Die Zellen meiner Schwester

Wenn der eigene Körper zum Feind wird. Ein Selbsterfahrungsbericht.

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Meine Güte, ich bin ja so nett geworden. So warmherzig. Das stellte ich fest, als ich kürzlich einem Autofahrer den Weg erklärte. Als er sich verabschiedete, antwortete ich: «Einen schönen Tag. Viel Glück. Machen Sie’s gut! Fahren Sie vorsichtig!» Fast hätte ich ihn aus dem Auto gezerrt und umarmt. Aus lauter Freude, dass ich ihm helfen konnte. Oder anders gesagt: aus lauter Freude, dass ich überhaupt noch Ratschläge erteilen kann. Aber ich bin auch empfindlicher als früher. So nehme ich im Coop nicht mehr den erstbesten Einkaufswagen, sondern achte darauf, bei welchem die Entriegelungskette nicht mehr pendelt. Ich will das Gefährt quasi unberührt. Dabei denke ich nicht einmal an den schweissigen, von Bakterien wimmelnden Handlauf, was in meinem Fall durchaus angebracht wäre. Es geht mir ums Prinzip. Ich will kein Wägelchen, dessen Kette pendelt. Nein, so etwas will ich nicht. Das ist zwar ein recht seltsames Verhalten, aber ich stehe dazu. Denn auch darin erkenne ich einen schönen Beweis dafür, dass ich noch empfinde. Dass ich noch lebe.

Anfang Sommer 2010 war ich mir nicht so sicher, ob ich je wieder Pommes frites essen würde. Oder Motorrad fahren. Oder Noëlle küssen. Oder im Meer tauchen und durch das Wasser hinauf zur Sonne schauen. Am 1. Juni morgens um 8 Uhr 30 brachte Noëlle mich zu einer märchenwaldgrünen Türe, eingelassen in eine märchenwaldgrüne Wand, im obersten Stock des Zürcher Universitätsspitals (darüber nur noch der Himmel). Eine Tür ohne Falle, nur eine Gegensprechanlage. Die Welt auf der anderen Seite sollte mein Lebensumfeld für die kommenden sechs Wochen werden. Hier sollte der dritte und letzte Teil meiner Therapie stattfinden.

Gut zwei Monate zuvor hatte mir der Hausarzt in einem halbminütigen Telefonat mitgeteilt, dass ich an akuter myeloischer Leukämie erkrankt sei, also Blutkrebs. Eine der aggressivsten Spielformen dieser Krankheit. Lebenserwartung ohne Therapiebeginn am gleichen Tag: ein paar Wochen. Ich begann nicht sofort. Noëlle wollte noch eine Nacht mit mir zu Hause verbringen. Vielleicht die letzte. Wir luden unsere besten Freunde ein. Noëlle spielte Ukulele, ich weinte und wusste nicht, wie mir geschah. 

Am nächsten Morgen fuhr mich Noëlle ins Krankenhaus; es war ihr Geburtstag. Zwei Chemotherapien standen bevor, verteilt über zwei Monate. Die ganze Zeit würde ich stationär bleiben müssen. «Ausser dass ich krank bin, bin ich gesund», schrieb ich auf die Wand meines Spitalzimmers. Nach den beiden Zyklen sollte es eine kurze Pause geben, darauf sollte eine Stammzelltransplantation folgen, quasi die Kür der ganzen Sache. Gemäss statistischer Erfahrung sollte sie meine Überlebenschancen um 20 Prozent verbessern. Nicht alle Welt, aber in meinem Fall schon eklatant viel.

Nun war es so weit.

Die märchenwaldgrüne Tür öffnete sich mit einem metallischen Klicken, und ich trat in eine Art Raumstation, hell, leise summend und hermetisch abgeriegelt von der Umwelt. In der Station schwebend die Crew, ganz in Blau, versehen mit Mundschutz und Haarhaube. Das Lächeln musste man sich unter der Maske vorstellen, aber es war zweifellos da. Kein Fenster liess sich öffnen, die Luft so steril wie in einem Operationssaal, das Wasser kam über speziell gesicherte Leitungen. Vom zentralen Gang mündete ein Dutzend Patientenzimmer, alles Einzelzimmer, alle Türen geschlossen. Dort lagen die Passagiere dieses Space-Ships, alle mehr oder weniger mit derselben Diagnose wie ich, und warteten darauf, dass die Space-Docs ihnen wieder Leben einhauchten. Sie lagen da zwischen zwei Lebenszuständen wie Raupen in der Metamorphose. Weder tot noch lebendig. Aber mehr tot. Allerdings voller Hoffnung, dass es wider Erwarten doch noch eine Zukunft geben würde. Bald sollte auch ich mich in diesem Zustand befinden.

