Mit Podcast

Die Scheinehe meiner Mutter  

In einer Karaokebar in Taiwan findet eine Chinesin zum Glück. Bis der Konflikt beider Länder ihr Leben ins Wanken bringt.

Dieser Inhalt ist für Sie freigeschaltet.

Journalismus kostet. Ausnahmsweise lesen Sie diesen Artikel kostenlos.

Recherchen wie diese gibt es dank der Unterstützung unserer Abonnent:innen. Vielen Dank, wenn auch Sie demnächst als Abonnent:in dabei sind.

Diese Reportage gibt es auch als Podcast zu hören.

«Sag niemals Taiwan»

«Wie haben Sie Ihren Ehemann kennengelernt?» Das Flugzeug war am 19. April 2012 in Taoyuan gelandet. In einem Verhörraum des Flughafens sass Wu Lishan, meine Mutter, einem Beamten gegenüber. Die Atmosphäre war angespannt, in der Ecke machte eine weitere Person in Polizeiuniform Notizen. Der Beamte fragte weiter: «Hat Ihr Ehemann Ihnen jemals Geld für den Lebensunterhalt gegeben? Hat er Ihnen eine Mitgift gegeben? Hatten Sie eine Hochzeitsfeier? Was ist Ihr Beruf? Wie ist Ihre finanzielle Situation? Haben Sie vor, lange in Taiwan zu bleiben? Haben Sie Ihren Mann je auf Reisen mitgenommen?» Von ihrem Ehemann hatte Lishan nur eine vage Vorstellung: Ah Tao* war kahlköpfig und sieben Jahre älter als sie. Das war alles, was sie wusste.

Einige Monate zuvor hatte Lishan 50 000 Yuan (heute 5600 CHF) ausgegeben, um sich über einen Menschenschmuggler einen taiwanischen Ehemann zu kaufen. An diesem Tag versuchte sie, mit einem Visum für Familiennachzug nach Taiwan einzureisen. Ihr Scheinehemann wurde deshalb im Nebenzimmer befragt. Wenn ihre Antworten nicht übereinstimmten, würde meine Mutter abgeschoben werden. Sie war 43 Jahre alt, ihre Wangen hingen bereits ein wenig, was unter dem weissen Licht gnadenlos zum Vorschein kam. Vor der Reise hatte sie sich die Haare glätten und braun färben lassen und eine Lederjacke gekauft. Sie fragte sich, ob ihr Ehemann die abgesprochenen Antworten geben oder Unsinn reden würde.

Bald teilte der Beamte Lishan mit, dass sie die Befragung nicht voll-
ständig bestanden habe, aber vorübergehend nach Taiwan einreisen dürfe: «In drei Monaten findet eine weitere Befragung statt.» Sie würde entscheidend sein. Als sie den Raum verliess, traf Lishan auf ihren Scheinehemann. Bei der Frage zu ihren Reisen hatten ihre Antworten nicht übereingestimmt. In Gedanken schimpfte Lishan über seine Dummheit: Wie kann man einen Ausflug in einen Park als Reise bezeichnen? Dennoch hatte sie die Möglichkeit, vorerst auf der fremden Insel zu leben. Anstatt mit Ah Tao zu gehen, schleppte Lishan ihr Gepäck zu ihrer Freundin Yang Yi nach Taoyuan, wo sie mit anderen Frauen aus ihrer Heimatstadt in einem 20 Quadratmeter grossen Zimmer zusammengepfercht war. Ihr Handgepäck bestand aus Zahnpasta, Damenbinden, Fusstüchern, ein paar Kleidungsstücken und Zhacai. Die Preise in Taiwan waren hoch, daher war es eine gute Idee, Dinge des täglichen Bedarfs mitzunehmen. Das eingelegte Gemüse Zhacai passte gut zu Reisbrei und sparte Geld für Lebensmittel. Sie hatte kein Bargeld dabei. Yang Yi hatte ihr versichert, dass sie Arbeit finden würde, sobald sie den Flughafen verliess. 

Lishan wusste nur wenig über Taiwan. Sie wurde in einem Dorf in der Provinz Fujian an der Ostküste Chinas geboren. Dort hatte sie einmal eine seltsame Begegnung mit einem Wasserstoffballon aus Taiwan. Er fiel während des drei Jahrzehnte währenden Ballonkriegs zwischen Taiwan und China vor ihr vom Himmel. Er transportierte getrocknetes Rindfleisch, Broschüren und eine Kassette mit dem Lied Wann kommst du zurück? von der taiwanischen Popsängerin Teresa Teng, das in China verboten war. Lishan stellte sich Taiwan als Ort mit hoch aufragenden Wolkenkratzern vor. Jemand hatte ihr einmal beschrieben, dass die Strassen mit Stapeln von Geldscheinen übersät seien. 

Viele Geschichten über Migration beginnen mit dem Mythos, reich zu werden. In der Gegend, in der Lishan lebte, gab es grosse und kleine Träume von Taiwan. Vor ihr waren ein Dutzend Frauen aus ihrem Heimatdorf durch Scheinehen nach Taiwan gelangt. Man erzählte sich, dass eine Frau kaum eine Woche in einer Karaokebar arbeiten musste, bis jemand bereit war, ihr eine Million Taiwan-Dollar (NT-$) zu geben, damit sie ihm folgte, um in den Bergen Bambussprossen anzubauen. 

Wie einfach war es, dort Geld zu verdienen? Es hiess, dass Männer in Karaokebars Geldscheine auf den Boden warfen. Die Frauen, die dort arbeiteten, zogen sich nackt aus, rieben sich mit Öl ein und wälzten sich auf dem Boden, bis möglichst viele Scheine an ihren Körpern klebten. Wenn es gut lief, konnten sie angeblich bis zu 50 000 Yuan (5600 CHF) im Monat verdienen. Als Lishan in Taiwan ankam, sagte man ihr mit Bedauern: «Lishan, du bist zu spät gekommen. Wenn du fünf oder zehn Jahre früher gekommen wärst, wärst du jetzt reich.»

Als Lishan und ich uns elf Jahre später beim Abendessen gegenübersassen, wussten wir, wie ihre Reise geendet hatte – sie war nicht reich geworden. Ihr Haar war grau geworden. Sie faltete Teigtaschen, die sie am nächsten Tag auf der Strasse verkaufen würde. In den 28 Jahren, in denen wir Mutter und Tochter waren, war sie zehn Jahre lang abwesend. Als ich 18 war, liess sie sich von meinem Vater scheiden, wurde die Ehefrau eines Taiwaners und begann ein Leben auf der anderen Seite der Meerenge. Ich kann mich nicht mehr erinnern, zu welcher Jahreszeit sie gegangen ist. Ich weiss nur noch, dass sie vor der Abreise an meinem Bett sass und sagte: «Wenn dich jemand fragt, wo deine Mutter arbeitet, sag niemals Taiwan.» In Fujian ist nach Taiwan gehen gleichbedeutend mit Prostitution. 

Sie schwor mir, niemals als Prostituierte zu arbeiten. Es dauerte lange, bis mir klar wurde, wie unheimlich dieses Gespräch gewesen war. Wie demütigend für eine Mutter, ihrer Tochter ein solches Versprechen zu geben. Meine Cousine riet mir:

Wenn mich jemand fragte, was sie beruflich macht, sagte ich: «Sie arbeitet als Köchin in einer anderen Stadt.» Damit log ich nicht. Ich wusste, dass sie kleinere Gerichte für die Gäste in der Karaokebar zubereitete. Ich flehte mein Gegenüber innerlich an, nicht weiter nachzufragen. Gleichzeitig fühlte ich mich schuldig, weil ich mich nicht traute, mir einzugestehen, dass sie eine Lücke im System ausgenutzt hatte, um in Taiwan ihren Körper zu verkaufen. Sie und andere Frauen, die nach Taiwan gegangen waren, wurden «Festlandmädchen» genannt. In den späten 1980er Jahren galten sie als Opfer, die von Schleppern gelockt worden waren. Heute bezeichnet der Begriff gierige Frauen vom Festland. Sie hatten sich dieses Schicksal selbst ausgesucht, daher hat der Begriff einen spöttischen Unterton.

