Die Asads und ihr Nazi

SS-Hauptsturmführer Alois Brunner beriet Syriens Folterdiktatur. 

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Serge Klarsfeld ist acht Jahre alt, als die Gestapo bei ihm an die Tür klopft. Es ist September 1943 in Nizza. In einem doppelwandigen Schrank dicht an Mutter und Schwester gedrängt, hört er, wie sein Vater den Deutschen die Tür aufmacht. Sehen kann Serge Klarsfeld nichts, nur Stimmen dringen an sein Ohr. «Ich muss die Stimme von Alois Brunner gehört haben. Es war sein Kommando, und er ging die Leute persönlich festnehmen.» Alois Brunner schickt Serge Klarsfelds Vater nach Drancy und dann nach Auschwitz.

Alois Brunner, 1912 in Wien geboren, Nazi der ersten Stunde und für die Deportation und Vernichtung der europäischen Juden zuständig, wird von seinen Leuten als kleiner, unscheinbarer Mann beschrieben: düster und nervös, schmächtig, krummbeinig, mit sehr dunklen Augen, wulstigen Lippen und eintöniger Stimme. In seinen Memoiren sagt Adolf Eichmann, der Architekt der «Endlösung», über ihn: «Er war mein bester Mann.»

Alois Brunner ist verantwortlich für die Deportation von 56 000 Wiener Juden nach Auschwitz, 43 000 aus Saloniki, 14 000 aus der Slowakei und 23 500 aus Frankreich, wo er das Lager von Drancy leitete. Doch er musste nie für seine Verbrechen büssen. Als Nazideutschland fällt, nutzt er das Todesurteil gegen einen anderen Brunner, um im Strom der Fliehenden unterzutauchen, nimmt den Namen seines Cousins Georg Fischer an und lässt sich von den US-Truppen als Lastwagenchauffeur anheuern. 1947 arbeitet er in einem Kohlebergwerk in Essen, 1953 flüchtet er mit dem Pass eines gewissen Georg Fischer nach Ägypten. Dort bleibt er nur kurz und verschwindet 1954 nach Damaskus.

Najah al-Bukai ist vielleicht der einzige professionelle Zeichner, dem die Flucht aus Syrien gelungen ist. Diese Chance hatte sein Kollege Akram Raslan nicht: 2012 karikiert er Bashar al-Asad, wird verhaftet und stirbt an den Folgen der Folter.

Najah al-Bukai schliesst die Kunstschule in Rouen, Frankreich, ab und kehrt zu Beginn des neuen Jahrtausends zurück in sein Heimatland, wo er sich mit seiner Frau und seiner Tochter in Damaskus niederlässt.

Als 2011 die Proteste gegen das Asad-Regime beginnen, wird er nach einer Demonstration für 5 Stunden festgehalten – sein Name steht auf einer Liste von 90 000 Gesuchten. Vierzehn Monate später wird er ins Gefängnis No. 227 – eines von vier in der gleichen Strasse der Altstadt – geworfen. Al-Bukai über seine Ankunft: «Im Hof sehe ich junge Menschen, die man mit Tauen an den Armen aufgehängt hat. Sie wimmern, sie entleeren sich – sie hängen seit Stunden.» Unweigerlich kommen ihm die prächtigen Gemälde von Kreuzigungen, die er im Louvre in Paris gesehen hat, in den Sinn: «In der Realität ist eine Kreuzigung alles andere als schön.» Die Wände der überfüllten fenster­losen Zelle im Untergeschoss, in der al-Bukai gefangen ist, sind blut- und kotverschmiert. Nach nächtlichen Verhören Verstorbene werden neben dem Abortloch gelagert. 

Etwas mehr als 3 Wochen später, nach der Bezahlung von 1000 Dollar Busse, kommt er frei. Um zwei Jahre später erneut ins gleiche Gefängnis geworfen zu werden: eingepfercht diesmal in einen Raum von 16 auf 4 Meter für 120 Gefangene. Al-Bukai muss helfen, mit Ziffern markierte Leichen wegzuschaffen. 5332 ist die erste Nummer, die er sieht. «Vier Monate später: 5840 …» 500 Tote in 120 Tagen – in einem einzigen Gefängnis. Seiner Ehefrau Abir, Französischlehrerin, gelingt es, rund 12 000 Euro aufzutreiben und ihn freizukaufen. Mit seiner Familie fährt er im Herbst 2015 per Taxi an die Grenze zu Libanon. Heute lebt Najah al-Bukai im Westen Frankreichs. Status: politischer Flüchtling. 

Pierre-François Moreau

Ende der 1950er Jahre wird den Amerikanern klar, dass Georg Fischer Alois Brunner ist. 1960 wird Adolf Eichmann in Buenos Aires festgenommen. Ein Jahr darauf verliert Brunner ein Auge, als er auf der Post von Damaskus eine Briefbombe entgegennimmt. Brunner begreift, dass man ihn «aufgespürt» hat. Als erstes Land meldet sich Österreich mit einem offiziellen Auslieferungsbegehren. Die Mächte der Nachkriegszeit wissen nun, dass der Nazi inkognito in Syrien lebt.

Der formelle Pakt zwischen Alois Brunner und dem werdenden syrischen Staat geht auf das Jahr 1966 zurück. In diesem Jahr wird ein gewisser Hafez al-Asad nach einem x-ten Staatsstreich Verteidigungsminister. Asad hat mit Brunner einen Experten mit gewichtigen Referenzen hinter sich. Adolf Eichmanns «bester Mann» hatte nämlich nach seiner Ankunft in Syrien damit begonnen, den Pionier der syrischen Geheimdienste, Oberst Abdel Hamid el-Sarraj, zu beraten.

Fünf Jahre später, 1971, wird al-Asad der neue Präsident Syriens. Mithilfe von Alois Brunner baut er einen Repressionsapparat von seltener Effizienz auf. Dem komplizierten, weitverzweigten Gebilde, in dem man sich gegenseitig überwacht und ausspioniert, liegt ein einziges Prinzip zugrunde: die Machterhaltung im Land durch eine Diktatur.

Als al-Asad im Jahr 2000 stirbt, erbt sein Sohn Bashar al-Asad ein aus Stahlwolle gestricktes Land. Dreissig Jahre lang ist der Geheimhaltungsapparat immer perfekter geworden. Er hat sich auf allen Ebenen der Macht festgesetzt und kontrolliert das Alltagsleben bis in die kleinsten Details. 

Fragte man den Vater und später den Sohn Asad nach Alois Brunner, wollten sie über Jahre hinweg nie etwas von seiner Anwesenheit wissen und antworteten stets: «Wir kennen diesen Mann nicht.» So geisterte das Phantom Alois Brunner während sechzig Jahren durch Syrien. Und bislang war selbst sein Tod eine umstrittene Annahme: Die einen meinen, er sei 1992 gestorben. Andere glauben, er sei 2010 im Alter von 98 Jahren gestorben. Und wieder andere wähnen ihn immer noch am Leben.

