Die historische Reportage

HÜGEL 875

Die historische Reportage - von 1967

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Zeitfenster 1967

Dr. Christiaan Barnard gelingt in Kapstadt die erste Herztransplantation.

6-Tage-Krieg. Um die USA zum Kriegseintritt zu bewegen, greift Israel am 4. Tag das Aufklärungsschiff «USS Liberty» an, um es zu versenken, was misslingt. 

Chinas «Mao-Bibel», Auflage 400 Millionen, wird in 26 Sprachen übersetzt und in 180 Ländern verteilt.

Ernesto «Che» Guevara wird von bolivianischen Regierungstruppen erschossen. 

Hügel 875

Vietnamkrieg. Die historische Reportage beschreibt den Kampf um einen Hügel, der 30 Kilometer entfernt vom Dreiländereck Laos-Kambodscha-Vietnam und 150 Kilometer südwestlich der Hafenstadt Danang liegt, wo kurz zuvor die ersten US-Marines an Land gegangen waren, um – so die damalige Begründung – den chinesisch-kommunistischen Expansionismus einzudämmen. 

Der heisse Kalte Krieg

Nach dem Ende von Frankreichs Kolonialherrschaft in Vietnam sah das Friedensabkommen von 1954 gesamtvietnamesische Wahlen im geteilten Land vor. Da Umfragen zeigten, dass der Nordvietnam führende Ho Chi Minh von einer Mehrheit unterstützt wurde, verhinderten die USA die Wahlen. Sie bauten Südvietnams Armee auf und bombardierten Nordvietnam, als dessen Truppen das ganze Land einzunehmen drohten. Das Schreckgespenst Kommunismus hatte in den USA einen Wandel bewirkt: Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte das Land Ho Chi Minh als wichtigen Politiker für die Überwindung des Kolonialismus gefördert. 

Eingebetteter Journalismus

Das Ende des Vietnamkriegs – die letzten Amerikaner flüchten 1975 per Helikopter aus der US-Botschaft in Saigon – wurde in den USA als eine Niederlage interpretiert, deren Ursachen auch im eigenen Land lägen: Die frontnahe Berichterstattung habe die Unterstützung der Bevölkerung gemindert. Schlussfolgerung der Armee: «Never fight a war on TV!» – oder erlange maximale Kontrolle über die Journalisten. Im Irakkrieg 2003 wurde erstmals das Konzept des «Embedded Journalist» angewandt. Reportagen wie die vorliegende sind heute nahezu unmöglich geworden.

Nachmittags. Der Kampf fand vor drei Tagen statt. Er fing um neun Uhr morgens an und dauerte bis sechs Uhr nachmittags, ohne eine Minute Unterbrechung. Der Hügel 1383 ist steil und spitz und dicht bewachsen mit Bäumen, Lianen und Bambus, und Hauptmann Scher trieb seine Kompanie zur Eile, aber die Soldaten kamen nur langsam vorwärts, denn nach jedem Schritt stiessen sie auf einen nordvietnamesischen Graben. Sie waren gut angelegt, die Gräben, mit grossem strategischem Verstand. Sie zogen sich spiralenförmig herunter, in der Art, wie man eine Orange rundum zu einem Band abschält. Diese konzentrischen Ringe waren durch Unterführungen miteinander verbunden, die ältesten waren nicht mehr als sechs Monate alt. Seit Juni hatten die kleinen gelben Soldaten vor den Augen der Amerikaner heimlich gegraben, und die Amerikaner hatten nichts davon gemerkt. Die Gräben waren nicht tief, denn die Vietnamesen sind klein und benötigen ein Minimum an Raum. So konnte man sie noch schwerer ausmachen. Unvermutet standest du davor, im Feuer, und dann war es zu spät. In dieser Furcht rückten Hauptmann Scher und seine Leute vor, klammerten sich an jeden Busch, an jeden Strauch, rutschten aus, fielen hin, ein eroberter Baum war schon ein Sieg. Wieviel Meter sind es wohl bis zu dem Bambus dort, höchstens fünfzehn, sie brauchten eine Stunde, zwei Stunden, bis sie ihn erreichten. Gegen fünfzehn Uhr meinte der Hauptmann, er würde es allein nicht schaffen, und forderte Flugzeugunterstützung, bei allem Risiko, selbst mit bombardiert zu werden. Die Phantoms kamen und warfen zentnerweise Napalm über den Gräben ab, als lebende Fackeln schössen die kleinen gelben Soldaten mit ihren Gewehren auf die Flugzeuge. Aber danach kam der Angriff schneller voran. Und zwei Stunden später stand der Hauptmann hier auf dem Gipfel.