Im Jahr 2021 wurde Lishan auf das Festland zurückgeschickt, ihr Leben wurde zurück in ihre Heimat verpflanzt. Zwei Jahre später kündigte ich meinen Job und kam nach Hause, um einen Sommer mit ihr zu verbringen. Eines Morgens half ich ihr, Sachen auszusortieren, und fand abgelaufene Medikamente aus Taiwan. Ich warf sie in den Müll, aber sie stellte sie zurück auf den Tisch, neben alte Parfümflakons und ungeöffnete Gesichtscrèmes, die sie behandelte wie kleine Denkmäler. Sie vermisste ihr Leben in Taiwan. 

Ich beschloss, meine Mutter zu fragen, wie sie die zehn Jahre dort verbracht hatte. Zunächst lehnte sie ab. Selbst wenn Mutter und Tochter ein enges Verhältnis hatten, gab es eine verbotene Zone, die man als Kind nicht betreten durfte. In diesen Tagen gingen wir oft nach dem Abendessen in einen Park am Meer. Seit sie nach Taiwan gegangen war, waren wir uns selten so nah gewesen. Bei den Spaziergängen wurde ihr klar, dass unsere Gespräche eine Gelegenheit waren, einander besser zu verstehen. Sie willigte in meine Bitte ein. 

Gegen Ende des Sommers sass ich auf dem Rücksitz ihres babyblauen Elektrorollers, um sie zu ihren «Schwestern» zu begleiten, die zur gleichen Zeit nach Taiwan gegangen waren. Ich lehnte an ihrem Rücken, und in diesem Moment fand ich sie mutig. 

Das rechte Ohr

Lishans rechtes Ohr summte von Zeit zu Zeit. Der Klang hallte tief in ihrer Hörschnecke wider. Von aussen war an diesem Ohr, das unter ihrem

Haar versteckt war, nichts Besonderes auszumachen. Aber diejenigen, die Lishan nahestanden, wussten, dass es schwer beschädigt war. Im Sommer 2007 hatte sie sich bei einem Streit mit ihrem Mann den Kopf an einem Schrank gestossen und kurzzeitig das Gehör verloren. Der Arzt stellte fest, dass das Trommelfell perforiert war und sie eine Gehirnerschütterung hatte.

Ähnliche Gewalttaten gab es in ihrer Ehe unzählige Male. Sie ereigneten sich meist in der Nacht. Obwohl zwei Wände dazwischenlagen, konnte ich hören, wie sie Dinge zerschlugen, manchmal begleitet von einem dumpfen Schlag, der klang, als würde ein Körper auf Möbelstücke prallen. Ich hatte solche Angst, dass meine Mutter zu Tode geprügelt werden würde, dass ich einmal aus meinem Zimmer rannte. Ich sah Blut um ihren Mund, fiel auf die Knie und flehte um ihr Leben. Als der Morgen kam, fegte ich die Scherben von Bierflaschen in den Mülleimer, bevor ich über den klebrigen Boden ging und meinen Rucksack für die Schule nahm. Mein jüngerer Bruder war noch klein. Er ging mit den Ereignissen auf kindliche Weise um, indem er die Küchenmesser im Kühlschrank versteckte. 

Meine Eltern waren Fischer, sie besassen ein Dutzend Zuchtkäfige für Gelbschwanzmakrelen vor der Küste. Jeden Tag tauchte Lishan ihre Hände in den Eimer mit Fischfutter, griff nach faustgrossen Portionen und warf sie den Fischen zu. Meine Eltern hatten zwar ihre Streitigkeiten, aber mein Vater wurde lange nicht gewalttätig, da er ihre Hilfe brauchte. Nachdem sie mit 30 ihr zweites Kind zur Welt gebracht hatte, begann Lishan an der Taille zuzunehmen. Ihr Mann lachte sie oft aus: «Du bist fett wie eine Sau.» Nach dem Umzug in die Stadt arbeitete er weiter als Fischer, sie wurde Hausfrau. Heimlich nahm Lishan Diät­pillen, von denen sie Durchfall bekam. Sie probierte auch einen Vibrationsgürtel aus, der ihren Bauch taub machte und ihren Körper jucken liess. Als die Sticheleien ihres Mannes häufiger wurden, wehrte sie sich mit noch hässlicheren Worten, was zu den körperlichen Auseinandersetzungen führte. 

Das Klingeln in ihrem rechten Ohr erinnerte Lishan an diese Demütigungen. Unfähig, mit der Gewalt fertigzuwerden, liess sie sich 2010 scheiden und nahm ihre Tochter mit, während sie ihren Sohn bei ihrem Exmann zurückliess. Yang Yi, die seit vielen Jahren in Taiwan lebte, schlug meiner Mutter vor, ihr zu folgen und dort Geld zu verdienen, denn wie sonst sollte eine alleinerziehende Frau überleben? Meine ­Mutter lehnte ab, weil sie nicht wollte, dass ihre Kinder stigmatisiert würden. Gemäss ihrer Vereinbarung zog sie aus und mietete eine Zweizimmerwohnung. Eines Nachts hörte sie ihren Sohn vor ihrem Fenster schreien. Sie nahm ihn zu sich. Da Lishan nichts anderes kannte, fand sie nur auf dem Fischmarkt Arbeit. Jeden Tag musste sie Schuppen abkratzen, Bäuche aufschneiden und Innereien herausnehmen. Wenn sie nach Hause kam, roch sie nach Fisch. Ihre Handflächen waren voller Schnitte. Sie verdiente 80 Yuan (9 CHF) pro Tag.

Nachdem sie das Sorgerecht für ihren Sohn bekommen hatte, erhielt sie von ihrem Exmann gelegentlich ein paar hundert Yuan für den Lebensunterhalt. Das Geld, das sie bei der Scheidung von ihm erhalten hatte, würde bald aufgebraucht sein. Sie ergriff die Initiative und fragte Yang Yi, ob sie ihr einen Scheinehemann vermitteln könne. Die meisten Frauen, die auf diese Weise nach Taiwan gingen, erzählten ähnliche Geschichten. Sie waren entweder mit familiären Schulden konfrontiert, mussten die alleinige Verantwortung für ihre Kinder übernehmen oder flohen vor häuslicher Gewalt. 

Bevor sich einer der weltgrössten Batteriehersteller ansiedelte, war Ningde an der südöstlichen Küste eine der ärmsten Gegenden Chinas. Bei der wirtschaftlichen Entwicklung auf beiden Seiten der Meerenge gab es riesige Unterschiede. Nachdem Taiwan Teil der Lieferketten für die europäische und nordamerikanische Industrie geworden war, erlebte es einen rasanten Aufschwung. Im Jahr 1991 lag das Bruttoinlandprodukt bei knapp 9000 US-Dollar pro Kopf, China erreichte dieses Niveau erst 2017.