In Exklusivinterviews brechen drei Syrer, die früher mit dem Schutz des Ex-Nazis in Damaskus beauftragt waren, das Schweigen. Einer spricht offen, die andern schützen sich mit Pseudonymen. Ihre schrecklichen und bedrückenden Erzählungen stimmen bis ins kleinste Detail überein. Sie werden von zahlreichen Gesprächen mit den Haupt­agierenden in dieser Sache belegt und zeugen von einer Geschichte, deren Wurzeln in eine überwunden geglaubte Vergangenheit zurückreichen. Sie werfen ein Schlaglicht auf das Drama, das sich in Syrien abspielt.

Was wirklich mit Alois Brunner geschah, lässt sich mit wenigen Worten sagen: Adolf Eichmanns treuer Gehilfe blieb bis zu seiner Todesstunde ein Nazi und starb 2001. Sein Leichnam wurde nach islamischem Brauch gewaschen und in aller Stille auf dem Friedhof al-Afif in Damaskus beigesetzt. Der Syrienkrieg, der seit 2011 den Nahen Osten erschüttert und zahllose Tote und Heerscharen von Flüchtlingen hinter­lässt, ist zum Teil auch das Erbe Alois Brunners.

Im 8. Arrondissement von Paris empfängt Serge Klarsfeld, 81, seine Gäste in einem Raum, in dem die Bücher über den Zweiten Weltkrieg dicht an dicht stehen. An der Wand hängt ein grosser und detaillierter Plan des Lagers von Auschwitz. Vor dem Treffen haben wir ihm die Schlussfolgerungen unserer Recherche telefonisch mitgeteilt. Daraufhin hat er uns zu sich gebeten.

«Sie haben Brunner also wiedergefunden?», fragt der Nazijäger, der im Stuhl an seinem Schreibtisch sitzt.

«Ja, sieht so aus.»

«Wann wäre er demnach gestorben?»

«Im Dezember 2001.»

«Hm, er hatte ein robustes Herz. Hat er gelitten?»

«Ja, er hat gelitten.»

«Wissen Sie … Er mag mir nicht leidtun», sagt Serge Klarsfeld erleichtert.

Die Recherche begann fast beiläufig in Istanbul, wohin viele Syrer fliehen. In einem Gespräch fiel ein Name: «Georg Fischer». Und zu diesem Namen ein Nachsatz: «Ich kenne einen Typen, der der Leibwächter dieses deutschen Nazis war. Er heisst Abu Yaman und lebt in Jordanien.» Abu Yaman empfängt uns ein paar Tage später zu Hause in Irbid, der zweitgrössten Stadt Jordaniens, in einem Raum von fünf mal drei Metern, mit Teppichen am Boden, Kissen an den Wänden und einem niedrigen Tisch als einzigem Möbelstück. Mit seinen breiten Schultern, dem offenen Blick und dem akkuraten Bart ist er schon auf den ersten Blick eine markante Erscheinung.

Nach dem Beduinenkaffee wird Tee serviert. Abu Yaman erkundigt sich, ob wir müde oder hungrig seien. Nein, eigentlich nicht. Er lächelt und nimmt im Schneidersitz Platz, vor sich auf den Boden legt er ein dickes Ringheft: «Als ich wusste, dass Sie kommen würden, habe ich meine Erinnerungen in diesem Heft festgehalten, damit ich nichts vergesse.»

Er willigt ein, dass alles aufgenommen und sein richtiger Name zitiert wird. Abu Yaman ist sein traditioneller Name. Im Zivilstandsregister steht Mohamed Abdul Rahmed Hanada. Er beginnt zu erzählen: «Ich wurde 1968 im Umland von Damaskus geboren, ich bin verheiratet und habe sechs Kinder. Anfang 1988 leistete ich meinen obligatorischen Militärdienst ab.» 

Danach tritt Abu Yaman in die Schule der syrischen Nachrichtendienste ein, der Mukhabarat, wo er im Personenschutz ausgebildet wird. Der Drill ist hart, man sieht es seinem muskulösen Körperbau an. «Dann kam ich in die Abteilung 300 für Gegenspionage, die von Bajat Suleiman befehligt wurde. Das war eine Prestigemission.» Bajat Suleiman ist ein Cousin von Hafez al-Asad, dem Diktator, der das Land terrorisierte, bevor er seinem Sohn Bashar Platz machte. Wenn Abu Yaman von Bajat Suleiman spricht, nennt er ihn «diesen Wüterich».

Mit dem Einsatzgebiet Botschaftenschutz wird er nach Sebki geschickt, ins vornehme Viertel von Damaskus mit Gebäuden aus den 1960er Jahren und Avenues voller schöner amerikanischer Schlitten, die den Reichen und den Ausländern gehören. Sein Auftrag ist einfach: Er soll jemanden beschützen. «Ich werde also der Truppe vorgestellt. Wir sind ein Dutzend, und ich bin der einzige Dienstpflichtige, die anderen sind Berufssoldaten.» Abu Yaman bekommt seine Dienstwaffe, dann führt ihn sein Vorgesetzter die Treppen hinauf bis in den vierten Stock.

«Ich bin nervös und beeindruckt. Mein Chef macht die Tür auf. Ich sehe einen Mann in Unterwäsche. Er hat Narben am ganzen Körper. Das linke Auge und drei Finger fehlen ihm. Wir unterhalten uns fünf Minuten lang, und das ist alles.» Abu Yaman will wissen, wer dieser Mann sei, der sich in einem so schlechten Zustand befindet. «Stell keine Fragen: niemandem, niemals!», antwortet sein Vorgesetzter, Mohamed Leksour. Ein grosser Blonder mit blauen Augen, ein kaltschnäuziger Typ mit Universitätsabschluss. «Wenn du etwas brauchst, kommst du zu mir.» Abu Yaman nickt schweigend und fängt am nächsten Tag mit der Arbeit an.

Frühmorgens füllt er in Mohajereen, im Hauptquartier der Abteilung 300 von Damaskus, das Präsenzblatt aus, empfängt seine Order und bezieht Posten im Vorzimmer, vor der Tür oder auf dem Dach über der Wohnung. Er tut dies im 24-Stunden-Turnus: einen Tag lang Dienst, einen Tag Pause. Die Wochen und Monate vergehen, ohne dass die Neugier des jungen Wachmanns befriedigt wird. «Ich wollte schon wissen, wer dieser Mann war, aber ich konnte niemandem trauen.»

Er wendet sich an Mohamed Leksour, seinen Chef, den grossen Blonden, und an Mohamed Said Ahmed, den Planungschef der Aktivitäten der Truppe. Beide nennen einen Namen: Abu Hossein. «Ich begriff, dass das ein Codename war. Am ersten Tag hatte der Alte gesagt, er heisse Fischer. Aber man durfte diesen Namen nie gebrauchen, nur Abu Hossein, wenn man von ihm in unserem Funkverkehr sprach.»