Es ist der höchste von allen Hügeln im Umkreis. Von hier aus beherrscht man das ganze Tal, dort unten befinden sich das Rollfeld und das Lager, und der Fluss windet sich dahin wie auf einem chinesischen Aquarell. Mit Hauptmann Scher bin ich im Hubschrauber hergekommen, zu Fuss wären wir auf Minen und Vietkong gestossen. Der Hubschrauber hat gar nicht aufgesetzt, und wir mussten hinabspringen. Bevor ich sprang, sagte der Hauptmann zu mir: «Vorsicht, nicht dorthin fallen!» Aber ich verschätzte mich und fiel genau dorthin, sank in etwas Weiches, die Leiche eines Nordvietnamesen, nur knapp mit Erde bedeckt. Leichen lagen hier überall herum, in drei Tagen haben sie sechzig begraben können. Bei denen, die in den Gräben geblieben sind, ist die Sache nämlich einfach, du nimmst einen Spaten, und fertig. Aber bei denen, die überall herumliegen, dauert das schon seine Zeit.

«Hauptmann, wie viele Tote hat dieser Hügel gekostet?»

«Viele. Zu viele. Hundertfünfzig, zweihundert. Aber genau kann man das nie feststellen, weil sie die Toten wegschaffen. Vor dem Kampf richten sie lange Seile her, und wenn sie sich dann zurückziehen, binden sie die Gefallenen mit den Füssen daran und schleifen sie weg. Die Sie hier sehen, gehörten zur Nachhut.»

«Und die Gefangenen, Hauptmann?»

«In Vietnam macht man keine Gefangenen. Nicht auf der einen und nicht auf der anderen Seite. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen. Wer traut sich schon, Gefangene zu machen? Wenn du dich näherst, lässt der Kerl eine Handgranate explodieren und bringt dich und sich zusammen um.»

Ich deute auf die Leiche, auf die ich gefallen bin. «Auf die Weise ist der umgekommen?» Er zuckt die Achseln. «Wahrscheinlich.» Dann packt er meinen Arm. «Nicht hinsehen. Kommen Sie hier weg!»

Der Hauptmann ist sechsunddreissig und schön wie Tyrone Power, als Tyrone Power noch schön war. Seit Monaten hat er keine Frau mehr gesehen. Ich glaube, aus dem Grund hat er sich auch die Mühe gemacht, mich hier herauf zu begleiten. Und er sieht mir gerade in die Augen, und bei jedem Hindernis ist er mir behilflich mit unsagbarer Zärtlichkeit, und seine Finger verharren ein paar Augenblicke länger als nötig an meinem Ellenbogen. Aber unbewusst. Wüsste er’s, würde er erröten. Ebenso unbewusst ist seine Freude über den kurzen Urlaub, den ihm unsere Ankunft verschafft hat. Und so wandern wir über den Hügel, ich und der Hauptmann, klettern über Granathülsen, verbogenes Blech, treten auf blutige Bandagen, auf Geschosse, doch er ist so glücklich, eine Frau neben sich zu haben. Er merkt gar nicht, dass diese Frau übel riecht nach Schweiss, ein verdrecktes Gesicht hat, wie ein Soldat gekleidet ist. Er wähnt sie in blauem Kleid, parfümiert und sauber, und er geleitet sie durch diese Leichen hindurch, als geleite er sie durch eine Wiese voller Margeriten. Müsste ich heute abend sterben, ja, dann würde ich sterben mit dem Bewusstsein, diesem Mann eine Illusion geschenkt zu haben: drei Tage nach dem Inferno habe ich ihm einen Spaziergang geschenkt durch eine Wiese voller Margeriten.