Ningde war von der Meereswirtschaft geprägt. Die Fischer nahmen für die Aufzuchtphase oft Kredite auf und zahlten diese zurück, wenn sie im folgenden Jahr ihren Fisch verkauften. Zur Jahrtausendwen­de litt die Branche unter der unregulierten Fischerei, die Zuchtfischer waren nicht mehr in der Lage, ihre Schulden zu begleichen. In diesen Jahren zogen viele Fischer in die Stadt, um Arbeit zu suchen. Frauen hatten wenig Kontrolle über die Finanzen ihrer Familien. Nun beschlossen sie, nach Taiwan zu gehen, dort Geld zu verdienen und es über Untergrundbanken an ihre Familien auf dem Festland zu überweisen. In Karaokebars und Massagesalons Geld zu verdienen, war dabei einfacher als mit körperlicher Arbeit. «Damals dachten alle im Dorf, dass nur unfähige Männer ihre Frauen zu so etwas zwingen würden. Sie drückten ein Auge zu, weil sie Angst hatten, dass man sie ächten würde, wenn ­herauskäme, dass sie ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten. Also mussten die Frauen die Last tragen», sagte Lishan. 

Ich traf Weng Bi in einem Laden für getrocknete Meeresfrüchte. Sie hatte ihr Haar zu einem niedrigen Pferdeschwanz gebunden und schenkte mir Tee ein. Als sie 1992 im Alter von 25 Jahren zur blinden Passagierin wurde, hatten sich die Beziehungen zwischen China und Taiwan zu entspannen begonnen. Das Schiff legte nachts ab und fuhr bis zum nächsten Nachmittag. Als sie in taiwanisches Hoheitsgebiet einfuhren und auf Patrouillenboote trafen, trieb der Schlepper die 40 bis 50 Frauen aus dem Osten der Provinz Fujian in eine dunkle Kabine. Das Boot schaukel­te heftig. Nach einem Tag ohne Essen war Weng Bi kurz davor, Galle zu erbrechen.

Sie hatte 30 000 Yuan (3360 CHF) bezahlt, um an Bord zu kommen. Darin waren die Kosten für die Überfahrt und das Bestechungsgeld enthalten. Diejenigen Frauen, die es nach Taiwan schafften, hatten Glück. Einige erstickten, andere wurden bei Kontrollen entdeckt und sprangen ins Meer. Als ich Weng Bi fragte, warum sie ein solches Risiko eingegangen war, antwortete sie mir: «Mir wurde gesagt, dass ich in einem Monat in Taiwan so viel verdienen kann wie innerhalb eines Jahres in Ningde. Über die Konsequenzen habe ich nicht nachgedacht. Ich bin einfach gegangen.»

Die Frauen, die mit ihr geschleust worden waren, wurden auf die Regionen Taipeh und Yilan verteilt. Sie arbeiteten in der Textilindustrie, in Krankenhäusern und Schönheitssalons. Sie mussten sich ihre Existenz quasi aus dem Nichts aufbauen. Ihre Nachrichten aus der neuen Welt ebneten den Weg für die erste Generation von Scheinehen. Weng Bi heiratete einen Mann aus einem Fischerdorf und eröffnete eine Schneiderei. Nach der Geburt ihrer Tochter 1994 schickte sie ein Hochzeitsfoto mit Baby an ihre Verwandten. Nachdem sie ihre Aufenthaltserlaubnis erhalten hatte, ging sie wählen, wann immer sie konnte:

Die Hilfe ihrer Landsfrauen war eine wesentliche Voraussetzung für die Entscheidung, mittels einer Scheinehe nach Taiwan zu gehen. Die Frauen waren wie Spitzmäuse, die sich an den Schwänzen des Vordertiers festbissen, um in einer Karawane Felder nach Nahrung abzusuchen. Nachdem meine Mutter sich eingelebt hatte, zog sie in die Stadt Hsinchu und lebte in einem Wohnhaus in der Strasse der Freiheit. Wann immer «Cousinen» vom Festland ankamen, wurden sie vorübergehend hier untergebracht, bis sie eine feste Unterkunft hatten. Das Alter war ein entscheidendes Kriterium für die Verteilung der Arbeitsplätze. Frauen im Alter von 20 bis 35 Jahren arbeiteten in Hotels, während diejenigen über 35 in Karaokebars unterkamen. Sie gaben sich Pseudonyme, die ihnen ein Gefühl von Sicherheit verliehen, und nutzten ihren Dialekt als Geheimsprache, um einander mitzuteilen, wenn ein Gast Trinkgeld gibt. 

Die Hausbewohnerinnen besuchten sich selten – sie arbeiteten bis in die Nacht und brauchten tagsüber dringend Schlaf. Eine Ausnahme war, wenn sie einander beim Färben ihrer Haare halfen. Viele der Frauen waren in ihren Vierzigern oder Fünfzigern, in den Bars waren graue Haare ein Stimmungskiller. Das Haus bestand aus Einraumwohnungen mit Kochnische, Kühlschrank und Waschbecken. Lishan bekam von ihrer Nachbarin aus der oberen Etage eine Bettdecke mit Blumenmuster geschenkt, einen Schuhschrank, Töpfe und Pfannen fand sie auf der Strasse. Kleidung kaufte sie in Secondhandläden. Um zu der Karaoke­bar zu gelangen, in der sie arbeitete, musste sie nur die Treppe hinuntergehen, einmal um die Ecke biegen und eine Gasse durchqueren. 

Lishan stellte schnell fest, dass Taiwan nicht so glamourös war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Häuser waren gedrungen, die Vergnügungsstätten steckten in heruntergekommenen Blechhütten. Nach ihrer Ankunft wurde sie von Yang Yi gebeten, sie zu einem Abendessen zu begleiten. «Ich habe Angst, allein zu gehen», sagte Yang Yi. Sie stellten sich als Cousinen vor. Nach dem Essen gaben taiwanische Männer ihren weiblichen Begleitungen üblicherweise 2000 bis 3000 NT-$ (55 bis 82 CHF). Als die Männer die mollige Lishan sahen, war ihre erste Reaktion: «Mit deinem Aussehen willst du in Taiwan als Hostess arbeiten?» Sie verlangten eine andere Frau. Bei anderer Gelegenheit hiess es: «Geh, setz dich an einen anderen Tisch.» Freundlichere Kunden gaben ihr etwas Geld, damit sie den Raum verliess.

Meine Mutter hat daraufhin in zwei Karaokebars gearbeitet. In der ersten ermahnten die einheimischen Frauen die Gäste, den Chinesinnen kein Trinkgeld zu geben. Manchmal kam es deshalb zu Handgreiflichkeiten. In der zweiten Bar blieb sie am Ende sechs Jahre, sie hiess «Azure Karaoke» und war täglich von 17 bis 2 Uhr nachts geöffnet. Beim Betreten sah man auf eine Bühne mit rotem Teppich, im Saal waren braune Ledersofas angeordnet. Die Gäste sassen an Tischen und wählten Songs aus der Jukebox oder Songbüchern aus, die der DJ der Reihe nach spielte. Der Besitzer hatte eine Freundin aus Ningde, so dass die Frauen vom Festland besser behandelt wurden. Die Bars zahlten keine Löhne. Das Einkommen der Damen bestand aus Trinkgeldern. Wenn ein Kunde etwas zu trinken bestellte, wurde dies auf die Rechnung einer Dame gesetzt. Von 1000 NT-$ für Getränke behielt eine Dame 200. Karaokebars sind traditionell in zwei Bereiche unterteilt: den Saal und die privaten Kabinen. Dafür wählen die Gäste eine Dame aus, die sie dort bedient.

