legen sich Teenager mit herausquellenden Eingeweiden ab. Die Kleinsten kauern mit blutüberströmten Köpfen und Beinen unter den Metallgerüsten der Tribünen, andere liegen wie hingewürfelt am Eingang zum Feld. Und auch Wyatt streckt sich auf das Grün, das die Morgensonne bereits aufgewärmt hat. Plötzlich ein dumpfer Knall. Dann noch einer, wie von Silvesterböllern. Und 53 junge Menschen beginnen, um ihr Leben zu schreien.

«Es war, als hätte sich in mir ein Schalter umgelegt», sagt Wyatt drei Tage später, während er durch das Watermill Center, ein Zentrum für Kunst, schreitet, in dem seine Mutter Stipendiaten betreut. «In der einen Minute rissen wir noch Witze darüber, wie wir aussehen. In der nächsten liegst du auf dem Boden und schreist um dein Leben. Da ist die Zeit für Spass vorbei, das muss man kapieren.» Unter den hohen Decken des Gebäudes wirkt selbst der hochaufgeschossene Wyatt klein, ein junger Mann mit kurzem, kupferrotem Haar, dessen Gesichtszüge noch kindlich sind. Doch längst steht er an der Schwelle zum Erwachsensein, ab Sommer 2024 geht er auf ein College. 

«Wir alle haben von Amokläufen gehört», sagt er. «Welche Angst die Leute währenddessen haben müssen. Da hat mir die Übung die Augen geöffnet.» Natürlich, zu Anfang habe er vor allem an sich gedacht. Wann werde ich gerettet? Doch die Masse an Beteiligten habe ihm klargemacht: Es geht hier nicht um ihn allein. 

Die Übung in Mattituck mag einzigartig sein. Doch so gut wie alle Schulen in den USA haben sich mittlerweile gegen die Bedrohung eines Amoklaufs gerüstet. Laut Daten des National Center for Education Statistics haben 96 Prozent der Schulen im Land einen schriftlichen Plan, wie sie im Fall eines Angriffs vorgehen. Auch Wyatts Schule. Seit er sich erinnern kann, führt die Southampton High School sogenannte Lockdown Drills durch. Sie wurden in den Jahren nach dem Amoklauf an der Columbine High School in Colorado eingeführt, mittlerweile finden sie an nahezu jedem Kindergarten und jeder Schule im Land statt. In 42 Gliedstaaten sind sie auch gesetzlich vorgeschrieben. Manchmal wissen Wyatt und seine Mitschüler, dass eine solche Übung ansteht. An anderen Tagen scheppert aus dem Nichts die Stimme des Rektors aus den Lautsprechern: «Lockdown, lockdown!» Die Klassenzimmertür verriegelt sich dann automatisch, Lehrer schliessen eilig Fenster, ziehen die Jalousien zu und schicken ihre Schüler in den toten Winkel des Raumes. Dort verharren sie bei gelöschtem Licht und stummgeschalteten Handys in absoluter Stille. Bis ein Polizist die Tür wieder öffnet und sagt: Alles okay, ihr könnt rauskommen. «Irre und surreal», so nennt Wyatt diese Minuten, die laut Studien das Sicherheitsempfinden der Schüler verbessern, die etliche Kritiker aber als potenziell traumatisierend einstufen, insbesondere für Kindergartenkinder. 

Dazu kommen weitere Sicherheitsmassnahmen. Erst eine Plastikchipkarte ermöglicht Wyatt den Zutritt zum Schulgebäude, zur Sporthalle oder der Bibliothek. Es gibt ein stilles Alarmsystem wie in Bankfilialen und eine anonyme Hotline, um Auffälligkeiten melden zu können. Auf den Gängen patrouillieren Sicherheitsleute, die auf einem Foto auf der Homepage mit Mundschutz und verschränkten Armen posieren. Nach dem Amoklauf von Sandy Hook hatte die National Rifle Associaton (NRA) vorgeschlagen, bewaffnetes Wachpersonal in jede Schule im Land zu schicken. Der damalige Präsident Barack Obama reagierte mit Skepsis, er wollte lieber die Waffenkontrollmassnahmen verschärfen, was ihm nicht gelang. Ein Jahrzehnt später ist die Zahl der öffentlichen Schulen mit Wachpersonal von 43 auf 65 Prozent gestiegen. In jeder zweiten Einrichtung sind zusätzlich bewaffnete Polizeibeamte präsent, die von den Schulen mitfinanziert werden müssen. Studien können einen Rückgang von schweren Gewalttaten an Schulen durch die Präsenz von Polizisten nicht eindeutig belegen, dafür aber eine Vervielfachung der Disziplinarmassnahmen, die insbesondere bei schwarzen und lateinamerikanischen Jugendlichen zu einer frühen Kriminalisierung führen.  