«Vorsicht … geben Sie mir die Hand… Ja, so. Hier läuft man besser…» Und unter seinen Füssen erblühen die Margeriten der Phantasie. Oder der Verzweiflung? Hauptmann, das hier ist nämlich keine Margerite. Das ist, nein, das war ein Mensch. Hauptmann, betrachte ihn dir genau. Zusammengekrümmt liegt er im Bambusröhricht, und sein gelbes Gesicht wird schon grün. Schwarze Flecken besudeln seine khakifarbene, an der Brust durchlöcherte Uniform. Eine Eidechse läuft auf ihm herum, schwänzelt über seinen Hals, setzt sich auf sein Auge, die Füsschen genau auf der Pupille. 

«Hauptmann…» 

Der Hauptmann lässt meinen Arm. Er lüftet seinen Helm, fährt sich mit den Fingern durchs Haar, setzt sich den Helm wieder zurecht, seufzt. 

«Gott, ist der Krieg ekelhaft! Lassen Sie sich das von einem Soldaten sagen. Irgend etwas muss da verkehrt sein im Hirn dieser Leute, die mit Freuden Krieg führen, die ihn rühmlich oder auch spannend finden. Gar nichts Rühmliches und gar nichts Spannendes ist an diesem schmutzigen Trauerspiel, über das du nur weinen kannst. Du weinst über den, dem du eine Zigarette verweigert hast und der von seinem Patrouillengang nicht mehr zurückgekehrt ist, du weinst über denjenigen, den du gescholten hast und der vor deinen Augen in die Luft gegangen ist, du weinst über denjenigen, der deine Freunde umgebracht hat…»

Er deutet auf die Leiche. «Drei hat er mir umgebracht. Mit einer Handgranate. Dort hinter dem Busch war er versteckt, und sie haben ihn nicht gesehen. Er aber, er konnte ihnen bis in den Hals hineinsehen.»

«Wer hat ihn getötet, Hauptmann?»

«Ich.»

«Sie?»

«Ich… Mit einem Feuerstoss, gleich darauf. Und wäre ich ihm vielleicht in einer New Yorker Bar begegnet, hätte ich ihn sympathisch gefunden, mit ihm über Kommunismus und Kapitalismus diskutiert und zu mir nach Hause eingeladen. Gott, ist dieser Krieg ekelhaft!»

«Warum machen Sie ihn dann mit, Hauptmann? Warum haben Sie ihn sich als Beruf gewählt?»

«Weil … wenn du Soldat wirst, denkst du doch nicht daran, dass dein Beruf das Töten wird. Ich habe immer gern mit den Leuten gearbeitet, ich kam mir wie ein Lehrer vor. Früher bin ich auch Lehrer gewesen. Ans Töten denkst du nicht. Und wenn dann der Augenblick des Tötens kommt, bist du wie vor den Kopf geschlagen. Und dann ist es zu spät.»

«Als Sie ihn töteten, was haben Sie da empfunden, Hauptmann?»

«Angst.» – «Sie und Angst?» Er macht einen so kriegerischen, so sicheren Eindruck, der Hauptmann. «Angst», wiederholt er. Und lächelt bitter. «Von neun bis sechs habe ich an dem Tag Angst gehabt. Und vorher auch schon. Vorher habe ich immer Angst, weil ich denke, dass ich nicht sterben will. Ich rücke vor und rufe meinen Leuten zu, sie sollen keine Angst haben, und dabei habe ich selber so grosse Angst. Wissen Sie, was ich Ihnen sage? Dass dich in diesen Augenblicken weder das Pflichtgefühl leitet noch der Mut, die Angst leitet dich!»