Die Arbeitskleidung bestand aus Lederstiefeln, einem hüftbetonenden Rock und einer Handtasche, in der sie ihr Trinkgeld verstauten. Hsinchu war ein wichtiger Standort der Hightech-Industrie. Die Barbesucher waren mittelalte und ältere Männer aus den umliegenden Gemeinden, die in den Fabriken arbeiteten. Am ersten Tag des Monats erhielten sie ihren Lohn, daher lief das Geschäft in der ersten Woche am besten. Wenn sie sich beim Mixen der Getränke vertaten, beschimpften die Gäste die Frauen. Die Geldscheine steckten sie ihnen in den Ausschnitt. Als Lishan an der Reihe war, wich sie zurück. Der Gast fragte sie: «Willst du nichts?» Sie antwortete: «Doch.» «Dann komm her und ich steck es dir zu.» Sie trug hochgeschlossene Kleider, also verdiente sie anfangs kaum etwas. 

Die anderen Frauen wussten, wie man mit den Männern redet. Lishan sass nur da und starrte vor sich hin. Manchmal schlichen sich Hände an ihren Oberschenkeln hoch, was ihr eine Gänsehaut über den Körper jagte. Dann suchte sie eine Ausrede, um nach draussen zu gehen. Der Manager kam zu ihr und fragte, warum sie weinte. Sie sagte: «Ich vermisse meine Kinder.» Ein anderes Mal musste sie sich erklären, nachdem ein Gast sie berührt hatte und sie weggerannt war.

Im Winter spielten sie das Ausziehspiel. Wenn ein Gast beim Würfeln verlor, gab er 100 NT-$. Wenn eine der Frauen verlor, zog sie ein Kleidungsstück aus. Als Lishan nur noch ein Unterhemd und einen Slip anhatte, sperrte sie sich im Badezimmer ein. Der Manager stand vor der Tür und redete ihr gut zu, aber sie schämte sich zu Tode. 

Xiaoyao war eine Kindheitsfreundin von Lishan. Sie hatte sich die Brüste vergrössern lassen, bevor sie nach Taiwan gekommen war. Anfangs hatte Xiaoyao Zementsäcke geschleppt und Orangen gepflückt und kaum etwas verdient. Nachdem sie den Weg in die Karaokebar gefunden hatte, verbesserte sich ihre finanzielle Lage. «Sie war so ein unschuldiges Mädchen», erinnerte sich Lishan. Jetzt sass sie auf dem Schoss der Gäste und nannte sie «Liebling» oder «Ehemann». Einmal traf meine Mutter auf eine 18-jährige Taiwanerin, die den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen und mit 16 in der Bar angefangen hatte. Sie sass auf dem Schoss der Männer und liess sie ihre Brüste anfassen. Als Lishan sie sah, musste sie an ihre Tochter denken. Sie verabscheute es, auf diese Weise Geld zu verdienen. Gleichzeitig lernte sie, das Spiel mitzuspielen. Wenn ein Gast sie abgewiesen hatte, fragte sie ihn: «Willst du Titten anfassen? Ich kenne eine Frau, die dir ihre Titten zeigt.» Dafür verlangte sie eine Vermittlungsgebühr von 500 NT-$. Lishan erklärte mir, wie hilflos sie sich dabei fühlte. Drei Jahre später war sie in der Bar zu einem bekannten Gesicht geworden. Sie hatte gelernt, mit den Gästen zu sprechen: «Grosser Bruder, du scheinst heute gute Laune zu haben. Wie alt sind deine Kinder? Hast du schon eine Freundin?»

An Tagen, an denen nur wenige Gäste kamen, versammelten sich die Frauen aus Ost-Fujian, tranken, rauchten und erzählten sich, wie sehr sie ihre Heimat vermissten. Yang Yi sagte einmal betrunken zu Lishan: «Für Geld gehen wir durch die Hölle.»

Der Ananaskuchen

Wenn Lishan mitten in der Nacht nach Hause kam, war sie betrunken oder fühlte sich einsam. Durch das Tragen der High Heels hatte sie Schmerzen in den Waden. In ihrer Wechat-App leuchteten rote Punkte auf, sie standen für ungelesene Nachrichten. Ihr Sohn ging in die Mittelstufe, seine Nachrichten klangen so gekränkt, dass ihr beim Lesen die Tränen kamen. Meine Mutter verpasste die Geburtstage ihrer Kinder. Sie schwor sich deshalb umso mehr, in Taiwan genug Geld für den Kauf einer Wohnung zu verdienen. Zum Frühlingsfest und in den Sommerferien kam sie für jeweils eine Woche nach Hause. Zeit zum Reden war kaum. Sie fuhr mit ihrem Roller herum, um für uns eine Unterkunft für das nächste Jahr zu finden. Ständig wurden meine Bücher ein- und wieder ausgepackt, die Fahrer der Umzugswagen warfen die Kisten mit unseren Sachen einfach auf den Boden unserer neuen Bleibe. Die Vermieter kamen oft vorbei, um uns zu ermahnen, leiser zu sein.

Jedes Mal, wenn meine Mutter zurückkam, brachte sie eine Schachtel mit einem Ananaskuchen mit. Ich habe ihn nie mit Klassenkameraden geteilt, um nicht erklären zu müssen, woher er kam. Ich behielt ihn in der Schultasche, bis er zerquetscht war. Lishan verliess immer zwischen 3 und 4 Uhr morgens die Wohnung. Bevor sie ging, streichelte sie das Gesicht ihres schlafenden Sohnes und gab mir Anweisungen für den Tag. Mein Bruder und ich waren fünf Jahre auseinander. Wenn meine Mutter weg war, übernahm ich ihre Rolle. Wenn uns das Geld ausging, fuhren wir zu meiner Tante, um Geld abzuholen. Ich hatte die Verantwortung für die Erziehung meines Bruders und musste mich neben meinen Schularbeiten auch um seine kümmern. Das führte dazu, dass ich meiner Mutter Vorwürfe machte. Warum endete ihre Verantwortung bei der Überweisung von Geld und einem Ananaskuchen? Warum wälzte sie ihre Pflichten einfach auf mich ab?

Aber der Groll wich bald meinem Verantwortungsgefühl. Angesichts des Leids meiner Mutter machte ich mir Vorwürfe: Wäre ihr Leben ohne uns nicht glücklicher? Ich fühlte mich oft erschöpft und hatte Streit mit ihr. «Ich will kein Geld mehr von dir. Ich werde dir alles zurückzahlen, was du für mich ausgegeben hast», schrieb ich ihr. Heute würde ich das nicht mehr so hart ausdrücken, aber damals wollte ich meiner Mutter Schuldgefühle bereiten. Ich erreichte mein Ziel. Nachdem sie meine Nachricht erhalten hatte, weinte sie tagelang.

Später erfuhr ich, dass mein Bruder zu dieser Zeit eine noch schlimmere Krise durchmachte als ich. Wir hatten keine Ahnung, wie wir die Distanz zu unserer Mutter überbrücken sollten. Sie war auch ratlos. Wenn es nichts zu reden gab, schickte sie uns Fotos ihrer Mahlzei­ten. Meistens war es ein Eintopf mit fermentiertem Tofu, der so lange gekocht worden war, dass man die Zutaten nicht mehr erkennen konnte. Als sie mitbekam, dass ich mich in der Schule langweilte, schimpfte sie auf mich ein: «Ich esse wegen euch beiden nur Reste. Wenn du nicht zur Schule gehen willst, dann komm mit mir nach Taiwan und arbeite als Kellnerin.» Unsere Streitigkeiten schwollen an wie Flutwellen, ehe sie langsam verebbten. Am Morgen erhielt ich eine Sprachnachricht von ihr, die sie betrunken aufgenommen hatte: «Liebling, schlaf weiter. Morgen wird alles besser.» 