Mein persönlicher Betreuungs-Astronaut präsentierte mir mein Zimmer. Ein Bett, ein Miniaturtisch, ein WC ohne Spülung (aus hygienischen Gründen; ich würde für jede Leerung klingeln müssen). Und im Raum nochmals ein Raum, gebildet aus schweren Plastik-Vorhängen. Jetzt standen sie noch offen, doch bald würden sie das Bett abschirmen. Wo hatte ich solche Dinger schon gesehen? Genau. In Schlachthöfen. Um die einzelnen Verarbeitungsstrassen voneinander zu trennen. Ein leichter Überdruck im Innern des Plastikzeltes würde jene Viren und Bakterien fernhalten, die trotz Filtern in die Raumstation gelangten. Hinter den Vorhängen ein Fernseher. Unbenutzbar. Das milchige Gewelle der Vorhänge löste jedes Gesicht in irrwitzige und absurd verfärbte Fratzen auf. Einziges Geräusch neben der Lüftung war das stoische Ticken der total überdimensionierten Wanduhr. 

Tick. Tick. Tick.

Nicht gerade einladend, aber immerhin besser als befürchtet. Weil jemand das Stichwort «Isolationszelt» gemurmelt hatte, war ich davon ausgegangen, ich würde wie zu früh geborene Babys in eine Art Sauerstofftunnel gelegt, aufgeblasen zur Erwachsenengrösse. Aber das hier war nicht gar so schlimm. Die Vorhänge liessen immerhin etwa acht Quadratmeter Freiheit, und in ihrer Durchsichtigkeit erinnerten sie mich an die Werke von Heidi Bucher. Die Zürcher Künstlerin hatte einst das Haus meiner Grossmutter mit Latex ausgestrichen, die einzelnen Räume dann gehäutet und anschliessend in grossen Hallen aufgehängt, wo sie als zarte, hauchdünne Kopien ihrer selbst auferstanden. Eine schöne Arbeit.

Aber das hier war keine Kunst, das hier war Realität. Und «Zelt» war gleichzeitig Euphemismus wie Übertreibung. Übertreibung, weil der von den Vorhängen abgegrenzte Raum grösser war als ein Zelt. Euphemismus, weil «Zelt» mit Ferien und Camping assoziiert wird. 

Wie auch immer: In diesem durchsichtigen Käfig sollte ich also leben, maximal abgeschirmt von allem; denn im Verlaufe der Therapie würde man mich meines Immunsystems berauben. Es hatte schmählich versagt und die mutierten Zellen in meinen Adern nicht erkannt. Zum Verräter an mir geworden, sollte es zerstört und anschliessend durch das Immunsystem meiner Schwester ersetzt werden. Zwischenzeitlich würde ich ohne jede Abwehr sein. Also trennte man mich von allem, was mir schaden konnte, und man trennte mich von allem, was ich liebte. Von meinen Geschwistern und Freunden. Und von Noëlle. Ich ahnte, was kommen würde: wie meine grosse Liebe ihre Handfläche von aussen gegen die durchsichtige Abgrenzung presst, bis sie weiss und blutleer ist, wie ich meine Hand von innen dagegen halte, bis sie weiss und blutleer wird. Tag für Tag. Nur schon die Vorstellung trieb mir die Tränen ins Gesicht. Wir hatten ein halbes Jahr zuvor geheiratet; das Leben war gut wie nie zuvor, und nun das. Für direktere Zärtlichkeiten gab es einen überlangen Latexhandschuh, in den Vorhang eingelassen und wie ein toter Arm herabbaumelnd, ähnlich den Spezialhandschuhen, die Veterinäre beim Besamen von Kühen tragen. Wollte ich, dass Noëlle mich damit berührte? Nein. 