Die Schule als Festung? Nicht, wenn es nach Wyatt geht. Er hofft, dass seine High School ein Ort des Lernens bleibt. Er kennt die Überlegungen, mehr Lehrer in Klassenräumen verdeckt eine Schusswaffe tragen zu lassen, in 33 Bundesstaaten ist das grundsätzlich erlaubt. Donald Trump will ihnen die Kosten für den Waffenkauf und eine Schulung erstatten, der Vizegouverneur von Georgia schlug im Oktober gar eine Prämie für Lehrer in Höhe von 10 000 Dollar pro Jahr vor. Wyatt aber beunruhigt die Vorstellung, dass sein Mathelehrer eine SIG Sauer P320 – die meistgekaufte Handfeuerwaffe der Amerikaner – unter dem Jackett tragen könnte. «Ganz ehrlich», sagt er, «so etwas würde mir das Gefühl von Sicherheit eher nehmen, einfach weil ich weiss, dass sich eine Pistole im Raum befindet.» 

Kellner in weissen Hemden tragen Tabletts mit Hühnchen-Saté und Shrimps in Speckmantel durch den Trinidad Pavillon des Tropicana Hotel, das am berühmten Las Vegas Strip in den künstlich beleuchteten Himmel von Nevada ragt. Während im dazugehörigen Kasino ein paar Meter weiter Touristen an Roulettetischen und zuckergussbunten Spielautomaten ihre Dollar verzocken, begrüssen am Eingang zur grössten Halle des Hotels zwei Hostessen in ozeanblauen Paillettenkostümen die Besucher zur National School Safety Conference. Fünf Tage lang beraten und besprechen sich hier Schuldirektoren, Schulinspektoren und Beamte der Homeland Security, halten Psychologen Vorträge über Gewalt- und Drogenprävention an Schulen, berichten Polizisten von verhinderten Amokläufen. Aus sämtlichen 50 Gliedstaaten der USA sind die über 1400 Teilnehmer gekommen. Wieder ein Rekord für den Veranstalter, das School Safety Advocacy Council, das für seine Konferenz jedes Jahr eine grössere Halle buchen muss. 

Mitbegründer und Präsident der 2005 gegründeten Organisation ist Sean Burke, der in Lawrence, einer Stadt in Massachusetts, lange Jahre für die Schulsicherheit zuständig war. Der frühpensionierter Polizeileutnant ist ein kräftiger Mann mit kahlrasiertem Kopf und Spitzbart, der in Shorts und Poloshirt durch die Ausstellerreihen streift und alle paar Meter anhalten muss, um Hände zu schütteln. Auf einer kleinen Bühne zupft ein Gitarrist die Melodie des Eurythmics-Songs Sweet Dreams. Rundherum verkaufen 105 Aussteller mit angriffslustigen Namen wie Raptor Technologies, Hardcore Defense oder Zero Eyes ihre Sicherheitsversprechen.

Eine fahrbare Tafel mit Panzerung aus Sicherheitsstahl zum Beispiel, die der Munition von Sturmgewehren wie dem AR-15 oder dem AK-47 standhält. Kostenpunkt: 6500 Dollar aufwärts. Oder einen vierbeinigen Roboter-Hund mit zwei Kameras im Kopfmodul, dessen Features eine Angestellte der chinesischen Firma mit einem Controller vorführt. Mit dem Unitree Go1 können Schüler nicht nur die Programmiersprachen C++ und Python pauken, im Notfall kann der fast 4000 Dollar teure Roboter in den Schulfluren nach dem Amokläufer Ausschau halten und dabei auch Blendgranaten werfen. 