Als sich das Leben meiner Mutter stabilisiert hatte, wollte sie mehr Menschen «erziehen». Bevor China 2019 Individualreisen nach Taiwan verbot, hatte sie nacheinander ihre Nichten zu sich geholt. Sie liess sie bei sich wohnen und nahm sie abends mit zur Arbeit. Zu dieser Zeit hatte sich die wirtschaftliche Differenz zwischen beiden Ländern verringert. Frauen, die keine Scheinehe eingehen wollten, nutzten 15-tägige Visa, um auf der Insel schnelles Geld zu verdienen. Ich setze das Wort «erziehen» in Anführungszeichen, weil ich in der Hilfe meiner Mutter eine Verzweiflungsaktion sah. Dank ihrer Unterstützung verbesserte sich aber die finanzielle Lage ihrer Nichten, Lishans Ansehen in der Familie stieg.

Während meiner Ausbildung entwickelte ich ein Bewusstsein für Geschlechterfragen. Als ich mich für ein Masterstudium bewerben wollte, lehnte mein Vater dies mit der Begründung ab, Mädchen müssten nicht so viel lernen. Ich erhielt von ihm kein Geld. Die einzige Person, die mich unterstützte, war meine Mutter. In gewisser Weise war sie eine der am wenigsten feministischen Frauen, die ich kannte. Sie war den Blicken und Übergriffen von Männern ausgesetzt und von deren Begehren abhängig, um Geld zu verdienen. Andererseits tat sie alles, um mir eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Es war mir peinlich, wenn wir darüber sprachen, wie sie die Brüste anderer Frauen anpries. Was mich schmerzte, war nicht mehr die Wut, dass sie uns verlassen hatte, sondern der Verlust ihrer Autorität als Mutter. Stattdessen sah ich eine komplexe weibliche Figur vor mir. Früher konnte ich ganz selbstverständlich sagen: «Ich bin nicht wie du – und werde auch niemals so werden wie du.» Heute kann ich das nicht mehr. 

Yuhua war gross und hübsch, ihr pfirsichfarbenes Haar hatte eine Trennlinie zu ihrem weissen Ansatz: Sie zeigte, wann sie Taiwan verlassen hatte – vor zwei Jahren. Yuhua war Lishans Freundin. Im Gegensatz zu meiner Mutter, die immer die Stirn runzelte, war sie eine fröhliche Frau. Sie war gleich zwei Scheinehen in Taiwan eingegangen. Nicht aus Not, sondern aus freien Stücken. «Damals lag in Ningde überall Müll herum. Abends gab es überall Saufgelage und Schlägereien. Ich hatte gehört, dass Taiwan viel offener ist, mit besserem Klima und einer Krankenversicherung für alle, und dass die Taiwaner gebildet und kulti­viert sind.» Yuhua blätterte in einem Fotoalbum, um mir zu zeigen, wie sie früher ausgesehen hatte. Ich stellte mir vor, wie die stilvoll gekleidete junge Frau auf den Fotos in ihr neues Leben aufgebrochen war.

Um das Jahr 2000 gab es eine starke Zunahme von Scheinehen. Yuhua erinnerte sich, dass sie Schlange stehen musste, um die Papiere zu beantragen. Die Auflagen waren gering, das Verfahren einfach. Die Befragungen an Flughäfen gab es noch nicht. Gemäss den damaligen Vorschriften mussten taiwanische Ehemänner alle sechs Monate für ihre chinesischen Ehefrauen bürgen. Aufgrund dieses Systems waren die Frauen von ihren Ehemännern abhängig, die oft die Gelegenheit nutzten, um zusätzlich zu den Vermittlungsgebühren monatlich Geld zu verlangen, sonst würden sie die Frauen bei der Polizei anzeigen.

Die Ehemänner waren oft Alleinstehende, die keine Partnerin fanden, seit langem geschieden, arm, behindert oder obdachlos. Die Schlepper suchten oft in Parks nach ungepflegten Männern und überredeten sie, eine Scheinehe einzugehen. Frauen, die Glück hatten, kamen an einen Veteranen, der eine Rente bezog und es seiner Ehefrau nicht allzu schwer machte. Nach ihrer Ankunft in Taiwan dauerte es erst zwei Jahre, bis sie eine Arbeitserlaubnis bekamen. Da sie auf ein sofortiges Einkommen angewiesen waren, entschieden sich fast alle Scheinehefrauen dazu, schwarzzuarbeiten.

Um zu verhindern, dass sie davonliefen, hielten einige Ehemänner sie zu Hause gefangen. Als Yuhuas erster Ehemann nicht mehr bereit war, für sie zu bürgen, tauchte sie unter. Wann immer sie eine Polizeisirene hörte, schaltete sie ihr Handy aus und versteckte sich zitternd unter ihrer Bettdecke. Einmal sah Yuhua aus der Ferne ein Polizeiauto, flüchtete in einen Rohbau und stürzte eine Treppe hinunter. Mit blutendem Bein kauerte sie in einer Ecke und wartete, bis die Polizei weg war. Yuhua lebte in einer Wohnung, die sich sechs Frauen teilten. Sie traute sich nicht, nach draussen zu gehen. Als sie die Angst nicht mehr ertragen konnte, beschloss sie, nach Hause zurückzukehren. Obwohl sie wusste, dass sie am Flughafen festgenommen werden würde, buchte sie ein Flugticket, auf dem Weg zur Polizei weinte sie unaufhörlich. «Sie haben meine Aussage völlig verdreht. Als ich einen Blick auf das Protokoll warf, hatten sie geschrieben, dass ich als Prostituierte gearbeitet hätte. Wie konnten sie so etwas schreiben?»

Im Jahr 2002 versuchte die amtierende DPP-Regierung, die Wartezeit auf einen Personalausweis für chinesische Ehepartner von acht auf elf Jahre zu erhöhen, konnte dies aber nicht durchsetzen. Zwei Jahre später führte Taiwan die Interviewverfahren bei der Einreise ein. Im Jahr 2008, nach der Rückkehr der chinafreundlichen Partei KMT an die Macht, verabschiedete die Regierung ein Gesetz nach dem anderen, um das Verfahren für Aufenthaltsvisa zu vereinfachen. Die Wartezeit auf den Ausweis wurde von acht auf sechs Jahre verkürzt, Chinesinnen konnten direkt nach ihrer Ankunft eine Arbeitserlaubnis und eine Krankenversicherung bekommen.

Während der Präsidentschaft von Ma Ying-jeou von 2008 bis 2016 wurden die Bestimmungen weiter gelockert, es kam zu einem neuerlichen Anstieg der Scheinehen. Nach sechs Jahren auf dem Festland kehrte Yuhua nach Taiwan zurück und lernte meine Mutter kennen. Obwohl beide Frauen eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatten, fürchteten sie sich weiterhin vor Polizeikontrollen. Die meisten Karaokebars waren mit Überwachungstechnik ausgestattet. Sobald die Polizei vorfuhr, ertönte ein Alarm, und die Frauen rannten zur Hintertür. Yuhua und Lishan folgten ihnen wortlos.

Da sie nicht fliehen konnten, versteckten sie sich unter der Küchentreppe. Dort war nicht genug Platz für alle, meine Mutter wurde er- wischt. «Wie kannst du es wagen, an einem Ort wie diesem zu arbeiten. Bist du nicht hierhergekommen, um bei deiner Familie zu leben?», fragte der Polizist. Sie antwortete: «Ich bin hier, um eine ehemalige Klassenkameradin zu treffen.» Wenn Scheinehefrauen in den Bars aufgegriffen wurden, untersuchte die Polizei, warum sie dort gewesen waren. Wenn die Angaben nicht mit denen ihrer Scheinehemänner übereinstimmten, wurde es schwierig, einen Personalausweis zu bekommen. Flucht war die beste Überlebensstrategie. Eine weitere Regel war, nicht über Politik zu sprechen. Yuhua merkte sich, welche Gäste die DPP unterstützten, die für die Unabhängigkeit von China eintritt, und wer für die KMT war: «Bei den Anhängern der DPP muss man vorsichtig sein», sagte sie. 