Ich setzte mich auf den Bettrand und fragte mich, was ich sechs Wochen lang in diesem Geviert tun würde. Fühlt man sich so als Gefangener? Ich erinnerte mich an das Leiden des Grafen von Monte Christo. An Solschenizyn im Gulag. Und ich dachte an den tibetischen Mönch Tanak Jigme Sanpo, der Jahrzehnte in chinesischen Kerkern verbracht hatte, lange Zeit davon in Isolation. Ich hatte ihn kürzlich interviewt: ein Mensch mit einer unglaublichen Gelassenheit, erblindet in seiner dunklen Zelle, voller Narben von den Ketten, an denen man ihn aufgehängt hatte. Und sogleich schalt ich mich für meine Naivität: Was dachte ich mir dabei, in diesen Personen Leidensgenossen zu suchen? Ich war nicht hier, weil mir ein repressives System das Leben zur Hölle machte. Ich war hier, um wieder gesund zu werden. Oder zumindest: um zu überleben. Ich hatte ein Ziel vor mir. Es gab einen Anlass für die Qual, und es gab keinen anderen Weg, das Ziel zu erreichen. 

Ich legte mich ins Bett und wartete auf die erste Visite der Stationsärztin. Als sie kam, schlenkerte sie lustig mit den Armen und sagte strahlend: «Wir werden mit Ihnen den Kilimandscharo besteigen.» Damit meinte sie wohl, man werde nun an mir eine medizinische Höchstleistung vollbringen (obwohl der Kilimandscharo nicht viel mehr als ein langer Spaziergang ist). Zudem hielt sie mir ein Blatt Papier hin. Darauf stand, dass zehn Prozent der Patienten bei der mir bevorstehenden Therapie sterben und dass ich dieses Risiko zur Kenntnis zu nehmen habe. Ich unterschrieb.

Und begann zu rechnen. Zehn Prozent. Einer der zwölf Passagiere dieses Space-Ships würde die Behandlung also nicht überleben. Entweder einer neben mir, links oder rechts, oder vielleicht traf es auch mich. Ein vergleichsweise hohes Risiko bei nur 20 Prozent zusätzlicher Überlebenschance. Ich kam mir vor wie ein Investor, der sich nicht entscheiden kann. Doch bei einer Krebstherapie gibt es nur alles oder nichts. Wer zaudert, hat verloren. 

Die Behandlung begann mit einer weiteren Chemotherapie. Die Zytostatika, diesmal besonders giftige, sollten allfällig in mir verbliebene Reste der amoklaufenden Blutzellen vernichten. Darauf sollten sechs Ganzkörperbestrahlungen folgen. Um noch mit den Resten der Reste aufzuräumen. Überlebte nur eine einzige falsch programmierte Zelle, würde sie in Kürze wieder Kopien herstellen. Zuerst eine, dann zwei, vier, acht, und so weiter, schliesslich würden es Millionen sein; simple Mathematik bis zum Exitus. Deshalb die Radioaktivität. Sie sollte meine Blutproduktion stilllegen und meine Knochen als ausgebrannte, verstrahlte Röhren zurücklassen, schwarz und verkohlt, wie die Gebäudeskelette von Hiroshima nach dem Abwurf von «Little Boy». So stellte ich mir das vor. 

Und in diesen toten Röhren sollte schliesslich wieder neues Leben entstehen, aus dem Nichts würde der japanische Frühling mit seiner Flut rosaroter Kirschblüten erwachen. Dank frischen Stammzellen. Gespendet von meiner Schwester. Die Stammzellen sollten sich im Innern meiner Knochen ansiedeln und neues, gesundes Blut produzieren. Ich würde wieder leben. 

Die ersten zehn Tagen auf der Raumstation dienten der Vorbereitung für den grossen Tag. Das Gift tropfte in meine Adern, und jeden zweiten Tag wurde ich in den Untergrund des Spitals zur Bestrahlung gebracht. Im Rollstuhl. Bedingung war, dass ich bei diesen Ausflügen jedes Mal nicht nur frische, sondern neue Socken trug, die danach aber gleich wegzuwerfen waren. Den Grund verstand ich nicht. Waren die Dinger danach radioaktiv? Falls ja, weshalb galt diese Regel nicht auch für das Spitalpyjama? Und wie sehr strahlte ich selbst? Aber ich fragte nicht. Denn auf solche Fragen gibt es im Spital Antworten, auf die man lieber verzichten würde. 