Die Erinnerungen kommen Abu Yaman beim Reden. Wenn er einen Strassennamen wiederholen soll, zeichnet er mit Bleistift einen Plan und notiert die Details darauf. Dann hebt er den Blick von seinem Spiralheft und fragt, ob wir eine Pause brauchten: «Nein danke, machen wir weiter!» Abu Yaman fährt fort: «Ich mochte den alten Herrn gleich. Er lebte sehr gesund und ass nicht viel, vor allem Gemüse, Milch, Frischkäse und ab und zu etwas Fleisch.»

Alois Brunner, der sich also «Abu Hossein» rufen lässt, erhält ein regelmässiges Gehalt vom syrischen Geheimdienst Mukhabarat, seinem Arbeitgeber. Für seine Kleidung wird gesorgt – er trägt nur Baumwolle –, und jeden Morgen erhält er die lokale Presse: Al Thaura, Tishreen, Al Ba’a und die libanesischen Blätter – Assafir und Ayat.

«Während der ersten sechs Monate hat er das Recht, in Chaalan, 500 Meter von seiner Haustür entfernt, einkaufen zu gehen. Wir begleiten ihn zu viert oder fünft: diskret, um nicht aufzufallen. In diesem Viertel gibt es viele Ausländer. Aber mit seiner schwarzen Sonnenbrille sieht Abu Hossein nicht aus wie ein Deutscher. Niemand ist überrascht, ihn zu sehen.»

Anfang 1989 nehmen die syrischen Geheimdienste ihren Angestellten an die kürzere Leine. Brunner darf nicht mehr ausgehen. «Vom Eingesperrtsein wird er hysterisch und beleidigt Hafez al-Asad, die Geheimdienstchefs und Bajat Suleiman (den Spionageabwehrchef). Er sagt: ‹Hafez, der Hund! Bajat, das Schwein!›, und wir rapportieren. Er wird in die Zelle im Hauptquartier von Mohajereen verlegt und nach ein paar Tagen zurück in die Wohnung.»

Morgen für Morgen stellt Alois Brunner sein Radio an. «Das sah aus wie ein Spionagegerät», erklärt Abu Yaman und holt weit aus mit den Händen, um die Antenne zu beschreiben. Es braucht einen Code, um das Radio in Gang zu setzen, Yaman hat noch nie so ein Ding gesehen. «Eines Tages ruft Abu Hossein mich schreiend herbei: ‹Komm schnell! Ein Pilot ist mit seinem Flugzeug nach Israel abgehauen! Hafez muss seine ganze Familie töten! Er muss alle Leute in seinem Dorf töten!› Er war verrückt. An dem Tag begriff ich, dass sein Gerät etwas Besonderes war. Ich erfuhr erst vier Stunden später aus dem Staatsfernsehen von der Sache.» 

Alois Brunner ruft seinen jungen Wächter immer öfter zu sich. Er will ihm Deutsch beibringen, aber Abu Yaman sträubt sich, er bevorzugt Englisch. Die anderen Männer der Einheit haben die Launen des alten Nazis satt und weigern sich zu gehorchen oder tun es mit Verzögerung, was Brunner rasend macht. Manchmal lässt er den Missetäter kommen und lauert ihm hinter der Tür mit einem Küchenmesser auf. Doch die Wächter wissen Bescheid und können ihn stets überwältigen.

«Der einzige Mensch, der ihn besuchen kam, war ein Herr aus Jdeidat Artouz im Südwesten von Damaskus. Seine Familie war ebenfalls mit dabei. Er brachte ihm manchmal Kleider oder Konserven.» Wir erfahren, dieser Nabil sei der Sohn des ersten Chauffeurs von Alois Brunner gewesen, aus der Zeit, als er noch im Range Rover durch Damaskus fuhr. «Eines Tages liess man ihm ausrichten, nicht mehr mit seiner Familie zu kommen. Und schliesslich liess man ihn gar nicht mehr kommen.»

Allein in seiner Wohnung in Damaskus überkommen Brunner manchmal nostalgische Gefühle. «Am liebsten redete er von dem grossen Bild, das an der Wand hing», der Akt einer jungen Frau. «Er schwärmte von ihren Kurven und sagte, sie sei die Liebe seines Lebens», lässt uns Abu Yaman wissen.

Das zweite Lieblingsthema des alten Nazis ist der irakische Präsident Saddam Hussein, sein neues Idol. «Er fand, das sei ein Held, ein grosser Mann, der als Einziger dazu imstande ist, Israel zu zerstören.» Die Araber vom Golf sind Alois Brunner zuwider: «Die Scheichs sind die Hunde der Amerikaner.» An Tagen, an denen ihm die ganze Welt verhasst ist, bedauert der alte Nazi, nicht alle Juden getötet zu haben. «Er verstand nicht, warum Hafez (al-Asad) nicht alle Juden aus Syrien vertrieben hatte. Dazu wusste ich nicht viel, darum sagte ich nichts.»

Wir reden jetzt schon seit Stunden, und würzige Küchendüfte ziehen durch den Raum. Wir essen, Tee wird in die Gläser gegossen, und das Erzählen geht weiter: «Eines Tages sagte mir Abu Hossein, er habe 25 000 französische Juden getötet. Da begriff ich, dass er ein schlechter Mensch war, aber was konnte ich dagegen tun? Nichts!», seufzt er.

Als das Internet nach Syrien kommt, geht Abu Yaman in ein Cyber­café: «Da habe ich gesehen, dass Abu Hussein eigentlich Alois Brunner hiess und 130 000 Juden umgebracht hatte.» Er entdeckt die seltenen Archivbilder und erkennt seinen Schützling wieder. «Ich bin nicht besonders stolz, ihn bewacht zu haben, aber in Syrien sagt man nicht, was man denkt, das ist zu gefährlich.»

Eines Tages sieht der Leibwächter zufällig ein Interview mit dem syrischen Präsidenten im Fernsehen. «Eine amerikanische Journalistin befragte Hafez al-Asad und warf ihm vor, Nazis zu schützen, worauf er antwortete: ‹Beweisen Sie es doch!› Ich wusste ja Bescheid, aber ich konnte nichts sagen.» Er hat nie jemandem erzählt, was er im Geheimdienst tat, nicht einmal seinen Angehörigen.

Abu Yaman hat den Aufstand gegen die Regierung von Bashar al-­Asad schon sehr früh unterstützt. Er war der Kopf einer Einheit der Freien Syrischen Armee namens Saif al-Sham, «des Schwerts von Damaskus». Er zeigt Videos. Man sieht ihn mit seinem Bruder gegen die Soldaten des Regimes kämpfen. Sie präsentieren tote Feinde, Notizhefte auf Farsi und Arabisch, iranische Identitätskarten. Sie kämpfen im Schnee, man sieht die Golanhöhen unweit von Israel. Abu Yaman hat dort sein ganzes Leben verbracht, doch die Israeli erwähnt er nie. Sein Kampf gilt dem Regime. Er sagt, Asad sei «schlimmer als die Nazis». Aus diesem Grund redet er.