So verschieden die Anbieter sein mögen, ihre Verkaufssprache ähnelt sich. Fast alle Produkte werden als «safe» und «smart» gelabelt, häufig wird auch mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz geworben, etwa von Diensten, die für Schulbezirke die Kommunikation auf Social-Media-Plattformen überwachen. Die Kernbotschaft lautet: Bei einem Amoklauf zählt jede Sekunde. Wer will es da verantworten, die Sicherheit der geliebten Kinder gegen schnöde Dollar aufzurechnen? «Die Eltern achten heute viel genauer auf die Sicherheit der Schulen. Was haben sie anzubieten, wie schützen sie die Kinder?», sagt Sean, der Sicherheitsanalysen für Schulen anbietet und dafür durch die gesamten USA reist. Dabei macht er immer noch erschreckende Beobachtungen: Schulgelände ohne Sicherheitszäune, zentralen Eingang und Zugangskontrollen, Flure mit Kurvenspiegeln, nicht verschlossene Aussentüren und nicht abschliessbare Klassenzimmertüren, Fensterfronten, die nicht mit kugelsicheren Folien beklebt sind. 

Doch der grösste Mangel, sagt Sean, sei immer noch der Glaube, dass ausgerechnet an dieser Schule, in diesem Ort schon kein Amoklauf passieren werde. Natürlich, Übungen helfen. Es sei wie bei Wirbelstürmen oder Bränden, je mehr man trainiere, desto besser sei die kollektive Reaktion. 

Dennoch könne man auf Technik nicht verzichten. «Vom Kindergarten bis zur Universität gibt es kaum noch eine Einrichtung ohne Sicherheitsvorkehrungen. Aber es gibt viele, die nicht genug haben.»

Kein Wunder, dass der Markt für Schul- und Campussicherheit wächst. Im Jahr 2022 setzte die Industrie, die bislang vor allem Banken und Arenen mit Sicherheits- und Überwachungstechnik ausgestattet hat, mit amerikanischen Bildungseinrichtungen erstmals über drei Milliarden Dollar um. Wie reflexhaft das Geschäft mit der Angst funktioniert, hat der Leiter der Schulpolizei eines Schulbezirks in Florida im März 2018 der New York Times berichtet. Nach dem Amoklauf im benachbarten Parkland, bei dem ein 19-Jähriger an seiner ehemaligen High School mit einem Sturmgewehr vierzehn Schüler und drei Schulangestellte ermordete (der Schulpolizist griff nicht ein), habe er Tausende E-Mails mit Angeboten für neue Türschlösser, Metalldetektoren, Apps und Sicherheitsanalysen bekommen. Unmittelbar nach dem Amoklauf 2022 in Uvalde bewilligte der republikanische Gouverneur Ron DeSantis eine Summe in Höhe von 210 Millionen Dollar für die Schulsicherheit in Florida. Und noch einmal 140 Millionen Dollar für Programme zur Förderung der psychischen Gesundheit. Ganz im Einklang mit Donald Trump, der nach Amokläufen wiederholt gesagt hat: «It’s not a gun problem, it’s a mental health problem.» Im vergangenen Jahr lockerte DeSantis dann das Waffenrecht in seinem Gliedstaat.      

Analysten schätzen, dass der Markt für Schulsicherheit bis 2030 auf knapp unter neun Milliarden Dollar wachsen wird, insbesondere beim Einsatz neuer Videoüberwachungstechnologien haben sie ein Steigerungspotenzial ausgemacht. Dabei waren bei der letzten landesweiten Erhebung aus dem Jahr 2020 bereits 91 Prozent der Schulen im Land mit Kamerasystemen überwacht. Aber man kann natürlich noch mehr Kameras anschaffen. Oder modernere. 