Meistens lag ich aber flach in meinem Space-Ship und dämmerte vor mich hin. Die Zeit erlebte ich als das, was sie tatsächlich ist: ein perfektes Kontinuum. Noch nie war mir diese Gleichförmigkeit so sehr aufgefallen. Anders als draussen, wo unser von Emotionen und Engagement geleitetes Herz seine Schlagkadenz je nach Art der Aufregung verändert, wo uns Ereignisse hin und her zerren, wo wir in der einen Sekunde teuflisch hetzen und in der nächsten gelangweilt warten, verläuft im Zelt alles monoton. Hier ist man nie zu früh, nie zu spät, nie in Eile. Man ist einfach da, im Hier und Jetzt. Also eigentlich ein prä-erleuchteter Zustand. Gar nicht so übel. Eigentlich.

Doch ich bin kein buddhistischer Mönch. Ich wollte hier so schnell wie möglich gesund gemacht werden und dann tschüss. Also versuchte ich, mir einen Tagesplan zu machen. Eine Struktur zu geben. Zucht und Ordnung in meinen Alltag einzuführen. Eine Stunde lesen. Eine Stunde meditieren. Eine Stunde dösen. Und so weiter. Doch der Plan funktionierte überhaupt nicht. Ich hatte für nichts genügend Geduld, Ausdauer und Kraft. Alle paar Minuten schmiss ich hin, was ich gerade machte. Die Zeit nervte ungemein, und die Wanduhr trieb diesen schmerzenden Stachel mit jedem Ticken noch weiter in mein leidendes Hirn. 

Aus purer Verzweiflung – und um zumindest etwas Sinnvolles zu tun – begann ich schliesslich, meinen Alltag zu protokollieren: 7 Uhr 10 bis 7 Uhr 22: Morgenüberwachung, also Fieber messen, Blut nehmen, auf die Waage stehen. 8 Uhr 02 bis 8 Uhr 09: Toilette. 8 Uhr 10 bis 8 Uhr 13: auf dem Handy die Headlines lesen. 8 Uhr 14 bis 8 Uhr 16: das Dachbodenfenster im Haus gegenüber beobachten und herausfinden, ob sich dort jemand bewegt. 8 Uhr 17 bis 8 Uhr 32: im Zelt auf und ab gehen (soweit das halbe Dutzend Leitungen Spielraum liess, die unterhalb meiner rechten Schulter aus dem Körper sprossen). Gleichzeitig die Passanten im Spitalpark beobachten. Ging jemand innerhalb von zehn Atemzügen in einer roten Jacke vorbei, so bedeutete das Glück. 8 Uhr 33 bis 8 Uhr 49: SMS beantworten. Und so weiter. Aber auch diese Beschäftigung gab ich bald wieder auf. Genau genommen tat ich nichts anderes, als zu protokollieren, dass ich protokollierte. Die Schlange biss sich in den Schwanz.

Nicht einmal das Thema Essen verschaffte Erleichterung. Eigentlich ist es das Highlight eines Spitalalltags. Die Assistenzen klimpern mit dem Besteck, und die Wärmehaube lüften ist wie Geburtstag. In meinem Fall bestand das Essen aber morgens wie mittags und abends aus Apfelschnitzen; mehr ertrug ich nicht. Diese waren geschält, nochmals gewaschen und zusätzlich in Folie verpackt. Auf der Folie stand, wie lange ich sie stehen lassen dürfe: 2 Stunden. Danach galten sie als kontaminiert und als tödliche Gefahr für meinen abwehrlosen Körper. Trotzdem verschafften mir die Schnitze Abwechslung. Während ich sie in Miniaturbissen kaute, dachte ich darüber nach, dass ich sie nie wieder sehen würde. Diese Tatsache beschäftigte mich sehr. Ich schob die Stücke in den Mund, eben waren sie noch da gewesen, und nun waren sie weg. Unwiederbringlich. Nie mehr würde ich sie sehen. Manchmal hielt ich mitten im Kauen inne, um den Moment des Verschwindens noch etwas länger hinauszuzögern. Ich sass da wie in einem stehen gebliebenen Film, versteinert und eingefroren. Alles stand still, ich hörte sogar auf zu atmen. Diese Augenblicke schob ich so lange wie irgend möglich hinaus. 