In Paris an der Rue de la Boétie lehnt sich Serge Klarsfeld in seinem Sessel zurück. Er macht eine Zeitreise, wir befinden uns am Anfang seiner Jagd: «1975 bin ich nach Wien gereist, um Alois Brunners Frau und seine Tochter zu treffen. Ich habe festgestellt, dass Madame Anni Brunner in einer Acht-Zimmer-Wohnung in einem der schönen Viertel wohnte.» Der Anwalt engagiert zwei Privatdetektive. «Einer verschaffte sich Zutritt bei der Tochter. Beim Durchsuchen der Wohnung fand er den Beweis, dass sie nach Damaskus in Syrien gereist war. Jetzt hatten wir die Adresse!»

Damals jagt Serge Klarsfeld mehrere Nazis. Absorbiert von den Fällen Bousquet, Touvier und Barbie, legt der Advokat das Dossier Brunner beiseite. 1982 nimmt er die Sache wieder auf, als er die Telefonnummer eines gewissen Dr. Georg Fischer in Damaskus bekommt.

Seine Frau Beate wählt die Nummer 33 20 90. 

«Hallo?»

«Herr Brunner, ich rufe Sie aus Bonn an. Mein Chef ist im selben Verein, und mein Vater hat lange mit Ihnen gearbeitet», erklärt Beate in tadellosem Deutsch und verklausulierter Sprache. «Ich gebe Ihnen seinen Rat weiter, nicht in die Schweiz zu reisen, um Ihr Auge behandeln zu lassen. Das Risiko eines Anschlags ist zu gross.»

«Ich danke Ihnen, gnädige Frau. Sagen Sie Ihrem Chef, dass ich für ihn bete, aber ich habe nicht vor, in die Schweiz zu gehen.»

Beate legt auf, ruft Brunners Frau in Wien an und wiederholt ihre kleine Nummer: «Gnädige Frau, benachrichtigen Sie Ihren Gatten! Das Risiko ist zu gross, in die Schweiz zu fahren.»

«Ich richte es ihm aus», dankt Anni Brunner besorgt.

Serge Klarsfeld ist jetzt sicher, dass «Georg Fischer» tatsächlich Alois Brunner ist, und fliegt nach Damaskus.

«Was wollten Sie dort?», fragen wir.

«Na, die Jagd wieder aufnehmen! Als ich vom Staatsanwalt in Frankfurt das Dossier zu Alois Brunner wollte, hatte er Mühe, es wiederzufinden. Seit zwanzig Jahren hatte niemand mehr in das Dossier geschaut!»

Serge Klarsfeld weiss, dass man ihn nicht sehr weit kommen lassen wird. Doch eine Festnahme in Syrien, weil man dort einen Naziverbrecher aufspüren will, erregt auch schon Aufsehen. Schliesslich schicken die Behörden von Frankreich und Deutschland je ein Auslieferungsbegehren an Syrien.

Die Presse reagiert, indem sie im friedlichen Leben des Georg Fischer nach verborgenen Details sucht. Der Illustrierten Die Bunte gelingt es, ihn 1985 in der syrischen Küstenstadt Tartus zu fotografieren. Das Bild zeigt einen Glatzkopf mit gestreiftem Hemd und Sonnenbrille. Er breitet die Arme aus, und sein Mund steht offen, als habe man ihn beim Erzählen einer Geschichte abgelichtet. Ihm fehlen drei Finger an der linken Hand.

Das Negativ wird an das anthropometrische Labor der Kriminalpolizei nach Wiesbaden geschickt, wo man es mit einer Aufnahme Brunners im Lager Drancy von 1943 vergleicht. Die Schädel und vor allem die Ohren stimmen überein – sie sind unverwechselbar wie die Finger. Die Identifizierung ist eindeutig: Das ist derselbe Mann.

Im jordanischen Irbid legt sich unser Gastgeber Abu Yaman ins Zeug, um seine früheren Kollegen ausfindig zu machen. Nach zahllosen Versuchen steht er wieder mit Abu Raad in Verbindung, der 22 Jahre lang, von 1978 bis 2000, in der Abteilung 300 tätig war. Heute lebt Abu Raad mit seiner Familie im riesigen Flüchtlingslager von Zaatari, in Jordanien.

Anfänglich will Abu Raad nicht mit uns reden. Dann kann ihn Abu Yaman doch dazu bewegen, und so kommt Abu Raad ihn besuchen, als wir auch zu Gast sind. Wir werden ihm als Journalisten vorgestellt. Mit seinem scheelen Blick, seinen faulen Zähnen und der rauen Stimme entspricht er perfekt dem Zerrbild eines Mukhabarat-Henkers. Wir nehmen ihn ohne sein Wissen auf.

«Ich war achtzehn Jahre bei Brunner, achtzehn Jahre! Jeden Tag füllte ich ein Präsenzblatt aus, das direkt an Hafez al-Asad ging. Nur ganz wenige von uns wussten, dass es Brunner gab, man sprach nie von ihm. Wenn er auf der Strasse spazierte, ging ich zwei Meter hinter ihm. Das machte ihn wahnsinnig, aber ich hätte mich an den Galgen geliefert, hätte ich ihn aus den Augen gelassen», sagt er mit grossem Stolz in der Stimme.

Er hat diesen Kerl nicht vergessen, «der Brunner besuchen kam und zu ihm sagte: ‹Gehen wir an den Strand!› Sie sind nach Tartus gegangen. Sie hatten die Erlaubnis dazu, ich weiss heute noch nicht, wie! Dieser Typ hatte eine Kamera in seiner Uhr, so entstand das Foto, das man überall sah.»

In Damaskus sind die syrischen Geheimdienste alarmiert. «Mein Gott, diese Geschichte ist uns schlecht bekommen», knurrt Abu Raad. Um jeden an die Wichtigkeit dieses Auftrags zu erinnern, liegt ständig ein Exemplar der Bunten herum. «Wenn wir unsere Befehle bekamen, hielt man uns die Seiten unter die Nase und warnte uns davor, so dumm zu sein wie die beiden Kollegen, die ihn in diese grosse Illustrierte gezerrt haben», ergänzt Abu Yaman.

Sein Kollege wird redselig: «Briefe kamen direkt in die Wohnung an der Avenue Charkassia in Abu Rummaneh. Abu Hossein bekam ein Gehalt, das er auf der Hauptpost abholen ging. Aber damit hörte man 1980 nach der zweiten Paketbombe, die in seiner Wohnung hochging, auf.» Sie hat ihn drei Finger gekostet.