An einem Ende der Hotelhalle in Las Vegas stellt Eviden, eine Tochterfirma des französischen IT-Dienstleisters Atos, in einem orangenen Schiffscontainer seine Zukunftsvision einer sicheren Schule vor. In Videos führt eine adrenalingepeitschte Frauenstimme durch verschiedenste Bedrohungsszenarien: Unbefugte Personen nähern sich der Schule? Sie werden durch Kameras mit Gesichtserkennung und einen Abgleich mit einer FBI-Datenbank in Sekundenschnelle als harmlos oder potenziell gefährlich eingestuft. Ein Schüler zückt im Pausenhof einen Gegenstand aus seiner Jackentasche? Die mit KI trainierte Bilderkennungssoftware erkennt automatisch, ob es sich um ein Handy oder eine Waffe handelt. Ein Rucksack steht unbeaufsichtigt auf dem Schulflur? Auch das registriert das System und alarmiert sofort den Schuldirektor oder die Behörden. An schwer einsehbaren Orten oder zu ungewöhnlichen Uhrzeiten kommt es auf dem Gelände plötzlich zu Menschenansammlungen? Diese werden von Wärmebildkameras erkannt und mittels Heatmap visualisiert. Und falls ein Schüler es etwa wagen sollte, in Pausen zu oft allein am Tisch zu sitzen, statt mit seinen Klassenkameraden zu reden, wird dieses Verhalten als sozial auffällig kategorisiert und abgespeichert – Vorsicht, Aussenseiter. 

Was nach einer Überwachungs-Dystopie klingt, wird längst erprobt: Ein Schulbezirk im Westen des Gliedstaats New York war 2020 vorgeprescht und hatte mit Fördermitteln und der Zustimmung der Behörden eine 1,4 Millionen Dollar teure Gesichtserkennungssoftware für seine acht Schulen angeschafft. Sie wurde im September 2023 wieder einkassiert, nachdem ein Gutachten festgestellt hatte, dass die Risiken der Technologie – eine höhere Rate von Fehlalarmen vor allem bei schwarzen Schülern, die Gefahr von Datenmissbrauch – gegenüber den Vorteilen überwiegen. Noch. 

Der Markt für Schulsicherheit ist weitgehend unreguliert. Anerkannte Zertifizierungen gibt es ebenso wenig wie landesweite Standards. Eine Grundschule in Alabama gab 2023 für zwei Whiteboards, die sich zu kugelsicheren Schutzräumen umfunktionieren lassen, 120 000 Dollar aus. Die meisten Schulbezirke bekommen von den millionenschweren Programmen der Gliedstaaten dagegen nur fünf- bis sechsstellige Summen, die sie unter den Schulen verteilen. Deren Leitung steht dann vor der Entscheidung, ob die Einstellung eines Wachmanns die vielen besorgten Eltern mehr beruhigt. Oder der Kauf von moderner Technik. In Texas wurden gesetzliche Sicherheitsvorschriften nach dem Amoklauf von Uvalde so weit hochgeschraubt, dass Schulen sie trotz Zuschüssen in Milliardenhöhe nicht mehr erfüllen können. 

«Die beste Prävention ist ein gutes Verhältnis zwischen Lehrern, Sicherheitsleuten und Schülern», sagt Sean Burke in der klimatisierten Hotelhalle in Las Vegas. «Wenn Lehrer sich kümmern, die Schüler ihnen vertrauen, dann reden sie auch, wenn ihnen etwas auffällt.» Hunderte Amokläufe würden so jedes Jahr verhindert. Er hofft, dass diese Form der Vorsorge immer verbreiteter eingesetzt wird. «Uns ist klar, dass wir dieses Problem nicht über Nacht lösen werden, aber es soll jedes Jahr kleiner werden.» 

Ein Wind vom Ozean weht den Geruch von Salz über eine Hofauffahrt. Ein stattliches Haus mit hellgrauer Holzvertäfelung und Erkerfenstern ragt in die Höhe, aus dem Panoramafenster der Küche fällt der Blick auf einen kleinen Natursteinpool. Auf der Arbeitsfläche krächzt ab und an eine verzerrte Stimme aus einem Walkie-Talkie. Ken Pearsall unterbricht bei jeder Durchsage das Gespräch, hört zu, ob er womöglich gleich ausrücken muss. Der 44-Jährige arbeitet hauptberuflich bei einem milliardenschweren Hedge-Fund, daneben dient er als Lieutenant in der Freiwilligen Feuerwehr von Cutchogue, der Nachbargemeinde von Mattituck. Für die Aufstellung einer Berufsfeuerwehr reichen die Einsätze in den kleinen Kommunen am Zipfel von Long Island nicht aus. Was nicht heisst, dass Ken, der 1997 als High-School-Schüler in die Feuerwehr eintrat, und seine Kollegen nichts zu tun hätten. Zu über 500 Einsätzen, so schätzt Ken, rücken sie im Jahr aus, Autounfälle, Hausbrände, auch Schiessereien passieren mehrmals im Monat.

