Insta spaltet eine Schule
In einer kalifornischen Kleinstadt gerät der Konflikt um einen Social-Media-Account vollkommen ausser Kontrolle.
Anfang des Sommers 2023 sass Melisa Pfohl, die Leiterin einer Grundschule in Albany, bei einer Freundin auf der Couch und trank Kaffee. Dabei scrollte sie durch E-Mails, die sich über einen kurzen Urlaub nach Schuljahresende angesammelt hatten. Darunter fand sich eine Nachricht des Leiters ihres Schuldistrikts, die kurz und bündig ausfiel. Am 20. Juni hatte der Oberste Gerichtshof die Verhandlung der letzten anhängigen Berufung aus der letzten verbliebenen Klage abgelehnt. Sie gingen alle auf den Fall um einen Instagram-Account zurück, der 2017 die High School erschüttert hatte. Als der Account entdeckt wurde, absolvierte Pfohl ihr erstes Jahr als stellvertretende Schulleiterin, nachdem sie zehn Jahre an einer Grundschule unterrichtet hatte. Pfohl, eine Frau mit asiatisch-europäischen Wurzeln, gewelltem silbernem Haar und einem silbernen Nasenring, kannte einige der Schüler, die in die Instagram-Affäre verwickelt waren, seit der dritten Klasse. Sie setzte die Kaffeetasse ab und fing an zu weinen. «Es ist eine enorme Erleichterung, dass diese Sache erledigt ist», sagt sie.
Aber war sie wirklich erledigt? Denn Albany, eine wohlhabende Stadt mit rund 20 000 Einwohnern in der San Francisco Bay Area, kämpft noch immer mit den Folgen. Es handelte sich um einen privaten Instagram-Account mit kaum mehr als einem Dutzend Followern. Nur wenige Menschen haben ihn gesehen, als er online war. Dennoch hat seine Entdeckung Leben aus der Bahn geworfen, Beziehungen zerstört und Familien dazu gebracht, die Stadt zu verlassen. Was in Albany geschehen ist, ist im Internet geschehen, aber die Folgen waren dort zu spüren, wo Menschen zusammenkommen: in ihrem Zuhause ebenso wie in Klassenzimmern, in Supermärkten und auf Sportplätzen. Auch das Selbstbild der kleinen Stadt wurde beschädigt. Albany ist so klein, dass die Leute, die dort leben, es Smallbany nennen. Die Stadt grenzt im Süden und Osten an Berkeley, im Westen an das graublaue Wasser der San Francisco Bay und im Norden an El Cerrito. Die Häuser sind meist verputzte oder holzverkleidete Bungalows, deren Vorgärten und Veranden mit Regenbogenfahnen und Black-Lives-Matter-Schildern geschmückt sind.
Fast die Hälfte der Einwohner ist weiss, über ein Viertel asiatisch, dreizehn Prozent sind Latinos. Man könnte die Stadt als «divers» bezeichnen, und wenn man weiss ist, tut man das wohl auch, aber für schwarze Einwohner, die gerade einmal vier Prozent der Bevölkerung ausmachen, fühlt sie sich nicht besonders divers an. Das mittlere Haushaltseinkommen liegt bei 113 000 Dollar. Eltern zwängen sich vor allem aus einem Grund in die bescheidenen Wohnhäuser Albanys: die Schulen. Wer zu den rund 1200 High-School-Schülern Albanys zählt, darf sich glücklich schätzen. Die Schulen – drei Grundschulen, eine Middle School und eine High School mit vier Jahrgängen – sind das, was Albany zusammenhält. Nach der Entdeckung des Instagram-Accounts waren sie es aber auch, die die Stadt auseinanderrissen.
Bei der Abschlussfeier der Middle School im Juni sassen Eltern, deren Kinder sich auf entgegengesetzten Seiten des Konflikts befanden, zwei Reihen voneinander entfernt, sprachen aber kein Wort miteinander. An der High School, wo infolge des Falles um den Account die Disziplinarrichtlinien und der Lehrplan überarbeitet wurden, haben Lehrer gegensätzliche Sichtweisen, wie genau die Ereignisse zu interpretieren seien. Für einige ist es eine Katastrophe, die sich trotz der besonderen Tugenden Albanys – klein, liberal, gebildet, gut vernetzt – ereignet hat; für andere ist es eine Folge der Defizite der Stadt: zu weiss, zu insulär, zu wohlhabend, zu besessen von akademischen Leistungen.
Auf die Fragen, die der Account aufgeworfen hat – wie man Bigotterie bekämpft, welche Auswirkungen soziale Medien haben und wie man am besten reagiert, wenn junge Menschen in der Gemeinschaft den Werten, die man zu teilen geglaubt hatte, kein bisschen gerecht werden –, gibt es keine einfachen Antworten. Egal, was man über Albany, über die Vereinigten Staaten von Amerika, Teenager, Rassismus, Sexismus, soziale Medien, Bestrafung und den Diskurs zu diesen Themen denkt, die Geschichte des Instagram-Accounts lässt sich immer als Beleg heranziehen. Es ist der Vorfall, der alles erklärt, aber auch der Vorfall, der sich nicht erklären lässt. Ich habe es trotzdem versucht.