Die Frauen wurden oft als die «Freundinnen» der Bargäste gesehen. «Obwohl diese Männer schon über sechzig waren, glaubten sie immer noch an die Liebe. Sie sagten, dass sie sich Hals über Kopf verliebt hätten oder sich um uns kümmern wollten. Sie gaben uns Geld, auch wenn sie knapp bei Kasse waren», sagte Lishan. Die Frauen mussten diese Zuneigung erdulden. Eines Abends schlug Lishan einen Mann während eines Streits vor der Bar. Er hatte das Geld verspielt, das er an ihre Schwester in China überweisen sollte. Als die Polizei kam und nach ihrer Beziehung fragte, brach sie in Tränen aus und log: «Er ist mein Arbeitgeber und schuldet mir Lohn!» Die Frauen zählten wie besessen die Jahre, die sie brauchten, um einen Personalausweis zu bekommen. 

Bei Yuhua traf ich ihre Freundin Xiangmei. Sie war um die ­fünfzig, sah aber viel jünger aus. Während Yuhua und ich uns unterhielten, sass sie still in der Ecke. Wenn ich ihr eine Frage stellte, nickte sie nur oder antwortete vage. Als das Thema Aufenthaltstitel aufkam, wandte sich Xiangmei mir zu und flüsterte: «Eigentlich will ich den Ausweis gar nicht so sehr.» In diesem Moment öffnete sich ein kleines Fenster zu ihrem Herzen. Nach ihrer Scheidung von ihrem Mann hatte sie ihren Sohn allein grossgezogen. Ihre Situation hatte sie 2014 veranlasst, nach Taiwan zu kommen. Sie sagte: «Ich habe den Personalausweis nur beantragt, um meinen Scheinehemann loszuwerden.» Immer wenn sie sich privat trafen, versuchte er, sie zu berühren. Als Xiangmei sich weigerte, mit ihm zusammenzuziehen, belästigte er sie. Er drohte, sie an­zuzeigen. Sie bat die Polizei, eine Verfügung gegen ihn zu erlassen, damit er sich ihr nicht mehr näherte. Sechs Jahre später hatte Xiangmei die Frist für die Ausstellung eines Ausweises erfüllt. Dafür musste sie ihren Ehemann noch einmal treffen. Ihre Stimme zitterte.

Vor einem Jahr erhielt Xiangmei ihren Ausweis. An dem Tag verspürte sie keine Freude. Das Erste, was sie tat, war, sich scheiden zu lassen.

Mama Li

Ich erinnere mich, dass mein Vater früher am Esstisch zu mir sagte: «Frag nicht deine Mutter. Die hat doch keine Ahnung.» Mein Bruder und ich verbündeten uns mit ihm. Nach einem Streit mit unserem Vater kritisierte ich sie: «Du hättest ihm nicht widersprechen sollen.» Mein Bruder pflichtete mir bei: «Ja, Mama, halt einfach den Mund.» In Taiwan hatte meine Mutter ein Intensivtraining in Umgangsformen absolviert. Um ihren Horizont zu erweitern, lernte sie Taiwanisch. Das Ganze hatte mit zwei Gästen in der Karaokebar begonnen. Als sie erfuhren, dass Lishan keine taiwanischen Lieder singen konnte, brachten sie ihr einige Lieder Zeile für Zeile bei. Daraufhin suchte sie in ihrer Wohnung die neuesten Lieder auf ihrem Handy heraus und übte sie ein. Den Text schrieb sie auf, Zeichen für Zeichen. 

Der Besitzer der Karaokebar erlaubte ihr, deren Küche zu benutzen. Für eine Schüssel Nudeln mit Sojasauce und Frühlingszwie-beln konnte sie bis zu 500 NT-$ (14 CHF) verdienen. Sobald Gäste in die Bar kamen, ging sie auf sie zu und fragte: «Hast du schon gegessen? Soll ich dir eine Schüssel Nudeln bringen?» Von da an bekam sie den Spitznamen «Ma­ma Li». Da sie die Phantasien der Männer nicht anregen konnte, spielte sie die Rolle einer Mutter. Sie hatte ihre Nische gefunden und verdiente erst rund 40 000 NT-$ im Monat, dann stieg ihr Verdienst auf bis zu 100 000 NT-$ an (2750 CHF). Lishan hatte in der Zwischenzeit auch Freunde gefunden. Eine Frau kam jeden Mittwoch zu ihr, um mit ihr zu singen. Und dann war da noch Liansiou, die zwanzig Jahre älter war als sie. Sie nahm meine Mutter mit zu Familienausflügen. Als sie erfuhr, dass Lishans Kinder zur Schule gingen, gab sie ihr Geld. Ein Lkw-Fahrer lud sie oft auf einen Drink ein. Nachdem sie einmal getrunken hatten, wollte er ihr 2000 NT-$ zustecken. Sie schob das Geld zurück: «Ich nehme es, wenn du in die Karaokebar kommst, um Spass zu haben. Aber wir sind jetzt Freunde.»

In der Weihnachtszeit mussten die Frauen in der Bar Kostüme und Pelzmützen tragen. Der Chef war als Weihnachtsmann verkleidet, trug einen grossen Sack und verteilte daraus Trinkgelder. Um das neue Jahr zu feiern, lud er die Frauen in ein gehobenes Restaurant zum Essen ein. An ihrem 49. Geburtstag veranstaltete die Karaokebar eine Party für ­Lishan. Sie schickte mir davon ein Video. Darin hielt sie einen riesigen Blumenstrauss in den Händen. Sie trug ein gepunktetes Kleid und schwang ihren Körper hin und her, während sie fröhlich lachte. Nach einer Weile schmierte ihr jemand Schlagsahne ins Gesicht. Sie schrieb zu dem Video: «Das war das erste Mal, dass ich einen schönen Geburtstag hatte.» Ich antwortete ihr: «Mama, du sahst so süss aus.» Mein Bruder und ich wussten, dass unser Vater am 4. September Geburtstag hatte. Aber niemand hatte je an ihren Geburtstag gedacht. 

Xiaopei war eine weitere Freundin von Lishan. Sie war zwei Jahre jünger, lebhaft und lustig. An dem Tag, an dem wir uns kennenlernten, trug sie ein Matrosenkleid und eine glänzende Umhängetasche. Bei einem Spaziergang hielten sie und meine Mutter Händchen wie kleine Mädchen. Xiaopeis zehn Jahre in Taiwan waren eine Zeit, in der sich ihr Leben wieder entfaltet hatte. Nach der Geburt ihres Sohnes litt sie unter schweren postnatalen Depressionen. Sie nahm Medikamente, um sie in den Griff zu bekommen. In der schlimmsten Phase lag sie zehn Monate im Bett. Als sich ihr Zustand nicht besserte, wurde sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Sie versuchte, sich die Pulsadern aufzuschneiden und sich zu erhängen. Während dieser Zeit liess sich ihr Mann scheiden und nahm ihren Sohn zu sich.

Xiaopei sehnte sich nach einer Veränderung. Mit vierzig wollte sie endlich ein unabhängiges Leben führen. In Taiwan erholte sie sich langsam von ihrer Depression. Xiaopei hielt sich drei Tage pro Woche frei, an denen sie nicht in Karaokebars arbeitete. In ihrer Freizeit reiste sie mit dem Rucksack um die Insel. Überall, wo sie hinkam, arbei­tete sie in lokalen Bars, um genug Geld für ihren Lebensunterhalt und die nächste Fahrkarte zu haben. An einem Frühlingstag überredete Xiaopei meine Mutter, mit ihr nach Taitung zu fahren, um dort die heissen Quellen zu besuchen. Sie übernachteten in einem Haus im japanischen Stil und trugen Yukata-Gewänder. Unterwegs machten sie viele Fotos. Lishan dachte erstmals darüber nach, für immer in Taiwan zu leben. 