Als es auf dem Softballfeld zweimal knallt und ein Nachbar den Notruf wählt, wartet Ken in einem Rettungswagen des Cutchogue Fire Department am Rand der Sportplätze auf seinen Einsatz. Der beginnt erst 40 Minuten später, wenn der medizinisch geschulte Rettungstrupp der Feuerwehr realistischerweise am Ort des Geschehens eintrifft. Als Führer der Einheit ist es Kens Aufgabe, Ordnung im Chaos zu schaffen. Sein Blick schweift über das Softballfeld, er bleibt erst an schreienden Grundschülern mit rotgetränkten Beinen hängen. Und bei einem Teenager mit kupferrotem Haar und azurblauem T-Shirt, dessen Nase wie ein Häuflein roter Matsch aussieht. Dann eilt er in Feuerwehrjacke und Cargoshorts im Laufschritt über das Feld und gibt Anweisungen, wohin die Verletzten gebracht werden sollen. 

Ken kniet neben einem verletzten Schüler, nimmt die laminierte Plastikkarte von dessen Brust und schaut auf die dort eingetragenen Werte – Puls, Blutdruck, Kreislauf, Art der Verletzung. Und muss entscheiden. Braucht er sofort Erste Hilfe? Sind seine Überlebenschancen gut? Dann klebt er einen grünen Streifen auf den Oberkörper, sonst einen gelben oder roten. Neben Ken deckt ein Feuerwehrmann auf der kleinen Zuschauertribüne des Sportfelds den Körper einer Teenagerin mit einer gelben Plastikplane ab. Es ist an diesem Tag der einzige fiktive Todesfall. 

«Im Ernstfall geschehen fast 75 Prozent der Abläufe automatisch, dank des Trainings, das ist pures Muskelgedächtnis», sagt Ken und schaut wieder zu dem knarzenden Funkgerät in seiner Küche. Dennoch wirken er und die über 200 anderen Rettungskräfte während der Übung wie Figuren in einem tragischen Kampf. Nach kurzer Zeit reichen die Tragen für den Transport in den Rettungswagen nicht mehr aus, Ken und seine Kollegen müssen die Verwundeten auf gelben Plastikmatten über das Gras ziehen. Dann auf Rettungsdecken. Dann auf Handtüchern. Am Ende trägt Ken die verwundeten Kinder auf seinen durchtrainierten Armen. 

«Es war unheimlich, dass diese Übung so nah an meinem Zuhause abläuft, an einem Ort, an dem wir so oft vorbeikommen», sagt Ken. Seine drei Töchter sind Schülerinnen an der Mattituck High. Zusammen wirken sie wie eine amerikanische Vorzeigefamilie: Ken, Ehefrau Cori, Ryley, Reece und Emma. Strohblonde, höfliche, oft lachende Mädchen zwischen zwölf und siebzehn Jahren, dazu der Familienhund. Hinter ihrem Anwesen wispert der Ozean, vor ihnen liegt das Versprechen auf ein Leben in Gesundheit und Wohlstand. «Ich zwinge mich, logisch zu denken», sagt Ken. «Es ist statistisch extrem unwahrscheinlich, dass ein Amoklauf an unserer Schule passiert.» Als Vater fürchtet er sich eher davor, dass seine Kinder abends von einem betrunkenen Autofahrer angefahren werden oder einen schweren Unfall mit dem Fahrrad haben. Aber er sagt auch: «Ich denke häufiger darüber nach, als ich zugeben will.»

Nach jedem Amoklauf mit Todesfolge an einer Schule und den immergleichen Fernsehbildern – ein Meer aus Rettungswagen, schwer bewaffnete Polizeikräfte in Deckung, Gesichter von geschockten Eltern und Kindern – kommen die Gedanken mit aller Kraft zurück. «Wir waren frei», sagt Ken über seine eigene Schulzeit. «An verschlossene Türen kann ich mich nicht erinnern.» An seiner streng katholischen Schule wollte niemand hinein, schon gar nicht mit Gewalt. Alle, die drin waren, wollten nur hinaus. Seine Ehefrau Cori erinnert sich allein an einen Metalldetektor, als sie Ende der neunziger Jahre zur High School ging. Er sollte die Messer von Gangmitgliedern entdecken, die sich damals an ihrer Schule herumtrieben.