Und solcherart verschwindet die Wiese, weisst du, die Margeriten verschwinden, seine Freude verschwindet, der Urlaub verschwindet, und es bleibt in diesem geborstenen, verbrannten Wald nur noch der Leichengestank dieses gelben Jungen, der drei weisse Jungen umbrachte, und dem man deshalb das Herz durchschoss. Die Lippen des gelben Jungen sind ein wenig geöffnet, es sieht aus, als lächle er. Aber, mein Gott, worüber nur? Das letzte, was er sah, war der Hauptmann, der mit seiner Angst und mit seinem Schnellfeuergewehr gegen ihn anging. Und vorher war diese Agonie von Raketen, Mörsern und Napalm gewesen, und vorher noch das Warten in der Kälte, die Seile, um die gefallenen Kameraden daran zu knüpfen, das monatelange Ausheben der Gräben in Heimlichkeit und Dunkel. Und was noch? Seit dem Tag seiner Geburt, vielleicht vor achtzehn, neunzehn Jahren, hatte er immer nur Krieg gesehen. Krieg gegen die Franzosen, Krieg gegen die Amerikaner, Krieg gegen jemanden, der hier nichts verloren hatte, in seinem Land gab es ja immer jemanden, der hier nichts verloren hatte, denn zum Teufel Kommunismus oder Nichtkommunismus, dieser Hügel war doch seiner und ebenso die andern Hügel und die Ebenen und die Flüsse, und die drei weissen Jungen waren doch gekommen, sie ihm zu stehlen. Daran hast du wohl nicht gedacht, Hauptmann Scher? Denkst du nicht daran? Nein, er denkt nicht daran. Trotz all seiner Humanität ist er davon überzeugt, im Recht zu sein, wenn er auf diesem Hügel steht, der ihm ebensowenig gehört wie die andern Hügel und die Ebenen und die Flüsse, ist überzeugt, im Namen von Recht und Freiheit getötet zu haben, und er würde mich unschuldig-erstaunt ansehen, sagte ich ihm: Was für ein Recht, was für eine Freiheit?

PS: Ich mache diese Aufzeichnungen im Hubschrauber, der uns ins Lager zurückbringt. Wir sind unter Beschuss abgeflogen, vielleicht der befürchtete Gegenangriff. Rasch wie die Hasen sind wir zum Hubschrauber gerannt, ich zog mir den Helm so fest über den Kopf, dass er mich fast erdrückt hätte. «Der Kopf, der Kopf, du schützt deinen Kopf, als wäre er das einzige, was es zu schützen gäbe.» Aber Joe Tinnery aus Philadelphia, den man aus der Mittelschule herausgeholt hatte, stand da mit unbedecktem Kopf und rief: «He! Beinahe hätte ich’s vergessen, du bist doch Journalistin, tust du mir einen Gefallen? Schickst du mir ein Foto mit Autogramm von Julie Christie? Aber nicht vergessen! Joe Tinnery! Drittes Bataillon! Zwölftes Infanterieregiment! Ja, Julie Christie!» Für ihn war das ein Spass. Doch der Hauptmann war traurig. Es schien, als wollten ihm die Augen überlaufen.

Abends. Wir sind wieder im Lager. Wir kamen gerade zurecht, um noch die Verwundeten vom Hügel 875 zu sehen. Heute früh hat eine Kolonne des 173. Airborn eine Verbindung zum Vorgelände des Massakers hergestellt, und jetzt ist es möglich, die Verwundeten mit Hubschraubern auszufliegen. Sie landeten wie ein Schwarm Hummeln, blendeten uns mit Böen roten Staubes. Vor ihrer Landung rannten schon die Sanitäter mit den Tragbahren los. Aber nur Sterbende kamen auf die Bahren. Die andern sprangen selbst auf die Erde und liefen abgerissen, blutend, hinkend, lachend, weinend auf uns zu. Einer, der hysterisch lachte, stürzte sich auf mich und schrie: «Nehmt den Hügel, so war der Befehl. Nehmt den verdammten Hügel! Aber das konnten wir nicht, verstehst du, das konnten wir nicht!» Dann hörte er unvermittelt zu lachen auf. Er trat von mir weg, sah mich ernst an und fragte: «Wer bist du eigentlich? Was willst du?» Ein anderer, halbnackt, wurde von einer heftigen Krise geschüttelt. Er stampfte mit den Füssen auf, schlug sich an die Stirn und schluchzte: «Ich hasse sie! Ich hasse sie! Verfluchte Dreckschweine!» Man versuchte, ihn zu beruhigen und ins Krankenrevier zu schaffen, aber es gelang nicht. Ein anderer, ein Neger, hatte sich mit einem Napf Suppe hingehockt und weinte friedlich vor sich hin, die Tränen liefen ihm in die Suppe. «Diese Handgranate. Ein Haufen Toter wegen dieser Handgranate. Und du hast nicht mehr gewusst, wohin du rennen sollst, wo du dich verkriechen sollst. Hast unter Leichen geschlafen. Ich habe unter Joe geschlafen. Er war tot, aber er hat gewärmt. Gib mir eine Zigarette. Hast du schon mal unter einem Toten geschlafen, der gewärmt hat?»