Ihr Lieblingsort war Yehliu, eine Landzunge an der Nordküste, et­wa zwei Autostunden von Hsinchu entfernt. Die bizarren Felsformationen waren durch tektonische Aktivität entstanden und wirkten wie einsame Gestalten. Auf einem der Fotos stand Lishan auf einem der Felsen, breitete ihre Arme aus und liess den Wind durch ihre Haare wehen. Wer so viel Zeit in einer schummrigen Karaokebar verbrachte wie sie, sehnte sich nach Weite.

An einem Morgen im Mai 2016 wurde die DPP-Politikerin Tsai Ing-wen vereidigt. Ihre Wahl zur Präsidentin löste bei den Scheinehefrauen Unruhe aus. In den Karaokebars murmelten sie: «Jetzt ist diese Teufelin im Amt. Das kann nichts Gutes werden.» Tsai Ing-wen weigerte sich, den Konsens von 1992 anzuerkennen. Er besagt, dass es nur ein China gebe, was eine Unabhängigkeitserklärung der Republik China (Taiwan) ausschloss. In der Folge sanken die Beziehungen zwischen Taiwan und Chi­na auf einen Tiefpunkt. Die Verkürzung der Wartezeit für einen Auf­enthaltstitel wurde für Ehepartner vom Festland gekippt, die Befragungen am Flughafen wurden schwieriger. Die Polizei ging härter gegen Scheinehen vor. 

Im Jahr 2016 hatte Yuhua einem alleinstehenden Mann eine Frau vom Festland vermittelt. Als er sich nach einem Monat scheiden liess, begann die Polizei gegen Yuhua zu ermitteln. Dabei wurde auch der Menschenschmuggler gefasst. Für ein milderes Strafmass gab er die Namen der Frauen preis, die er eingeschleust hatte. Als meine Mutter einen Anruf von der Einwanderungsbehörde erhielt, dachte sie: «Das ist das Ende.» Die Staatsanwaltschaft legte die Fälle von Yuhua und Lishan zusammen. Die Aussage des Schleppers liess ihnen keine Chance auf einen Freispruch. Als sie ihn in der Karaokebar sahen, rannte Lishan auf ihn zu und versuchte, ihn zu schlagen, wurde aber von umstehenden Personen zurückgehalten. 

Die Kontrollen konzentrierten sich auf das Bett, das Badezimmer und den Kleiderschrank. Also hatte Lishan Zahnbürsten, Handtücher, Hausschuhe und Kleidung, die sie nicht mehr trug, in die winzige Wohnung ihres Ehemanns gebracht. Es sollte so aussehen, als würden sie dort zu zweit leben. Die Inspektoren kamen spät in der Nacht und fanden ihre Zahnbürste und Hautpflegeprodukte mit Staub bedeckt vor. Sie folgerten, dass sie nicht zusammenlebten, was zu der Feststellung einer Scheinehe führte. Im Vergleich zu anderen Scheinehemännern war Ah Tao ein guter Kerl. Er drohte Lishan nie, sie anzuzeigen, und belästigte sie auch nicht. Obwohl er gerne prahlte, verstand Lishan, dass dies ein Anzeichen eines geringen Selbstwertgefühls war. Seine Exfrau hatte ihn betrogen und ihm Geld gestohlen. Das Grillrestaurant, das er geführt hatte, musste schliessen. Aufgrund einer körperlichen Behinderung konnte er nur noch Gelegenheitsjobs als Wachmann oder Tellerwäscher annehmen und kämpfte ums Überleben. 

Lishan betrachtete ihn als ihren taiwanischen Bruder. Im zweiten Jahr ihres Aufenthalts hatte Ah Tao auf ihrer Aufenthaltsgenehmigung ihr Geburtsdatum gesehen und ihr einen Kuchen gekauft. Einmal lieh sie sich 20 000 NT-$ von ihm für einen Notfall. Er half ihr, ihre Krankenkassenbeiträge zu bezahlen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Sie hielten Abstand zueinander und verstanden sich fünf Jahre lang gut. 2017 lernte Ah Tao online eine Frau kennen, die in Hongkong lebte, aber behauptete, wie er aus der Provinz Hunan zu kommen. Ah Tao chattete gerne mit ihr. Lishan warnte, dass die Frau ihn vielleicht betrüge. Er glaubte ihr nicht und bestand darauf, ihr Geld zu schicken und ein Treffen zu arrangieren. «Wenn du sie so magst, warum heiratest du sie dann nicht?», fragte Lishan.

Ah Tao lehnte ab. Als er zuvor auf das Festland gereist war, hatte er vorübergehend bei Lishans zweitältester Schwester gewohnt. Aus Sorge, dass Lishan schikaniert werden könnte, kümmerte sich diese Schwester um Ah Tao und bat ihn, Lishan zu helfen, einen legalen Status in Taiwan zu erhalten. Ah Tao fühlte sich wertgeschätzt. Er sagte zu Lishan: «Da ich es deiner Schwester versprochen habe, werde ich auf jeden Fall warten, bis du deinen Ausweis hast.» Er kaufte ein Flugticket nach Hongkong. Bei seiner Ankunft war die Frau nirgends zu finden. Ah Tao war betrogen worden. Nach seiner Rückkehr wurde Ah Tao depressiv. Einmal schluckte er eine Überdosis Schlaftabletten. Er wurde gerettet, weil Lishan den Krankenwagen rief. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus schloss sich Ah Tao oft für lange Zeit in seinem Schlafzimmer ein. Lishan konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen, also kam sie, um für ihn zu kochen und ihn zum Friseur zu bringen.

Als er das letzte Mal vor Gericht erschien, sah er zerzaust aus. 

Einen halben Monat später kettete Ah Tao sich an einem Pavillon fest, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Er starb im Frühjahr 2018. Immer wenn wir über Ah Taos Tod sprachen, wechselte Lishan schnell das Thema. In der Nacht, in der er sich umgebracht hatte, erhielt sie einen Anruf von der Polizei, um seine Leiche zu identifizieren. Im Kofferraum seines Autos fand die Polizei einen Abschiedsbrief. Auf zwei Blättern hatte Ah Tao letzte Worte an seine Familie und Freunde gerichtet, ein paar Zeilen waren für seine Ehefrau bestimmt: «Lishan: Kämpfe nicht gegen die Anklage, verschwende kein Geld für Anwaltskosten, geh nach Hause. Du hast eine Familie.» 

Die Verbannung

An einem sonnigen Tag im Juni 2021 packte Lishan ihre Koffer und nahm ein Taxi nach Zhubei, um nach Hause zu fliegen. Sie trug einen weissen Schutzanzug. Aufgrund der Pandemiemassnahmen war keine Freundin gekommen, um sie zum Flughafen zu begleiten. «Ich war sehr traurig. Auf der ganzen Fahrt habe ich mich gefragt, wann ich zurückkehren kann.» Ein Jahr zuvor hatte sich das Coronavirus in Taiwan ausgebreitet, «Azure Karaoke» musste schliessen, ohne dass Lishan sich von den Gästen verabschieden konnte. Sie schlief den ganzen Tag und ging nachts allein mit Maske spazieren. Gelegentlich erhielt sie Nachrichten, dass Freunde an einer Infektion gestorben waren.