Abu Raad schnurrt vor Eitelkeit: «Brunner traute keinem, was das Essen betraf. Er legte immer 17 bis 18 syrische Pfund für mich beiseite, weil er wusste, dass ich eine grosse Familie hatte. Ich brachte ihm Eier und Käse aus meinem Dorf, Butter und Kräuter. Er hatte einen Topf, in dem er Weizen keimen liess, wissen Sie, wozu?» Er hält inne, um sicher zu sein, dass alle ihm zuhören: «Wenn die Sprossen etwa handhoch waren, riss er sie aus und kaute sie. Er sagte, das sei gesund.»

Er beschreibt einen Menschen, der alles peinlich genau nimmt und sich mit Pflanzen auskennt. «Er gab Kamelien» – blasslila Blumen – «in siedendes Wasser und liess sie zwei Tage darin, dann goss er alles in ein Fläschchen und träufelte es sich in die Augen.» Die Pflanzen mussten im Schatten trocknen.

Die Wunden der beiden Paketbomben von 1961 und 1980 pflegt Brunner mit einem Heilmittel aus Öl, Chili und Senf: «Er kochte die Arznei auf und gab sie auf die schmerzenden Stellen. Er gab auch Jod und Wein auf die Haut.»

Der Nazi von Damaskus hat die Zeitschrift der österreichischen Gesellschaft für Heilpflanzen abonniert und erhält sie per Post. «Das war ein dickes Buch» – Abu Raad zeigt mit den Fingern sicher zehn Zentimeter an – «mit Abbildungen. Wenn er in den Sebki-Park ging, verglich er die Pflanzen dort mit denen im Buch, und wenn er eine passende fand, schnitt er sie ab und nahm sie mit.»

Abu Raad erinnert sich genau an die Marotten des Nazis. Beim Zubereiten einer Suppe galt: kein Fett, höchstens ein knapper Löffel Olivenöl, dann drittelte er Tomaten ebenso wie den Knoblauch, die Zucchini und die Zwiebeln, warf alles ins siedende Wasser und kochte es exakt sechzig Minuten lang. «Und niemals Salz in der Suppe. Salz war verboten!» Abu Yaman bestätigt: «Er fand Salz ekelhaft.»

«Jeden Morgen nach dem Erwachen machte er die Wohnung sauber. Das war sein Sport. Dann ass er sein Frühstück: Schwarzbrot mit etwas Butter und Aprikosenkonfitüre. Gegen zehn kleidete er sich wie ein Emir.» Abu Raad mimt einen Mann, der sich eine Sonnenbrille und einen Hut aufsetzt, die Hände im Rücken verschränkt und vor sich hin pfeift, worauf er in eine Art Paradeschritt verfällt. «Dann zog er seinen Morgenmantel an und kochte. Am Mittag ass er, und abends nahm er ein Glas Joghurt zu sich, das ist alles.»

Der Ex-Geheimdienstmann lässt eine lange Stille im Raum schweben. Er zündet sich eine Zigarette an, spricht sich Mut zu und schwärmt vom edlen syrischen Tabak, so ganz anders als die üblen chinesischen Kippen, an denen er im Flüchtlingslager sonst den ganzen Tag zieht.

«Er hatte auch seine Kaninchen auf dem Dach.»

«Wie bitte?»

«Er sagte, er habe keine Kinder, und darum seien die Kaninchen seine Kinder. Ich habe nie begriffen, was er damit sagen wollte, aber ich gab seinen ‹Kindern› dreimal am Tag ein Stück Brot.» 

Kaninchen fressen kein Brot, darum war der Nazi erbost und titulierte seinen Leibwächter als khoumar, was auf Arabisch «Esel» heisst. «Er sagte dem Chef: ‹Ich will diesen Mann nicht mehr sehen, der ist ein Esel!› Ach je, da habe ich achtzehn Jahre bei ihm verbracht, und ich schwöre bei Gott, dass ich ihn achtete! Ich denke sogar, wir waren Freunde.»

Brunners «Freund» fühlt sich privilegiert. «Wenn ich Wache schob, liess er mich in sein Klo pinkeln. Ich sagte: ‹Pissen!›, und er machte mir die Tür auf. Ich hatte als Einziger das Recht, in der Wohnung zu pinkeln.» Darauf ist Abu Raad sehr stolz. Abu Yaman bestätigt: «Stimmt! Die Einrichtung von Toiletten auf dem Dach war ein oft geäusserter Wunsch der Wachleute.» Kurz darauf rückt er mit einer weiteren Neuigkeit heraus: Die Explosion der zweiten Paketbombe hat ein Loch in den Boden der Wohnung gerissen. Das müsste immer noch da sein. 

Laut Abu Raad sah er am Ende mit seinem guten Auge nur noch wenig. «Nachts stieg er aufs Dach, um die Sterne zu sehen, und wenn er einen erahnte, war er zufrieden.» Brunner konzentrierte die ganze Kraft seiner versehrten Hand auf den Daumen: «Er tastete zunächst nach dem Schloss und öffnete dann die Tür mit seiner anderen Hand, der rechten. Er legte all seine Sachen an einen bestimmten Ort wie ein Blinder. Wenn man daran etwas verschob, wurde er fuchsteufelswild.»

Wir fragen, warum Brunner von Hafez al-Asad gedeckt wurde. Abu Raad wischt die Frage weg: «Um die Israeli zu ärgern!» Wir bieten ihm eine Zigarette an. «Brunner hat mir erzählt, wie er aus Paris geflohen ist. Beim Verlassen der Stadt hat ihn ein Soldat festgenommen, war es nun ein Russe, Engländer oder Amerikaner. Um passieren zu können, hat er ihm sein Zigarettenpäckchen angeboten, und der Soldat hat es genommen. Danach hat er vom Tabak endgültig die Finger gelassen. Er verachtete diesen Soldaten, der ihn passieren liess, und wiederholte: ‹Der Tabak ist ein Verräter.›»

Abu Raad sagt, dass Brunner meistens am Radio klebte und fast den ganzen Tag BBC hörte, dass er aber auch witzig sein konnte. Wenn sein Schützling Hitler nachahmte, verfiel er in zackigen Stechschritt. Wenn er Passanten in der Winterkälte ohne Kopfbedeckung vorbeigehen sah, nannte er sie abfällig khoumar. Der Wächter spricht das Wort mit deutschem Akzent aus und lacht schallend.

Abu Raad wird wieder einsilbig und ziert sich. Wir schmeicheln ihm: «Wie hast du dich gefühlt bei diesem Auftrag von höchster Wichtigkeit, den man dir anvertraut hatte?»

«Ich rechnete täglich damit, dass die Amerikaner vom Himmel herabfallen und uns angreifen würden. Wir waren 22, in zwei Wachtmannschaften von 11. Als der französische Präsident Jacques Chirac 1996 Syrien besuchte und Brunner von Hafez (al-Asad) ausgeliefert bekommen wollte, stockte man die Mannschaft auf 12 auf. Und damals hat man ihn auch verlegt.»