Dann kam der dämliche Oberleutnant und verscheuchte schreiend die Journalisten und nannte sie schamlos, her mit den Filmen, ihr Schamlosen! Wir mussten weglaufen, damit er uns nicht die Filme abnahm. Hier herrscht eine sonderbare Auffassung von Schamlosigkeit. Während der Pressekonferenz erklärte der General in gebügelter Uniform und mit frisch rasiertem Gesicht: «Ich hasse es, als Optimist zu gelten, aber ich glaube doch, Ihnen diesmal mit Sicherheit voraussagen zu können, dass der Hügel 875 noch in dieser Nacht in unserm Besitz sein wird!»

22. November, morgens. Der Hügel 875 ist keineswegs im Besitz des Generals, der sich nach wie vor unter der Dusche im Klosett erfrischt und mich daran hindert, dort mein Wässerchen zu lassen. Überdies ist es für uns Journalisten jetzt vollkommen unmöglich, zum Hügel 875 zu kommen: die Hubschrauber transportieren nur die Soldaten dorthin zum Sterben. Im Morgengrauen habe ich’s versucht, aber es war vergebens. Sie verluden gerade eine frisch aus den Staaten eingetroffene Kompanie. Sogar die Militärfotografen wurden abgewiesen. Bei dieser Kompanie war ein Rotschopf. Er fragte mich mit gepresster Stimme: «Madam, ist es wirklich da droben so scheusslich?» – «Aber nein, Soldat, aber nein. Du wirst schon sehen, heute ist es ruhig», antwortete ich ihm. Und er glaubte es.

Wir sind hier im Lager blockiert. Hie und da ein Mörsereinschlag, aber keiner achtet darauf. Wenn es nicht zum massierten Beschuss kommt, wird gar nicht erst Alarm gegeben. Wen’s trifft, den trifft’s. Wenn du nicht so denkst, kannst du dauernd geduckt in einem Loch sitzen. Es ist ein schöner Tag, und ich und Moroldo haben zwei Freundschaften geschlossen, mit dem Unteroffizier Norman Jeans und dem Gefreiten Bobby Janes. Beide sind dreiundzwanzig Jahre alt, der erste schwarz wie die Nacht, der zweite blond wie die Sonne, und wo der eine hingeht, geht auch der andere hin, sie sind unzertrennlich. Das kommt daher, dass Norman im Kampf Bobby das Leben gerettet hat und umgekehrt. Seit vorigem Mai haben sie zusammen an sieben Kämpfen teilgenommen. Ich und Moroldo lernten sie am Fluss kennen, wo sie gerade Wasser holten. Während Bobby die Kanister mit Wasser auf den Lkw lud, sprach ich mit Norman, der seit elf Monaten in Vietnam ist, aber er sagt elf Monate, als wären es elf Jahre.

«Weisst du, ich hatte eben erst geheiratet, als ich einrücken musste. Sie hat nicht sehen wollen, wie ich fortging, und hat geweint und geweint. Da bin ich fort, als sie noch schlief. Ich bin ganz vorsichtig aufgestanden und habe mich in Strümpfen aus der Wohnung geschlichen. Sie war so schön im Schlaf. Ich konnte ihr nicht mal einen Kuss geben. Und wenn ich sie nie wiedersehe?»

«Du wirst sie wiedersehen, Norman. In einem Monat.»

«In einem Monat kann man hundertmillionenmal sterben. Heute früh hat der Hauptmann Freiwillige für den Hügel gesucht. Ich habe nein gesagt, aber wenn sie wollen, können sie mich trotzdem schicken. Bobby meint: Du bist immer traurig, lächle doch mal! Früher bin ich nie traurig gewesen, sondern immer fröhlich und ausgelassen. Weil ich jung war. Jetzt bin ich alt. Weisst du, dass ich ein weisses Haar gefunden habe? Schau nach, hier auf der linken Seite, es ist wirklich weiss.»

«Ich sehe keines.»