Für Alice (Name geändert) begann alles am 20. März 2017, kurz vor 11 Uhr. Die Junior-Schülerin der Albany High School kam gerade aus dem Kochunterricht, als eine Gruppe von Mädchen, die meisten von ihnen afroamerikanisch, auf sie zukam. «Wir müssen dir unbedingt was sagen», sagte eine von ihnen. «Es gibt da einen rassistischen Instagram-Account, und ein paar Leute folgen ihm. Da sind Fotos von dir drauf.»
Jeder an der Schule schien mindestens zwei Instagram-Accounts zu haben. Einen sorgfältig kuratierten für Familie, Verwandte und Leute aus anderen Schulen. Und einen «Spam»- oder «Finsta»-Account, auf dem Memes, Rants und ungeschönte Wahrheiten für den Freundeskreis veröffentlicht wurden. Aber dieser Account war etwas anderes. Die meisten Mädchen, die Alice umringten, weinten. Sie kannten Charles und viele der dreizehn Follower des Accounts seit Jahren. Sie gehörten zum gleichen Freundeskreis. Sie hatten beieinander übernachtet, im Unterricht miteinander Zeit verbracht und nach der Schule zusammen rumgehangen. Einige von ihnen wollten miteinander zum Abschlussball gehen.
Alice war die Einzige unter den Mädchen, die nicht überrascht war. Sie schlug mit der Faust gegen die Wand. «Ich hätte auf meine Mom hö-
ren sollen», dachte sie. «Ich hätte etwas tun sollen, um das zu verhindern.» Alice erinnerte sich daran, dass sie, seit sie in der dritten Klasse die Schule gewechselt hatte, das Gefühl hatte, am falschen Ort zu sein. Auf der High School verstärkte sich dieses Gefühl. Sie hatte einen afroamerikanischen Vater und eine weisse Mutter. Für sie war klar, dass sie nicht die Art von Mädchen war, die den Jungs in Albany gefiel. Sie mochten Mädchen in Leggings, die ihre langen, glatten Haare über die Schultern warfen und lachten, wenn die Jungs sie neckten. Alice würde nie zu ihnen gehören. Das lag nicht nur an ihrer braunen Haut, ihren Locken und ihrer tiefen Stimme. Es lag vielmehr an ihrer Haltung. Ihre Freunde beschrieben sie als stark, sarkastisch und direkt, aber ihr selbstbewusstes Auftreten verdeckte, dass sie auf wackligen Beinen stand. Kurz bevor sie auf die High School kam, war ihr Vater gestorben. Seither kämpfte sie mit Depressionen.
Die Probleme mit Charles und seinen Freunden hatten ein paar Monate zuvor angefangen. Alice sass im Algebra-Unterricht, als sie eine Hand in ihren Haaren spürte. Sie gehörte einem weissen Jungen, den sie kaum kannte. Sie schlug seine Hand weg. Mitten im Unterricht wollte sie keine grosse Sache daraus machen. Wenn sie sich mit jedem streiten würde, der versucht, ihre Haare zu betatschen, wäre sie schnell am Ende ihrer Kräfte. Dann zeigte ihr eine Freundin ein Video der Aktion, das Charles auf seinem Finsta-Account gepostet hatte. Darunter hatte er geschrieben: «Touching the Nap». Alice konfrontierte Charles auf Snapchat, und nach einigem Hin und Her löschte er das Video. Aber ein paar Tage später hörte sie, dass Charles ein weiteres Foto von ihr gepostet hatte. Diesmal war nur ihr Hinterkopf zu sehen. Die Bildunterschrift fragte, ob das Foto Alice oder ein anderes afroamerikanisches Mädchen aus der Klasse zeige, als könnte man die beiden nicht auseinanderhalten. Diesmal stellte sie Charles zur Rede und zwang ihn, das Foto zu löschen.
Aber das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb. Es machte es ihr schwer, zur Schule zu gehen. Auf Drängen ihrer Mutter sprach sie schliesslich mit Melisa Pfohl. Alice bestand darauf, dass die Schule nichts unternehmen sollte. «Ich wollte nicht noch mehr Konsequenzen», sagte Alice. Pfohl erinnert sich, dass sie die Selbständigkeit einer Teenagerin respektieren wollte, die die Situation lieber selbst regeln wollte. «Obwohl mir die Sache ziemlich daneben zu sein schien», so Pfohl heute, «hatte ich damals keine Ahnung, was sich da anbahnen sollte. Ich wünschte, ich hätte es gewusst.»