Ihr Prozess war seit fünf Jahren im Gange, erst vor dem Bezirksgericht, dann vor dem Obersten Gerichtshof in Taipeh. Jedes Mal, wenn sie vor Gericht erschien, erinnerte sie sich an Ah Taos Tod. Freunde schlugen ihr vor, unterzutauchen, falls sie den Prozess verlieren sollte. Ihr Sohn stand mittlerweile kurz vor seinem Schulabschluss, ihre Tochter hatte ihr Studium beendet. Im Sommer 2020 rief ihr Sohn an und teilte Lishan mit, dass bei ihm eine Depression diagnostiziert worden war. Da wurde ihr klar, dass sie zurückkehren musste. Im Dezember fällte das Gericht das Urteil. Yuhua und Lishan wurden wegen der Anstiftung eines Beamten zur Fälschung eines Dokuments zu einer Haftstrafe von sechs Monaten verurteilt, die in eine Geldstrafe umgewandelt wurde. Zudem wurden sie abgeschoben und durften in den nächsten fünf Jahren keinen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung stellen. Zusammen mit den Anwaltskosten mussten die beiden Frauen jeweils um die 400 000 NT-$ (10 970 CHF) bezahlen.

Nachdem sie den Zeitpunkt ihrer Rückführung erfahren hatte, liess Lishan sich die Augenlider straffen, die Brauen pigmentieren und die Lippen aufspritzen. Zurück auf dem Festland konnte sie mit ihrem Handy nicht mehr auf ausländische Internetseiten zugreifen. Da sie nicht wusste, wie man die staatliche Internetzensur umgeht, verlor sie den Kontakt zu ihren Freundinnen in Taiwan. Sie hatte neun Jahre in Taiwan gearbeitet und nach Abzug ihrer Lebenshaltungskosten und der Schulgebühren für ihre Kinder etwa 400 000 Yuan (11 000  CHF) gespart. Mit dem Geld kaufte sie sich eine 100 Quadratmeter grosse Wohnung in einem Vorort von Ningde. Sie hat drei Schlafzimmer, das kleinste war für sie reserviert. Am besten gefiel ihr die helle Küche. Es würde 25 Jahre dauern, bis sie den Kredit zurückgezahlt haben würde. Da sie seit über einem Jahrzehnt keine Sozialversicherungsbeiträge gezahlt hatte, hatte sie fast keine Rentenansprüche. Sie brauchte weiterhin einen Job, um für den Kredit und ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Der Kreisel musste sich weiterdrehen.

Für eine Frau um die fünfzig mit einer Mittelschulausbildung war es extrem schwierig, in China Arbeit zu finden. In den zwei Jahren seit ihrer Rückkehr hatte sie mehr als zehn Jobs. Sie betrieb einen Marktstand, auf dem sie Meeresfrüchte verkaufte. Nach einem Monat kam die Polizei und beschlagnahmte ihre Waage, in dem Trubel wurde ihr Handy gestohlen. In einem Obstladen wurde sie entlassen, weil sie zu langsam kassierte. In einem Paketzentrum bekam sie 100 Yuan am Tag, bis das körperliche Pensum zu viel für sie war. Als sie hörte, dass eine Batteriefabrik weibliche Arbeitskräfte suchte, fuhr sie mit ihrem Elektroroller zu dem Werk. Unterwegs wurde der Akku leer, also bat sie den Chef, sie abzuholen. Weil er nicht kam, musste sie ihr Moped kilometerweit nach Hause schieben.

Es folgten weitere Jobs: Aushilfe in einem Imbiss, Kellnerin, Aushilfe an einem Marktstand. Sie verkaufte hausgemachte Xiaolongbao und Yanpi auf der Strasse, danach war sie Spülkraft in einem Grillrestaurant, mit zwei freien Tagen im Monat. Als sie eines Abends von all ihren Stationen erzählte, fingen wir beide nach einer Weile an zu lachen. Wir verstanden beide, warum. «Wenn du das aufschreibst, wirke ich dann nicht dumm?», fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. Mir kam ein Bild für ihre Situation in den Sinn. Sie war der Maulwurf aus dem Spiel Hau den Maulwurf. Jedes Mal, wenn sie ihren Kopf aus der Erde reckte, stiess das Schicksal sie zurück in den Bau. 

Dem Dieb ihres Handys schrieb sie: «Dieses Handy ist nicht viel wert, aber es enthält viele wichtige Fotos und Kontaktdaten. Wenn Sie es mir zurückgeben, werde ich es Ihnen nicht übelnehmen und sogar etwas dafür bezahlen.» Sie erhielt keine Antwort. Im Laufe der Jahre verschlimmerten sich die Nachwirkungen ihrer Gehirnerschütterung. Sie kam mit leeren Händen aus dem Supermarkt nach Hause, die Einkaufstüten hatte sie stehengelassen. Ihre Erinnerungen an Taiwan verschwammen. Eine Zeitlang war sie sehr traurig, als sie von den Gerüchten über einen Krieg zwischen Taiwan und China hörte. Sie fragte mich: 

In Ningde hatte sie mit den Blicken der Leute zu kämpfen. Als ihr Exmann sie bei einem Festessen um Geld bat, was sie ihm verweigerte, beschimpfte er sie: «Was gibt es denn an ihrem Geld zu bewundern? Sie hat sich in Taiwan prostituiert.» Lishan stürzte an seinen Tisch und schlug ihm ein Glas ins Gesicht. Das Essen endete im Eklat. Sie kehrte nur noch selten in ihr Heimatdorf zurück. Wenn sie nicht mit ihrem Roller herumfuhr, um Arbeit zu suchen, verbrachte sie die meiste Zeit auf dem Sofa. Sie kauerte darauf und wusste nicht, was sie tun sollte. 

Im Sommer kehrte Xiaopei auf das Festland zurück. Bei ihr zu Hause beschrieb sie uns die Situation in Taiwan. «Azure Karaoke» hatte nur noch wenige Gäste. Die jüngere Generation ging nicht in Karaokebars, sondern bevorzugte gehobenere Unterhaltungslokale. Die Frauen, die noch in den Bars arbeiteten, waren mittlerweile um die sechzig und hatten vom Alkohol gezeichnete Körper. Oft wurden sie in Rollstühlen nach Hause gebracht, wenn sie zu betrunken waren. «Es ist schwer, Geld zu verdienen. Wir sind auf Stammkunden und Freunde angewiesen, die uns heimlich etwas mehr geben, wenn sie vorbeikommen», sagte Xiaopei. Im Herbst würde sie wieder nach Taiwan gehen, um wieder in der Bar zu arbeiten. «Aber in ein paar Jahren werde ich auf jeden Fall zurückkommen. Was soll ich in Taiwan, wenn ich alt bin? Im Rock dastehen, damit die Leute mich anschauen können?»

Lishan sieht das anders. Wenn sie in den Spiegel schaut, stellt sie sich vor, ihr alterndes Gesicht durch kleine Schönheitsoperationen zu korrigieren. Sie könnte ihre schlaffen Tränensäcke entfernen oder sich Botox spritzen lassen, um ihren Kiefer zu verkleinern. Die Altersflecken könnte sie mit Make-up abdecken. Sie hat sich immer wieder erkundigt, ob einige der ausgewiesenen Frauen mittlerweile nach Taiwan zurückgekehrt sind. Sie hofft, nach Ablauf der fünf Jahre durch Heirat wieder einreisen zu können.

Diese Geschichte wurde im Rahmen des Frontline Fellowship for Chinese Creative Nonfiction verfasst und durch das Stipendium gefördert. Das 2021 gegründete Frontline Fellowship unterstützt chinesischsprachige Autorinnen und Autoren weltweit dabei, relevante wahre Geschichten zu erzählen – Geschichten, die erzählt werden müssen und die nur sie erzählen können. 

Übersetzung und Redaktion: Christoph Dorner.