«Du siehst es nicht, aber es ist da. Vielleicht habe ich’s bekommen, als ich den Brief meines Bruders Charlie las. Da steht drin, dass sie ihn einberufen haben und nach Vietnam schicken. Ich habe ihm geantwortet, versuch zum Nachschub zu kommen, Charlie, und nicht zur Infanterie. Charlie ist ein so guter Junge, er hat noch keinen umgebracht, aber ich ja, und wenn einer von unserer Familie sterben muss, dann ist es nur gerecht, wenn’s mich trifft, findest du nicht auch? Das habe ich auch Kaplan Waters gesagt, manchmal tut’s mir richtig gut, mit Kaplan Waters zu sprechen, ich habe ihm gesagt: Wenn schon, dann soll’s mich treffen. Aber er hat gesagt: Ach, mein Sohn, dann schon lieber mich!»

«Auch dich wird’s nicht treffen, Norman.»

«Das sagt man so. Aber meine Angst, dass ich dran glauben muss, wird immer grösser. Zum Beispiel das zweite Mal, als ich im Gefecht war. Da hatte ich noch mehr Angst als das erste Mal. Und beim dritten Mal hatte ich noch mehr Angst als beim zweiten Mal und beim vierten noch mehr als beim dritten. Und immer, weisst du, immer bin ich verwundet worden. Und das nächste Mal legen sie mich um!»

«So etwas darfst du nicht sagen, Norman!»

«Warum nicht, wenn ich’s doch denke? Und ausserdem, weisst du, mag ich nicht töten. Ich kann nicht einsehen, warum man sich gegenseitig töten soll. Von mir aus sollen alle leben und glücklich sein; und dabei habe ich schon so viele umgebracht. Im Moment denkst du nicht daran. Du hast eine Wut, weil deine Freunde tot sind, und hast einen Hass auf die Welt, und der Feind ist für dich die Welt. Aber nachher bereust du’s und sagst: Guter Gott, verzeih! Guter Gott! Aber wann ist denn dieser Krieg zu Ende?»

«Das weiss ich nicht, Norman. Einmal muss er ja zu Ende gehen.»

«Ja, aber dann machen sie wieder einen neuen. Das ist doch immer so gewesen. Weil diejenigen, die den Krieg wollen, in Sicherheit sind und die andern sterben schicken, also uns. Weisst du, ich will nicht reich sein, ich will auch kein Held sein, ich will nur leben, das ist alles. Das Leben ist nämlich schön, weisst du. Früher wusste ich das nicht, aber jetzt weiss ich’s, und seitdem ich’s weiss, bin ich ein besserer Mensch. Aber kannst du wirklich mein weisses Haar nicht sehen? Du siehst es nicht, aber es ist da.»

Dann lud Norman an Stelle von Bobby die Kanister mit Wasser auf den Lkw, und Bobby kam zu mir und setzte sich an Normans Platz und erklärte, warum er ihn gern hatte. «Zum Beispiel, weil heute früh ein Transistor-Radio für ihn gekommen ist, weil er weiss, dass mir so was gefällt, hat er’s mir geschenkt. Nein, aber das ist es nicht mal. Es ist die Art und Weise, wie er mich aufgenommen hat, als ich hierher kam. Nicht wie ein Unteroffizier, weisst du, die Hautfarbe hat hier sowieso nichts zu sagen, sondern wie ein Bruder. Wir sind auf Patrouille gegangen, am Pfad waren Minen, und er wollte unbedingt vorangehen. Er befahl mir, Abstand zu halten. Und dann der erste Kampf, den wir zusammen mitgemacht haben. Norman wurde verwundet. Ich bin hingelaufen, um ihm zu helfen, und da bin ich auch verwundet worden. Und in Ohnmacht gefallen. Als ich wieder aufwachte, sah ich Norman über mir. Er hatte sich zu mir geschleppt, ein Bein voller Splitter und einen Arm voller Splitter, und zog mich weg. Kannst du das glauben? Du musst es glauben, weil das nämlich Freundschaft ist. Und Freundschaft ist schön, noch schöner als Liebe. Und das ist das einzig Positive am Krieg, dass du manchmal einen Freund findest. Alles andere ist Mist. Ich bin als Freiwilliger hier, weisst du. Aber jetzt habe ich einen solchen Hass auf diesen Krieg, dass ich’s gar nicht sagen kann. Vielleicht kann ich’s so sagen: Ich möchte gar nicht erst gekommen sein, ich schäme mich, dass ich gekommen bin.»