Tatsächlich war alles so fürchterlich vergänglich. Überall sah ich nur noch Dekadenz. Hatte meine Space-Pflegerin bereits gestern diese Altersflecken? Und weshalb wurde der Rasen draussen jeden Tag brauner? Falls ich starb, würde auch ich vergehen, kremiert und reduziert auf Atome, die irgendwann zu Zeiten des Urknalls entstanden waren und seither im Universum herumvagabundierten, die für ein paar Jahrzehnte zufällig meinen Körper gebildet hatten, nun aber wieder der Erde zurückgegeben würden und dort als Minerale irgendeine Pflanze, einen Baum oder sonst was nähren würden – auf dass neues Leben entstehe. 

Das war zwar ein tröstlicher Gedanke, eine Art rationale Form der Reinkarnation, aber trotzdem: Herzlich wenig würde von mir bleiben. Und was wäre das Wenige? Ich dachte darüber nach und fand heraus, dass es am ehesten Schrauben sind. Oder genauer: die Energie, mit denen ich die Dinger in Mauern gedreht habe: in Zumikon, Oberengstringen, Steg, Winterthur, Zürich, Meilen, den Stationen meines Lebens. Überall hatte ich geschraubt. Schrauben konservieren die Kraft des Körpers, die Leistung der Muskeln. Sie sind Beweis, dass man einmal gewesen ist und gearbeitet hat, gesund, im Vollbesitz der Kraft. Dreht man sie heraus, neutralisiert man die investierte Energie. So ähnlich wie Bündner Soldaten 1499 mit ihren Hellebarden umgegangen waren. Kurz vor der Schlacht an der Calven hatten sie die Waffen zur sicheren Parkierung in die Decke einer Wirtsstube gestossen, nach dem Vespern dann wieder herausgezogen. Noch heute sind die Einstiche in der Decke zu sehen. 500 Jahre später. Faszinierend. 

Eines Tages fand ich ein winziges Insekt an der Fensterscheibe meines Zimmers. Keine Ahnung, wie es all die Filter der Lüftung überlebt hatte. Es rannte die Scheibe auf und ab und wollte unbedingt nach draussen. Also bugsierte ich es in eine Pillenschachtel und klingelte. Die Space-Schwester solle das Tier bitte auf die andere Seite der Märchenwaldtüre tragen und es in die Freiheit entlassen. Ich hatte ein Leben gerettet. Bitte, lieber Gott, sagte ich, schau, was ich gemacht habe. Und denk doch auch an die vielen Regenwürmer, die ich schon vom sommerheissen Asphalt aufgelesen habe. Und vergiss auch nicht die sechs Küken eines meiner Hühner, die in ein Abflussrohr gefallen waren und halbtot, pudelnass und unterkühlt im Syphon lagen. Ich holte sie heraus, packte sie in ein Frottiertuch und reanimierte sie erfolgreich bei 30 Grad im Backofen. Nun sei bitte gerecht. Lass auch mich leben. 

Zum liebsten Zeitvertreib wurde mir jedoch die Imagination von Dramen. Ich weiss nicht, wie ich darauf gekommen war, aber das war besser als alles, strengte nicht an und war wie ein LSD-Trip. Jedenfalls produzierte mein Hirn, einmal losgelassen, die absonderlichsten Szenen. Beispiel: Während der bevorstehenden Transplantation der Stammzellen würde ich völlig cool bleiben. Meine Familie würde zwar bangen, dass alles klappt und ich in diesem entscheidenden Moment weder allergisch reagiere noch sonstwie kollabiere. Aber ich würde den totalen Überblick behalten, nicht nur über mein Leben, sondern auch über das meiner Liebsten. Das hiess: Während die Zellen zu Millionen durch den Katheter in meinen Körper fliessen und sich dann selbständig in Richtung Knochen bewegen würden, würde ich weder vor Todesangst wimmern noch mich übermässig freuen; ich würde Noëlle vielmehr an eine unerledigte Lappalie aus unserem Alltag erinnern: dass wir die bereits gekauften Billetts für «Karl’s kühne Gassenschau» aufgrund meiner Unpässlichkeit leider zurückgeben müssten. 

Nur ein kleiner Gedanke. Ein Ausrutscher des Hirns – aber er machte mich zum Master of the Universe, der alles beherrscht und durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist. Indem ich an die blöden Tickets dachte, bewies ich eindrücklich, wie verantwortungsbewusst und umsichtig ich auch in der verzweifeltsten Lage handeln kann, eine quasi übermenschliche Leistung und Beweis meiner Kapazitäten. Ich war ein Superheld. 