Er spürt, dass er zu viel redet, und bockt: «Danach weiss ich nicht mehr, was passiert ist, ich weiss nicht, wann Brunner gestorben ist. Ich wurde versetzt …» Doch dann sagt er von sich aus: «Das ist so oder so eine alte Geschichte … Es gab einen anderen Ort, in der Nähe des Präsidentenpalasts … Man hat ihn in den Keller des Hauptquartiers der Abteilung 300 gesteckt.»

Zweimal bringt es die französische Polizei fertig, dass der syrische Präsident direkt nach Brunner gefragt wird. Einmal über Jacques Chirac, dem Hafez al-Asad 1996 versichert, dass «Brunner nicht hier ist und nie in Syrien gewesen ist». Und zwei Jahre später, bei einem Auftritt des syrischen Präsidenten im französischen Fernsehen. Hafez al-Asads Antwort lautete: «Das hat doch nicht Hand und Fuss! Wenn Sie wissen, wo er sich befindet, schicke ich Ihnen gleich jemand, der Sie zu ihm begleitet.» Der ermittelnde Kommissar Philippe Mathy ist nicht überrascht, er hat sich die Sendung auf TF1 angeschaut: «Ich wusste, dass Asad es abstreiten würde, aber ich wollte seine Reaktion sehen. Er war verlegen.»

«Wenn man sich in diese Art von Auseinandersetzung stürzt, weiss man nie, ob man Erfolg haben wird. Bei Klaus Barbie ist die Sache gelungen. Bei Brunner haben wir leider bloss alles versucht», seufzt Serge Klarsfeld. 1986 bringt der Anwalt den Chef von Interpol dazu, einen internationalen Strafbefehl zu erlassen. 1990 will er sich in Syrien verhaften lassen, um international Aufsehen zu erregen: «Ich sollte mich in Damaskus mit dem Vizeaussenminister treffen, der aber nicht erschien. Dann fragte ich am Empfang des grossen Hotels, in dem ich logierte, ob ich einen Saal mieten könne. Das Thema meines Vortrags sei: ‹Die Naziverbrecher: Klaus Barbie in Bolivien und Alois Brunner in Syrien›.»

Serge Klarsfeld wird auf der Stelle verhaftet und in das nächste Flugzeug nach Europa gesetzt: einen Flug nach Wien. «Ich nahm irgendwo Platz, und der Zufall wollte es, dass der Mann neben mir ein Nachbar von Brunner in Damaskus war. Er lebte einen Teil des Jahres in den USA. Ich habe seinen Namen der Polizei gegeben, die ihn dort befragte. Er blieb ihr wichtigster Informant. Von ihm haben wir von Brunners Verlegung an jenem Tag im Jahr 1991 erfahren.»

An jenem Tag beobachtet der Nachbar aus seinem Fenster, wie der Nazi von Damaskus sichtlich geschwächt eine Ambulanz besteigt. Ein paar Tage später bezieht ein Soldat von Hafez al-Asads persönlicher Leibwache die verwaiste Wohnung.

«Haben Sie sich nie gefragt, warum das syrische Regime ihn in diesem Ausmass gestützt hat?», fragen wir Serge Klarsfeld. 

«Ein Agent der französischen Sonderdienste, der in den 1980er Jahren in Syrien sehr aktiv war, sagte mir, dass Brunner Syrien als Geheimpolizist beriet.»

«Hat Brunner die Sicherheitsdienste trainiert?»

«Er beriet sie und soll Spezialist für Folter gewesen sein … Aber dass er selber gefoltert hat, glaube ich nicht, er weigerte sich, einen Juden anzurühren.»

Hat Hafez al-Asad Alois Brunner angeheuert, um sich dessen Talente als Administrator und Folterknecht nutzbar zu machen? Regine Wiener, eine Überlebende von 1945, sagt:

«Er war ein Sadist, der grausamste von allen. Im Dezember 1942 habe ich gesehen, wie er eimerweise eisiges Wasser über alte Frauen schüttete.» Im Februar 1943 wurde Brunner nach Griechenland geschickt, um an den 54 000 im Ghetto von Saloniki eingepferchten Juden die «Endlösung» zu vollziehen. Ein Überlebender berichtet: «Der schlimmste der zwölf Henker war Brunner. Er peitschte seine Opfer mit einer Reitgerte mit schmalen Lederriemen, verflochten mit Eisendraht. Er terrorisierte sie mit einer Pistole, die er auf Nacken, Stirn oder Schläfe richtete, stellte sie an der Wand auf und schritt zur Scheinhinrichtung.» 

Ein Angehöriger des engsten Kreises des Asad-Clans, der zu den hochrangigen Vertretern des Sicherheitsapparats zählte, bevor er aus dem Land floh, und uns für diese Recherche Auskunft erteilt, bestätigt: «Nach Brunners Ankunft in Syrien ging er direkt zu Hafez al-Asad und stellte sich als enger Berater Hitlers vor. Und sogleich wurde er zum Präsidentenberater ernannt. Man schickte ihn nach Wadi Barada, einer Geheimdienstbasis. Dort hat er alle Hauptleute gedrillt.»

Die beiden Wächter zählen die Namen von Brunners Schülern auf: «Ali Haidar, Ali Duba, Mustapha Tlass, Shafiq Fayad …» Alle gehören zum innersten Kreis des Asad-Clans. Alle haben die Hauptsektionen des Mukhabarat geleitet: den militärischen und den zivilen Nachrichtendienst, die Direktion für Staatssicherheit, den Nachrichtendienst der Luftwaffe. Jede dieser «Abteilungen» unterhält ein Hauptquartier in Damaskus, regionale Zweigstellen und ihre eigenen Haftlager. Dort in diesen über das Land verstreuten Inseln werden in grossem Stil Männer, Frauen und Kinder gefoltert. Seit mehr als sechzig Jahren.

Der Forscher Nadim Houry hat zehn Jahre aufgewendet, um den syrischen Sicherheitsapparat für die NGO Human Rights Watch zu entschlüsseln. Er ist der Autor von Der Archipel der Folter, einer 81-seitigen Studie über den Mukhabarat, die zeigt, dass die syrischen Agenten noch immer mit 38 «Verhörtechniken» nach Wahl operieren.

«Ist Alois Brunner an der Wurzel dieses Systems?», fragen wir den Forscher Nadim Houry.

«Angeblich sollen die Deutschen die Geheimdienstleute ausgebildet haben. Es gibt da diese von den Folterern sehr geschätzte Methode: al-Kursi al-Almani, den ‹deutschen Stuhl›.» Der «deutsche Stuhl» ist ein mit Metallscharnieren ausgerüsteter Stuhl, auf dem das Opfer festgehalten werden kann, während man ihm den Rücken streckt bis zum Bruch. Manche Versionen haben zusätzlich Messer, mit denen beim Schwenken des Stuhls das Fleisch aufgeschlitzt wird. Nadim Houry: «Ich bin verblüfft, wie rigoros der Mukhabarat – trotz des Krieges – damit weitermacht, Leute festzunehmen, zu foltern, Rapporte zu visieren und Aktenberge anzuhäufen zu allem, was gesagt oder getan wurde, und die Leichen zu nummerieren. Sie haben ein eindrückliches Archivierungssystem und entschlossene Agenten. Es hat nur sehr wenige Desertionen gegeben.»

