In meiner Vergangenheit hatte ich eine Reihe sexueller Begegnungen, die ich inzwischen als No-Go bezeichne. Warum genau ich mich von mir selbst distanziere, gedachte ich in einem langen Text auszubreiten. Ich wollte mich freiwillig an den Pranger stellen, wie so viele andere schreibende Männer in den letzten Jahren. Getrieben von Debatten zu #MeToo einstimmen in den Kanon der Selbstbezichtiger, vor dem staunenden Publikum ebenso tapfer wie schuldbewusst in die Knie gehen, handfeste Beweise der Besserung ausbreiten, um danach geläutert auszurufen: Endlich bin ich nicht mehr toxisch! Als neuer Mann wollte ich danach von der Gesellschaft wieder aufgenommen werden (hoffentlich).
Zur Vorbereitung las ich begierig, was die Kollegen schrieben. «Oft wusste ich mir mit meiner Lust nicht anders zu helfen, als einer Frau beim Tanzen wie beiläufig über den Po zu fahren, voller Furcht, dass sie es merkt, und auch voll vager Hoffnung, dass daraus etwas folgen könnte.» Dann vermerkt der Autor von Das Magazin schuldbewusst, wie daneben sein Verhalten gewesen sei und er sich natürlich ändern werde. Oder ein anderer männlicher Schreiber: «Ich war so stark, ich war so potent, ich war so hart – aber meine grösste Stärke war es, genau das zu überwinden.» Im Artikel für Die Zeit beschreibt der Kollege unter anderem eine Szene aus seiner Vergangenheit, die eigentlich «eine Vergewaltigung» gewesen sei.
Ich las die Texte mehrmals, teils fasziniert, teils erschreckt. Dann setzte ich mich hin und füllte Blätter mit eigenen Erinnerungen. Denn auch ich hatte einst einer Bekannten an den Hintern gegriffen, mit gutem Grund, wie ich glaubte: um ihr aus dem schäumenden Meer auf eine sichere Klippe zu helfen. (Dreissig Jahre später entschuldigte ich mich dafür; sie konnte sich nicht erinnern.) Ich hatte die Einsamkeit einer Frau ausgenützt, um zu Sex zu kommen. Zwar war sie zu gemeinsamen Nächten bereit gewesen, aber sie wollte mehr als ich, und am Ende bekam
ich, was ich wollte, sie nicht. Nicht zu vergessen meine Erfahrungen mit Frauen anderer Kontinente: die Faszination, nach sechs Metern Sari auf Haut zu stossen.
Das – und einiges mehr – wollte ich öffentlich präsentieren. Ich schrieb und schrieb, fand die Kombination von Sexgeschichten und Schuldgefühlen geradezu prickelnd, war mir einer Absolution eigentlich sicher, denn ich glaubte beweisen zu können, dass ich mich geändert hatte. Aber hatte ich das wirklich? Als ich meinen Erguss zum ersten Mal von A bis Z las, war ich mir plötzlich nicht mehr sicher. Was wollte ich eigentlich? Was wollten die Kollegen, abgesehen vom oberflächlichen mea culpa? Weshalb hatte ich in meinem Entwurf, so wie sie in ihren fertigen Texten, die Perspektive der betroffenen Frauen ausgeblendet? Wollten wir wirklich Vorbilder sein?
Ich brauchte einige Tage, um eine Antwort zu finden. Als ich sie hatte, reagierte ich sofort: Mein Text landete im digitalen Papierkorb. Ich hatte begriffen: Weit mehr als Absolution zu erhalten, wollte ich meine gesammelten erotischen Erlebnisse vor den Augen der Öffentlichkeit nochmals Revue passieren lassen, die Hintergründe der Metamorphose nochmals eingehend beleuchten. Und also klarmachen: Hallo Leute, was war ich doch früher für ein Hirsch! Die Botschaft ging sowohl an Männer, die Konkurrenten im ewigen Wettbewerb um die optimale Kombination von Ei und Spermium, als auch an die Frauen: Hi, ihr Schönen, vor euch steht der perfekte Partner! Neuerdings voll korrekt und so ungiftig wie ein Champignon, aber sonst immer noch der Alte – ein männlicher Mann, der immer kann (theoretisch).
Ich erkannte, dass diese Geschichte keine Geschichte ist. Und dass bei diesem Thema heilsame Metamorphosen nicht so leicht zu haben sind. Ich ist doch kein anderer.
Neue Männer braucht das Land – Simone de Beauvoirs Satz «Man wird nicht als Frau geboren, man wird es» lässt sich auch auf meinesgleichen übertragen. Gibt es sie? Seit mein Stiefsohn seinen Penis entdeckt hat, beobachte ich, wie er sich gegenüber Frauen verhält.
Im Gymnasium hatte er eine Phase, die mir nicht sonderlich gefiel. Dass er keinen One-Night-Stand ausliess, konnte ich nachvollziehen, aber wie er die Frauen danach stehenliess, fand ich recht rüd: Next please. Er sehe das allerdings anders, hat er mir dann gesagt, denn er und seine Mitmenschen pflegten körperlich ein generell lockereres Verhältnis zueinander als meine Generation. Die rigorose Mann-Frau-Schranke sei eh aufgeweicht, alle kämen sich physisch nahe. Was man küssen kann, wird geküsst, und beim Sex geht’s um Sex. Gefühle gibt es frühestens nach dem übernächsten Mal.
Inzwischen ist er 24, und ich kann von ihm lernen. Er himmelt Frauen weder an noch behandelt er sie herablassend, sondern ganz einfach: normal. Er verhält sich auch so.
Als wir kürzlich essen gingen, sagte die Serviererin zu ihm: «Wow, hast du schöne Augen.» Da sie selbst umwerfende Augen hatte, schienen sich zwei gefunden zu haben. Jetzt aber Vollgas, dachte ich. Zwar folgte er ihr an den Tresen, aber nicht, um ihre Telefonnummer zu ergattern – er gab ihr die seine. Weshalb?, fragte ich, als er wieder am Tisch sass. «Weil ich wollte, dass sie frei entscheiden kann, ohne Druck. Mein Ja hatte sie bereits.» (Sie rief an.) Vielleicht nur ein Detail, aber für mich zeugt es von einem anderen Denken, von Respekt und Achtung. Summieren sich solche Details, können sie vielleicht zu einer guten Lösung werden, eines Tages. Der Sohn meines Stiefsohns wird es noch besser machen.
Und der Sohn des Sohns noch besser. Ich hoffe, das ist keine Illusion.