Diese Situation spielte ich immer wieder durch und fand mich dabei wirklich sehr überzeugend. Im Verlaufe der Zeit entwickelte ich zusätzliche Varianten. Sie wurden immer verwegener und schlossen ein, dass die gespendeten Zellen den Weg in die Knochen nicht fanden und ich folglich bald sterben würde. Das war noch besser. Ich sah mein Bett umringt von meinen Verwandten und wie ich ihnen mit schwacher Stimme mitteilte, wie es stand. Dabei war ich der Einzige, der nicht flennte. Ich würde daliegen, ruhig und entspannt, ein wissendes, ja beinahe erleuchtetes Lächeln auf den Lippen.

Natürlich schämte ich mich für diese Phantasien. Hatte ich wirklich nichts Besseres zu tun? Ich war todkrank, doch anstatt demütig auf Besserung zu hoffen, offenbarte ich vielmehr einen krassen Hang zur Dramatik, der seinen Kulminationspunkt im Exitus fand. Aber nach einigem Nachdenken fand ich eine Erklärung, nicht zuletzt, um mich davon zu überzeugen, dass ich mir nicht zusätzlich auch noch einen psychischen Knacks geholt hatte. Die Erklärung geht so: Wenn der Körper verrückt spielt, dann darf auch der Geist so reagieren – oder er muss sogar gezwungenermassen auf dem gleichen Level mitmachen. Die Phantasien helfen, die Terra incognita im Hirn zu erforschen, zu erobern, zu befestigen und mit Inhalt zu füllen. Denn das imaginierte Drama stellt nichts anderes dar als die mehr oder weniger logische Weiterführung der theoretisch möglichen Situationen. Diese Möglichkeiten müssen ausgelotet und durchgespielt werden, damit der Boden unter den Füssen nicht mehr derart arg wackelt.  

Die eigentliche Transplantation war ein kurzer Akt. Es war der 9. Juni gegen 16 Uhr. Eine der Pflegerinnen näherte sich meinem Space-Ship und dockte einen einzelnen Beutel mit einer gelblichen Flüssigkeit an. Meine Geschwister und Noëlle sassen schweigend hinter dem Milch-Plastik und standen mir bei. Meine Schwester hatte man zuvor stundenlang an eine Zentrifuge angeschlossen, um Stammzellen aus ihrem Blut herauszufiltern. Sie waren von bester Qualität und passten in den entscheidenden genetischen Merkmalen zu meinen eigenen. Nun tropfte das Transplantat in meinen Körper und suchte sich von da selbständig den Weg in die toten, ausgebrannten, verstrahlten, vergifteten Knochenröhren, um dort neues Leben zu schaffen. 

Ich lag da und versuchte, die Grösse des Moments bewusst zu erleben. Ein Teil meiner Schwester lebte nun in mir weiter. Wir waren plötzlich noch näher verwandt als bisher. Seltsam. Mit diesem Gedanken dämmerte ich weg.

Zehn Tage würde es dauern, bis es klar war, ob die Transplantation funktionierte. So lange brauchten die neuen Stammzellen, um in meinem Knochenmark die Blutproduktion wieder in Gang zu bringen. So lange würde ich daliegen, im Ungewissen, totenbleich, entkräftet, Angst als neuer Gesichtszug. Es gab nichts zu tun ausser zu warten. Und zu hoffen. Ich las keine Zeile. Ich hörte keine Musik. Ich tat nichts, ausser der Wanduhr zuzuhören und zu versuchen, nicht zu verzweifeln. 

Zu mehr war ich auch nicht fähig. Eine Schwäche von bisher unbekanntem Ausmass nahm von mir Besitz. Um einen Schluck Wasser zu trinken, brauchte ich an die zehn Minuten. Ich sagte meinem Hirn, was die Muskeln tun sollten, aber sie taten nichts. Das Glas auf dem Tischchen blieb einfach stehen. Ich dämmerte weg, träumte von einem sprudelnden Bergbach im Engadin, wachte wieder auf, schaute erneut nach dem Glas, fixierte es und raffte alle Kraft zusammen, nur um festzustellen, dass die Hand weiterhin bewegungslos auf dem Duvet lag. Die Zeit verfloss zu einer konturlosen Lache. 