«Wie lang bleibt dir noch, Bobby?»

«Drei Monate. Weisst du, wie oft ich da noch sterben kann? Bis heute bin ich ja im Lager geblieben wegen der Verwundungen, aber jetzt bin ich wieder geheilt, und ich warte jeden Tag darauf, dass sie mich in den Kampf schicken. Aber ich will nicht, verdammt noch mal! Ich bin noch so jung und habe noch so lang zu leben, und schliesslich kommt man nicht auf die Welt, damit man mit zwanzig Jahren im Krieg stirbt. Man kommt auf die Welt, damit man im Bett stirbt, wenn man alt ist.»

Es war wirklich ein schöner Tag, mit diesen grünen Bäumen und diesem klaren Fluss, und eine Gruppe vietnamesischer Kinder, ihre spitzen Hüte auf dem Kopf, kam singend auf uns zu. Sie waren von einem Bauernhof in der Nähe, und eigentlich stellte das nichts Aussergewöhnliches dar, doch mir schien es als etwas Aussergewöhnliches, und das sagte ich Bobby. Bobby gab mir keine Erwiderung, seine Augen standen voller Tränen und sahen keine grünen Bäume, keine klaren Flüsse und keine Kinder, die unter spitzen Hüten sangen, sie sahen überhaupt nichts. In diesem Zustand verliess ich ihn und begab mich zum Lkw, und da fiel mein Blick auf den Aussenspiegel. Seit drei Tagen hatte ich mich nicht mehr im Spiegel gesehen. Fast schüchtern ging ich auf ihn zu und suchte mich darin und starrte dann entsetzt auf ein fremdes Gesicht. Kann man sich denn in nur drei Tagen so verändern ? Bobby hat recht. Hier gibt es keine grünen Bäume, keine klaren Flüsse, keine singenden Kinder.

Abends. Bei Sonnenuntergang hörte man ein Schreien: «Die Toten! Die Toten!» Wir liefen aufs Rollfeld, die Hubschrauber hatten sie schon ausgeladen. Einhundertzehn waren es, und sie kamen vom Hügel 875. Sie befanden sich in silbrigen Plastiksäcken mit Reissverschluss in der Mitte, lagen ausgerichtet in weiten Reihen, als sollten sie noch vor dem General paradieren. Einige hatten menschliche Konturen bewahrt, andere waren unförmige Pakete, alle waren sie in Verwesung, und der dämliche Oberleutnant kreischte: «Weg von hier, weg!»

Ich ging und hielt den Atem an, hinter einer Reihe von Lkws traf ich Bobby und Norman. Aufrecht, regungslos, die Arme verschränkt, die Augen starr auf die Rollbahn gerichtet. Schliesslich sagte Bobby: «Charlie Waters ist auch dabei. Aber sie haben nur den Kopf gefunden.» Waters, der Kaplan, der zu Norman gesagt hatte: «Wenn’s einen treffen soll, mein Sohn, dann lieber mich.» Und Norman stammelte mit belegter Stimme: «Nein!»

Ich gehe jetzt schlafen, man hat mir eine Pritsche zugeteilt. Das ist schon bedeutend besser, denn am Boden spürst du die Kanonenschüsse wie Schläge im Leib. Und dann ist es irgendwie tröstlich, bei den andern zu sein. Auf der Pritsche nebenan liegt Mazure. Er wiederholt dauernd, dass es morgen einen neuen Angriff auf den Hügel 875 gibt und dass ihn die Amerikaner diesmal erobern.