Für den Angehörigen des Asad-Clans ist dies ein «Überlebensreflex»: «Wenn es keine Richtung mehr gibt und die eigene Welt zusammenbricht, halten sich die Handlanger an dem fest, was sie können. Und was die Geheimdienstleute können, ist festnehmen und foltern.» Der ehemalige Regimevertreter zuckt zusammen, als er den Namen Alois Brunner hört. 

«Wurde Brunner fallengelassen?», wollen wir wissen.

«Brunner war eine Karte, die das Regime noch im Ärmel hatte. Man weiss nicht im Voraus, ob eine bestimmte Karte sticht, also legt man die Person auf Eis. Nur Diktaturen legen Menschen auf Eis. Und eines Tages lässt man sie fallen, weil man sicher ist, dass man sie nicht mehr brauchen wird, oder weil das alles zu teuer wird. Zu Zeiten Hafez al-Asads gab es ein System, wissen Sie. Sein Sohn Bashar glaubte es zu erben, aber ein System erbt man nicht, denn es beruht auf Personen und auf Beziehungen, denen man traut. Ein System muss man Schritt um Schritt aufbauen.»

Er beschreibt einen Staat, in dem die Geheimhaltung regiert, und erzählt zum Beweis folgende Anekdote: die Geschichte eines Generals des Nachrichtendienstes der Luftwaffe, den keiner kannte, nicht einmal die Strippenzieher des Mukhabarat. «Wir wussten alle nichts von ihm. Dieser General verkehrte nur mit dem Chef und war persönlicher Berater von Hafez al-Asad zu Iran und Russland. Als dieser starb, hatte sein Sohn Bashar zwei Optionen: ihn befördern oder in den Ruhestand versetzen. Ich war Bashars Berater, und ich riet ihm: ‹Dieser Mann weiss viel, triff dich mit ihm, um die Geheimnisse deines Vaters zu kennen!› Aber Bashar wollte nicht diskutieren und versetzte den Mann sogleich in den Ruhestand.»

«Hatte Brunner denselben Status?»

«Ich weiss nicht.»

«Hat die Folter damit etwas zu tun?»

«Nur die Leute, die von Brunner gedrillt wurden, werden Ihnen etwas dazu sagen können. Diese Art von Information gab man nicht weiter.»

«Sind Sie ihm begegnet?»

«Als Junge kam ich auf dem Heimweg von der Schule an seiner Strasse vorbei.»

«Was wissen Sie von seinem Tod?»

«Er war sehr alt, 90 glaube ich. Sie müssen etwas begreifen: Dieses Regime ist wie die Mafia. Wenn es jemanden schützt, so schützt es ihn wirklich. Aber wenn die internationale Gemeinschaft seinen Kopf wirklich gewollt hätte, so hätte sie ihn auch bekommen.»

Von der CIA freigegebene diplomatische Noten stützen diese Theorie. 1984 schreibt der amerikanische Botschafter in Damaskus, William Eagleton, seinem Aussenminister George Schultz, um ihm mitzuteilen, dass Brunner tatsächlich in Syrien sei und die kurdische Guerilla gegen die Türkei trainiere.

Von seinem Schreibtisch in Washington aus drängt Schultz seinen Botschafter zur Tat: «Machen Sie Druck, um seine Auslieferung zu erwirken!» Doch ein Jahr später schreibt Botschafter Eagleton: «Da meine Agenda von so heiklen Themen wie Terrorismus, Geiselnahmen und Marschflugkörpern beherrscht wird, habe ich noch nicht den idealen Moment gefunden, um das Problem Brunner beim Regime anzusprechen.»

1994 wurde ein 581-seitiges Dossier zu Alois Brunner vom deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) vernichtet. Als die Zeitschrift Der Spiegel den BND dazu befragte, sprach dieser von einem «bedauerlichen Vorfall». Arbeitete Alois Brunner alias Georg Fischer gar für den westdeutschen Geheimdienst? Schliesslich wurde dieser von Reinhard Gehlen, einem Ex-Nazi, gegründet.

Im jordanischen Irbid geht unsere Recherche mit der Hilfe von Abu Yaman weiter, der einen Wächter anruft, welcher Brunner in seinen letzten Jahren gekannt hat. Um seine Anonymität zu wahren, wollen wir den Wächter Abu Omar nennen. Abu Yaman stellt die Fragen. Nach all den gemeinsam verbrachten Tagen weiss er genau, was er herausfinden muss: wann Alois Brunner gestorben ist.

Serge Klarsfeld meint, Brunner sei 1992 gestorben. Doch 1995 versprach Deutschland noch eine Belohnung von 333 000 Dollar für jegliche Hinweise, die zu seiner Festnahme führen könnten. Sieben Jahre später setzte Österreich eine Belohnung von 50 000 Euro aus. Und 2014 erklärte der israelische Nazijäger Efraim Zuroff vom Simon-Wiesenthal-Zentrum, Alois Brunner sei 2010 in Damaskus im Alter von 98 Jahren gestorben. 

 «Hör zu, Bruder», sagt Abu Omar, «ich war da. Ich bin zu 100 Prozent sicher, dass es 2001 war. Es gab sogar ein Totenmahl, das die Leute von der Abteilung 300 in Mohajereen ausgerichtet haben, gegenüber der Mourabit-Moschee in Damaskus.» 

Das Gespräch findet über eine verschlüsselte App statt. Die beiden Wächter wählen ihre Worte sehr vorsichtig: «Ich bin absolut sicher, weil das Alphatier schon tot war.» Abu Omar meint Hafez al-Asad, der im Juni 2000 starb. «Und der allseits Geliebte» – in ironischem Ton spricht er von Asads Sohn Bashar – «wurde Chef.» Er nennt die Namen von allen Verantwortlichen des Mukhabarat damals: «Du erinnerst dich, Bruder! Jamil Hudeifah übernahm die Abteilung 300, und Bajat Suleiman war Chef der Abteilung 251 …» Darauf Abu Yaman: «Ich habe bei meinem Abschied von der Einheit gehört, man habe dem Friedhofswächter gesagt, da sei ein alter Herr ganz allein gestorben und man habe den Leichnam bereits nach muslimischem Brauch gewaschen.»

Abu Omar bestätigt: «Ja, er starb 2001! Und das Begräbnis fand nachts statt, gleich nach dem letzten Gebet.» Im Islam wird das salat al-isha, das letzte Gebet des Tages, um etwa 19 Uhr 30 verrichtet. «Beim Totenmahl haben wir sfiha gegessen – eine Art Fleischsoufflé –, aber wir scheuten die Leute und ihre Blicke. Falls uns ein Nachbar eine Frage stellte, sollten wir sagen, einer unserer Agenten sei gestorben.»