In dieser Phase zwischen Leben und Tod brauchte ich dringend Hilfe. Ich wusste nicht weiter und hatte zudem dauernd den Tod zu Besuch. Ich sah ihn zuoberst auf dem hochgestellten Kopfteil des Bettes sitzen. Er baumelte mit den Beinen und lächelte, irgendwie ungeduldig, schien mir. Also bat ich meine Space-Pflegerin, den Psychoonkologischen Dienst des Universitätsspitals zu avisieren. Ich wollte noch ein paar Dinge regeln, erzählen, loswerden und beantwortet haben. Dieser Dienst ist spezialisiert auf Krebskranke und ihre Sorgen. Zumindest theoretisch; denn in Tat und Wahrheit war die Betreuung katastrophal. Ich testete drei verschiedene Mitglieder des Teams, ohne auch nur eine einzige hilfreiche Antwort zu erhalten. Die letzte Vertreterin dieser Spezies stöhnte bei jeder Frage so laut auf, als habe sie selbst Krebs. Ihre Standard-Antwort lautete: «Da weiss ich jetz au nöd wiiter.» Ich gab auf und liess die Spitalseelsorger kommen, den reformierten und den katholischen. Zwei freundliche Herren, die schon einiges gesehen hatten, die weder beten noch die Bibel zitieren wollten, sondern direkt und schnörkellos über die Unwägbarkeiten des Lebens sprachen, insgesamt ein intellektueller Leckerbissen und wohltuender Seelenbalsam. Mit ihnen liess sich sogar über Motorräder diskutieren, für mich etwa gleich wichtig wie das Thema ewiges Leben.

Knapp fünf Wochen nach meinem Eintritt kam eines Morgens die Stationsärztin mit federndem Schritt ins Zimmer, ohne Mundschutz, ohne Haarnetz, strahlte und tat, worauf ich so lange gewartet hatte: Sie öffnete die Vorhänge. Sie löste den Raum im Raum auf. Fort war das Camping-Feeling, plötzlich hatte mein Zimmer die doppelte Grösse. Das Wunder sei gelungen, der Kilimandscharo bestiegen, sagte sie. Die Laborwerte zeigten, dass die Stammzellen meiner Schwester zu arbeiten begonnen hätten, die Blutproduktion habe wieder eingesetzt. In meinen Hiroshima-Knochen trieben die Kirschbäume.

Von diesem Tag an gab es wieder Hoffnung. Die 20 Prozent schienen sich zu bewahrheiten, und ich dachte wieder an so etwas wie eine Zukunft, wie lange auch immer diese dauern sollte. Dafür wurde mir die Zeit lang. Das kontemplative Warten in der Grauzone zwischen Leben und Tod war vorbei. Nun wollte ich vorwärts. 

Das hiess: hinaus aus dem Spital. Zurück ins Leben. Aber es dauerte nochmals über eine Woche, bis das neue Immunsystem minimal funktionierte. Erst dann durfte ich wieder unter fliessendem Wasser die Hände waschen. Die Zähne putzen. Nägel schneiden. Duschen. Das alles war verboten gewesen, weil bei diesen Aktivitäten Keime in meinen abwehrlosen Körper hätten dringen können. Dann durfte ich das erste Mal hinaus in den Gang, ein paar Schritte auf und ab. Ich zitterte wie Espenlaub. Aus Angst. Aus Freude. Aus Anstrengung, weil die Schritte meinen völlig entkräfteten Körper bis zum Letzten forderten. Noëlle kam. Ich konnte zum ersten Mal wieder meine käsefarbene Pergamenthand in ihre straffe, vorsommerlich gebräunte Hand legen. Der Tod traf auf das Leben. Es schüttelte mich. Nach einer weiteren Woche der erste Gang auf die Dachterrasse. Frische Luft! Wind. Regen. Das Blatt eines Strauches berühren, einer Biene zuschauen. Welches Glück. Wieder ein paar Tage später der erste Spaziergang ins Freie: Ich traute mich keine zweihundert Meter weit. Das Spital war mein Floss, hier draussen bedrohten mich all die Gefahren des Asphaltdschungels. Ich kaufte Kaugummis. Um herauszufinden, ob ich das kann. Ob mich jemand schräg anschaut. Ich betrachtete im Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts Kerzenleuchter und dachte: schön. Ich war fähig zu ganz normalen Alltagsgedanken. Im einen Hosensack hatte ich einen zerknüllten Plastiksack, falls ich erbrechen sollte, im anderen einen Zettel mit der Telefonnummer meines Space-Ships.