23. November, abends. Der Hügel 875 ist von den Amerikanern erobert worden. Ich mache diese Notizen im Flugzeug, das uns von Pleiku nach Saigon zurückbringt. Ich mache sie ungern, weil ich mich nicht erinnern will, ich glaube, keiner will sich erinnern. Zudem ist in meinem Kopf ein grosses Durcheinander, es ist alles so schnell gegangen. Plötzlich erschien der dämliche Oberleutnant, klatschte in die Hände und verkündete: «Hubschrauber zur Verfügung! Feuerzone! Feuerzone!» Als verteilte er Freikarten für eine Theateraufführung. Längs des Rollfelds bildete sich die bekannte Schlange, und als die Hubschrauber starteten, stiegen vom Hügel schwarze Rauchwolken auf, der letzte Napalmteppich, um den Widerstand der Nordvietnamesen auf ein Mindestmass zu reduzieren. Keiner wechselte ein Wort mit dem andern, Mazure hatte einen verschlossenen, angespannten, fast bösen Gesichtsausdruck. Die Hubschrauber landeten dicht am Vorgelände des Massakers, wo die Infanteristen zusammengezogen waren und die Fallschirmjäger des 173. Airborn, bereit zum Sturmangriff. Auch hier redete keiner, sie hatten alle den leeren Blick von Menschen, denen keine Wahl bleibt. Vor zwei Stunden hatte Kaplan Roy Peters, der an die Stelle von Kaplan Waters getreten war, die Messe gelesen. Viele waren zur Kommunion gegangen. Das Vorgelände lag noch voller blutiger Bandagen, leerer Arzneischachteln, geschwärzter Patronenhülsen und durchlöcherter Helme. Jack Russell von der NBC war der einzige, der es fertigbrachte, herumzugehen und Fragen zu stellen; und allen stellte er dieselbe Frage: «Glaubst du, dass es sich lohnt?» Die meisten antworteten: «Ja, wir haben zu viele Jungs verloren, wir müssen diesen verdammten Hügel einnehmen.» Andere sagten «Nein!» und wollten dem nichts hinzufügen. Ein Neger antwortete, ohne sein Gesicht zu heben: «Lasst mich doch in Ruhe, mir ist alles egal, mir ist es auch egal, wenn ich sterbe.» Dann vernahm man eine Stentorstimme: «Und jetzt will ich, dass ihr da raufkommt und diesen Hundesöhnen eine Lektion verpasst!» Allen gab es einen Ruck, und sie begannen den Aufstieg. Fünf Minuten lang rückten sie vor, ohne dass etwas geschah, es war wie eine Bergbesteigung. Dann hörte man ein Pfeifen und noch ein Pfeifen, und die Hölle brach aus. Raketen, Mörser, Granaten, eine Feuerlawine, die niedergeht und sich dabei aufbläht, vergrössert und auseinanderbricht in tausend andere Feuerlawinen inmitten des Geschreis. Sie schrien alle. Die einen: «Vorwärts! Vorwärts!» Die andern: «Tragbahren! Tragbahren!» Wieder andere die abscheulichsten Flüche. Ein Raketenvolltreffer erreichte den Neger, der gesagt hatte: «Lasst mich doch in Ruhe, mir ist alles egal, mir ist es auch egal, wenn ich sterbe.» Von ihm blieb nur ein Schuh übrig. Eine andere Rakete traf einen rotschopfigen Soldaten, von ihm blieb nicht einmal ein Schuh übrig, es blieben nur diese rostbraunen Flecken, die nun Mazures Hemd verunzieren. Es war der Soldat, der gefragt hatte: «Madam, ist es wirklich da droben so scheusslich?» Und dem ich geantwortet hatte: «Aber nein, Soldat, aber nein. Du wirst schon sehen, heute ist es ruhig.» Der Angriff dauerte sechzig Minuten, und anscheinend erreichte Eurate Kazikas als erste den Gipfel des Hügels, ein Mädchen, eine Fotografin. Tatsache ist, dass niemand auf dem Gipfel war, die Nordvietnamesen hatten sich in der Nacht abgesetzt und auch den letzten Toten mitgeschleift. Als die Amerikaner hinaufkamen, fanden sie dort nur Eurate, Steine, verkohlte Baumstümpfe und Körperteile. «Sir», meldete der Funker dem Kommandanten, «im Lager fordern sie die Zahl der nordvietnamesischen Gefallenen.» – «Sag ihnen, dass ich nur die Zahl der unsern durchgeben kann», erwiderte der Kommandant. «Einhundertfünfzig.»

Oder zweihundertfünfzig? Ich erinnere mich nicht mehr, ich müsste Mazure fragen, der hier neben mir schläft mit seinem blutverschmierten Hemd, und den hie und da ein Schauder schüttelt. Ich möchte auch schlafen, aber nicht hier. Ich möchte in einem Bett schlafen. Ich möchte ein Bad nehmen. Ich möchte diese Uniform ausziehen.