Heute überwachen Sicherheitskameras die High School in Mattituck. Kleine, weisse Kugeln mit einem schwarzen Kreis in der Mitte, die beobachten, was sich auf dem Aussengelände abspielt. Die Pearsalls sind froh, dass die Türen der Schule nummeriert sind, damit die Polizei schnell überblicken kann, zu welchem Abschnitt des Gebäudes sie von der Notrufzentrale geschickt wird. Sie wissen, dass auswärtige Besucher, selbst Eltern, nicht einfach durch die Eingangstüren marschieren können. Ihre Führerscheine werden gescannt, und sie werden fotografiert, bevor sich eine Sicherheitstür per Summer öffnet. Und sie beruhigt natürlich auch, dass die Türklinken auf der Innenseite der Klassenzimmer so angebracht sind, dass man sie durch ein eingeschossenes Sichtfenster mit der Hand nicht erreichen kann. 

«Ich denke nicht, dass die Schule eine Festung ist, sondern ein gesicherter Bereich», sagt Ken Pearsall, mit einem Aber: «Es gibt Sportunterricht im Aussenbereich, in der Mittagspause können die Kinder nach draussen, und neben dem Gelände gibt es Tennisplätze und Sportanlagen für die Öffentlichkeit.» Trotz all der Sicherheitsmassnahmen gäbe es genug Gelegenheiten für einen Angreifer, mit einer Waffe seinen American Dream vom einen auf den anderen Tag zu zerstören. «Egal, wie viele Background-Checks, Gesetze und Verbote es gibt. Wer wirklich will, findet einen Weg.» 

Mit jedem Opfer, das die Rettungskräfte vom Rasen des Feldes zu den Rettungsfahrzeugen bringen, weicht die Anspannung aus Chips Gesicht. Während der Übung ist er immer wieder über das Softballfeld gegangen, hat nachgesehen, wie es den Beteiligten geht. Denn der Teufel, er kann im Detail stecken. 

Als sie am Ende der Grossübung in Greenport fragten, in welches Krankenhaus die Sanitäter die Kinder denn gebracht hätten, hatte niemand eine Antwort parat. «Stell dir vor, dein Kind ist angeschossen worden, und niemand kann dir sagen, wo du es finden kannst. Das darf nicht passieren», sagt Chip. An diesem Tag kennen die Einsatzleiter nicht nur alle Namen der Kinder und Krankenhäuser, in die sie im Ernstfall gebracht würden, selbst ihre Kleidungsstücke wurden katalogisiert, damit sie den Eltern übergeben werden könnten. Bis auf einige Ungereimtheiten bei der Nutzung der Funkfrequenzen ist die «Operation Local Tragedy» reibungslos gelaufen. «Wenn mir die Ersthelfer sagen, wie unvergleichlich diese Übung für sie ist, dieses Arbeiten unter all den Schreien und Rufen der Freiwilligen, dann bin ich zufrieden», sagt John «Chip» Bancroft, das sei seine Belohnung. 

In wenigen Wochen wird er mit den Vorbereitungen für die nächste Übung beginnen. Wird wieder die Erlaubnis bei den lokalen Behörden einholen, Anwohner aufklären, nach Freiwilligen suchen und aus eigener Tasche über 3000 Dollar zahlen, um Helfer-T-Shirts drucken zu lassen, Kaffee und Donuts zu besorgen und täuschend echtes Blut aus Schokoladensirup anzurühren. Er selbst bekommt für all das keinen Cent. Es sei ein Dienst an seiner Community. «Wir wollen einfach, dass unsere Kinder sicher sind», sagt Chip.

Nach sieben Stunden Ausnahmezustand ist das Softballfeld der Mattituck High School an diesem Nachmittag wieder leer. Eine grüne Wiese, kurz gemäht, ohne schreiende Kinder. Und hoch oben an dem silbernen Fahnenmast schlägt die überdimensionierte amerikanische Flagge im Wind, in leuchtendem Weiss, Rot und Blau, wie für die Ewigkeit gemacht. So stolz. So starrsinnig.