Schliesslich wurde ich entlassen. Ich hatte die Transplantation überstanden, in der zweitschnellsten Zeit seit Eröffnung der Station. Seltsamerweise erfüllte mich das mit Stolz. Als handle es sich hier um einen Sportanlass oder eine Art Paralympics für Superkranke. Noëlle kam mich holen. Sentimental, wie ich bin, wollte ich mich noch von allen verabschieden, aber sie leerte meinen Spind – und weg waren wir. 

Inzwischen sind seit der Transplantation bald drei Jahre vergangen. Obwohl ich nun ein staatlich anerkannter 50-Prozent-Krüppel bin, funktioniert mein Alltag wieder einigermassen. Ich schreibe. Ich esse Pommes frites. Ich fahre Ski. Ich habe sogar etwas Sex – entgegen den Behauptungen aller Spitalbroschüren, die nach dieser Rosskur ein hundertprozentiges Versagen in Aussicht gestellt hatten. Ich verbringe viel Zeit zu Hause, koche, mache den Haushalt, und wenn ich Noëlles frisch gewaschene Kleider aufhänge, sage ich zu jedem Stück: «I love you.» Wenn sie an mir vorbei geht, hake ich schnell einen Finger an ihrem Gürtel ein und ziehe sie an mich. Sie hat mich durch diese gesamte Zeit getragen und tut es auch heute noch. Zwar wirft sie sich vor, dass sie mich trotz unserer wunderbaren Liebe nicht vor dem Krankwerden habe bewahren können, das hätte ihr doch gelingen müssen, aber ich sehe das anders. Ich sage: «Dank dir habe ich überlebt. Du bist meine Retterin, meine Lebensretterin.» 

Als momentan schwerwiegendste Spätfolge meiner Krankheit erlebe ich, dass ich kein Schweizer Bier mehr trinken kann. Corona geht, Moretti geht, Kingfisher geht, aber nix aus unseren Kantonen. Ich krieg Schluckauf, und zwar so, dass mir das Gebräu aus den Mundwinkeln übers Kinn aufs Hemd tropft. 

Hm! Das ist ehrlich gesagt nicht die ganze Wahrheit. Das ist cool getan. So lustig ist die Realität nicht. Denn manchmal muss ich sehr plötzlich und notfallmässig ins Spital. Und zwar, weil es wirklich brennt. Irgendwas tut nicht recht, einmal das Herz, einmal die Lunge, einmal die Leber. Folgen der Leukämie; der Körper wird zur Wundertüte, unberechenbar und immer für eine Überraschung zu haben. Meine Oberärztin schaut dann zum Rechten, das macht sie super, und ich kann die Sache nach ein paar Tagen oder Wochen abhaken.

Aber die ganze Geschichte geht trotzdem nicht spurlos vorbei. Sie nagt. Im Bad schaue ich an mir hinunter und erinnere mich daran, wie ich früher gewesen bin. Mein Körper war einigermassen stromlinienförmig. Jetzt sitzt ein Biafra-Bauch auf haarlosen Storchenbeinen, ich habe Pickel um den Mund, und die Tränensäcke hängen wie Würste. Im Spiegel sehe ich ein Gesicht, das ich nicht sehen will. Ich vermisse mich selbst. Wo ist, was einst ich war? Zudem sitzt mir die Angst im Nacken: Eine dieser Salto-mortale-Attacken meines Herzens könnte die letzte sein. Oder die Leukämie kommt zurück. Als ich vor drei Jahren die Diagnose erhielt, stufte man mich als «bad risk» ein. Die Worte sitzen mir wie ein Tinnitus in den Ohren. Auf meine Haltbarkeit gibt es keine Garantie mehr. Schon der nächste Bluttest kann den «worst case» ankündigen.

Doch meistens erhole ich mich schnell von diesen Attacken, denn eigentlich habe ich keine Zeit dafür. Geht mich dieses fremde Gesicht im Spiegel etwas an? Nützt mir diese nagende Angst etwas? Nein. Ich will leben. Ich will vorwärts. Ich will geniessen. Nach Genua reisen. Motorrad fahren. Noëlle küssen.