Auf Bitte von Abu Yaman soll er von den letzten Jahren des alten Nazis erzählen. «Man hat ihn in ein Zimmer unter der Treppe gebracht. Man kam durch die Hintertür ins Haus, neben dem Blumenladen. Sobald er im Zimmer war, sperrte man die Tür zu und öffnete sie nie wieder. Er hat diesen Raum nie verlassen. Sie haben ihn sehr schlecht behandelt, das steht fest. Er schrie und beleidigte die Soldaten. Sie gaben ihm kaum Medikamente, nur Aspirin. Er kam dort nie mehr raus.»

Die Spannung steigt. Abu Omar sagt, er habe Angst. Doch Abu Yaman sagt mit ruhiger Stimme, er solle sich keine Sorgen machen, das Gespräch sei verschlüsselt. «Dein Wort in Gottes Ohr! Dieser Anruf gefällt mir nicht besonders.»

Er erzählt vom Begräbnis: «Es fand auf dem Friedhof al-Afif statt, die Strassen wurden gesperrt, damit niemand zuschaute. Ich stand in Deckung draussen und konnte nicht einmal zusehen. Man musste dem Geschehen den Rücken kehren. Nur acht Personen durften der Zeremonie beiwohnen, die ‹Handverlesenen›, darunter zwei Alawiten: Mohamed al-Hassan, der Chef der Wachen im Hauptquartier von Mohajereen, und Ali el-Madani, der Hauptmann der Wachablösungen.»

«Wie lange hast du da gedient?», fragt Abu Yaman.

«Ich war dort von 1987 bis 2002 im Dienst, dann wurde ich versetzt, du weisst, wohin.»

Abu Yaman flüstert uns zu: «Abteilung 251.» Wieder lauter fragt er seinen Gesprächspartner abrupt, wie Brunner gestorben sei. «Er war sehr müde, sehr krank. Er litt und schrie oft, alle hörten ihn. Nur die Wächter konnten mit ihm reden. Zu meinem Dienstbereich gehörte das nicht, ich durfte ihn nicht einmal sehen. Einmal konnte ich einen Blick auf ihn werfen, als die Wachen die Tür aufmachten, um das Zimmer von Insekten zu befreien. Er war gross und glatzköpfig und mindestens 80 Jahre alt.»

«Wer sorgte für sein Essen?»

«Der Chef der Wachen brachte ihm das Essen, er hatte Anrecht auf eine Soldatenration, ein elender Frass: ein Ei oder eine Kartoffel, eins von beidem.»

Man hört von Zeit zu Zeit Kindergeschrei im Hintergrund, während der Wachmann in seinem besorgten Ton weiterspricht: «Das Zimmer war ekelhaft, schmutzig. Für gewöhnliche Leute war das ein unmenschlicher Ort, aber Abu Hossein – wie man Alois Brunner nannte – hat sich an dieses Leben gewöhnt.» 

Abu Omar erzählt von Brunner in seinem Verlies. «Du weisst, die Gefangenen leben in einer anderen Wirklichkeit. Manchmal schrie er, auch lachte er schallend, ein irres Gelächter, und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Das ging so tage- und manchmal gar wochenlang, bis er wieder normal wurde. Verstehst du, was ich mit anderer Realität meine? Er hatte eine Hautkrankheit wegen des Mangels an Sonne und frischer Luft. Wahrscheinlich half ihm der Lärm, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Wenn niemand über ihm herumtrampelte, wusste er, dass die Büros geschlossen waren.»

Abu Omar lacht verlegen auf: «Nicht einmal ein Tier sperrt man an einem solchen Ort ein.»

«Warst du dabei, als sie ihn in das Zimmer gebracht haben?», fragt Abu Yaman.

«Nein, aber du weisst ja, wie das geht: immer nachts mit Eskorte. Vor seiner Ankunft stand die Tür offen. Danach war sie die ganze Zeit zu. Nach seinem Tod hat man die Zelle frisch gestrichen, und die Tür ging wieder auf.»

Abu Yaman kommt auf die Daten zurück:

«Weisst du, wann man ihn in das Zimmer gebracht hat?»

«Wart mal. Gott helfe mir, mich zu erinnern …»

«Lass dir Zeit …»

«Nach 1995, 1996 oder 1997. Aber vor 1999, das steht fest.»

«Weisst du, warum sie das getan haben?»

«Aus Sicherheitsgründen.»

«Er war gefährdet?»

«Natürlich war er gefährdet! Draussen wusste man, dass es ihn gab, er hatte auch schon ‹Geschenke› erhalten. Die Situation war heikel. Man befürchtete Mordanschläge und Entführungen, dass man ihn fotografiere oder bombardiere. Alles konnte geschehen, wirklich alles.»

Abu Yaman fragt ihn, wer Brunner denn hätte töten können, was ihn amüsiert: «Israel natürlich!» Dann wird die Atmosphäre auf einmal frostig: «Ich komme mir vor wie bei einem Verhör. Du erinnerst mich an die Zeit, als ich 36 Tage ununterbrochen in Haft war.» Abu Yaman beruhigt ihn und redet von seiner Arbeit: «Ich habe keine, ich sitze zu Hause und kratze mich am Kopf.» Da müssen alle lachen.

Abu Yaman geht wieder in die Offensive: «Was hältst du von ihm?»

«Als Typ, meinst du? Ich habe oft sagen hören, er sei wohlmeinend und habe versucht, den Wachen, die auf ihn aufpassten, Ratschläge zu ihrer Gesundheit zu geben.»

«Als du erfahren hast, was er getan hat, was hast du da gedacht?»

«Was ich weiss, das weiss wirklich nicht jeder. Er war ein wichtiger Offizier in Deutschland. Ich habe einmal eine Sendung im Fernsehen gesehen, Apokalypse hiess sie, da war von dem Typen die Rede. Früher interessierte man sich nicht gross für diese Dinge, unser Geist war nicht offen genug. Erst mit der Revolution von 2011 wurde uns bewusst, wer wir waren. So oder so ist es schwer, als Fremder allein zu sterben. Auch wenn er ein schlechter Mensch war wie Saddam Hussein, tut er mir leid.»

Abu Omar sagt am Telefon, es wäre kein Problem für ihn gewesen, Brunner ins Gefängnis zu werfen, «aber wenigstens in ein richtiges Gefängnis, das die menschlichen Grundbedürfnisse achtet». Noch der schlimmste Mensch hat das Recht auf einen Prozess, findet er. «Er konnte sich nicht einmal waschen … Der Mann tut mir jedes Mal leid, wenn ich an ihn denke, er ist eine Million Mal gestorben.»

Aus dem Französischen von Irma Wehrli.