Bis zur Mittagszeit hatte der Kummer der Mädchen bereits die Aufmerksamkeit der Schulverwaltung erregt. Pfohl und die andere stellvertretende Leiterin der Schule, Tami Benau, brachten sie in einen Konferenzraum. Alle redeten durcheinander, viele weinten. Schliesslich ging Benau los, um mit Murphy, dem Jungen, der die Existenz des Accounts offengelegt hatte, zu reden. Pfohl verteilte Formulare, um die Beschwerden der Schülerinnen aufzunehmen. Nur wenige hatten den Account selbst gesehen, aber die anderen erinnerten sich jetzt wieder an Kommentare und rassistische Witze, die sie in der Vergangenheit abgetan hatten. Das alles erschien plötzlich in einem anderen Licht.
Das Problem war nur, es gab keine Beweise. Die zehn Mädchen fühlten sich hoffnungslos, ihr Wort würde gegen das der Jungs stehen. Eines der Mädchen, Kerry, war nicht mit in den Raum gegangen. Sie war sowohl mit Alice als auch mit Charles eng befreundet. Die Tochter von Einwanderern aus Thailand war dafür bekannt, derart nett zu allen zu sein, dass ihre Freunde sie damit aufzogen. Jetzt überlegte sie, wie sie an das herankommen könnte, was die Mädchen auf Murphys Handy gesehen hatten. Auf dem Weg zur fünften Stunde suchte sie auf ihrem Handy den Instagram-Account. Er war privat, so dass sie die Posts nicht sehen konnte, aber ihr wurde angezeigt, wer von den Leuten, denen sie folgte, auch dem Account folgte. Ein Name fiel ihr auf: Es war ein Junge mit asiatischen, europäischen und lateinamerikanischen Wurzeln, der in den Prozessen als John Doe bezeichnet wurde, um seine Identität zu schützen. Kerry kannte ihn kaum, aber sie folgten einander auf Instagram, und eine Freundin von ihr, Rosie, hatte ihn kurz gedatet. Beide waren in ihrem Psychologiekurs, der als Nächstes auf dem Stundenplan stand. Als sie das Klassenzimmer betrat, bat sie Rosie, sich John Does Handy zu leihen und sie auf der Toilette zu treffen.
Doe und Rosie erinnern sich unterschiedlich an das, was Rosie sagte, als sie auf ihn zukam. Rosie, ihrerseits weiss, meint, sie habe ihn direkt gefragt: «Kerry hat mir erzählt, es gebe da einen rassistischen Instagram-Account, dem du folgst. Kann ich mir mal dein Handy ansehen?» Doe sagt, sie habe ihm Ausflüchte aufgetischt, etwas in der Art von «Hey, mein Akku ist leer, und ich muss meine Eltern anrufen». Beide stimmen darin überein, dass er sein Handy entsperrte und es ihr gab.
Wenige Minuten später standen Kerry und Rosie in der Toilette und beugten die Köpfe über das Handy. Kerry machte mit ihrem Handy Fotos vom Bildschirm, während Rosie durch den Account scrollte. Einige der Posts waren von der Art, wie man sie auf jedem anderen Account eines High-School-Schülers findet: Memes, Jungs, die sich gegenseitig aufziehen, das übliche dumme Zeug. Aber der Rest war schockierend: ein halbes Dutzend Posts, in denen weisse und asiatische Mädchen aus der Schule wegen ihres Gewichts oder ihres Aussehens verspottet wurden. Am schlimmsten war der Rassismus: schwarze Männer, die verprügelt oder gelyncht wurden. Witze über den Ku-Klux-Klan und rassistische Beleidigungen. Unter einem Screenshot aus dem Snapchat-Gespräch zwischen Charles und Alice über das Video, in dem ihre Haare berührt worden waren, stand: «Ich bin kurz davor, am Montag meinen Strick mit in die Schule zu bringen.»
«Es war so viel schlimmer, als ich erwartet hatte», sagt Kerry. «Ich hätte nicht gedacht, dass es mich so treffen würde, aber ich habe gezittert.» Die beiden hatten nicht viel Zeit. Rosie fotografierte die anstössigsten Posts, gut zwei Dutzend. Sie fotografierte die Kommentare und die Liste der Follower. Dann schickte sie die Fotos per Airdrop an Pfohl und einige Mädchen. Als Alice die Fotos durchging, konnte sie kaum fassen, was sie sah. Dann fiel ihr ein Foto auf, das von ihrem Instagram-Account geklaut war; ihr Lieblingsfoto von einem Trip zum Lake Tahoe, den sie mit ihrer besten Freundin gemacht hatte. Jemand hatte ihm ein Foto von einem Gorilla beigefügt. «Es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube! Nichts, was ich jemals tue, wird gut genug für diese Leute sein», erzählte mir Alice später.
Am Abend rief Charles seine Schwester an, die von zu Hause ausgezogen war, um aufs College zu gehen, und schluchzte ins Telefon. Es war schon öfter vorgekommen, dass er sie in Tränen aufgelöst angerufen hatte. Meist weil er sich mit ihrer Mutter gestritten hatte, die sich einige Jahre zuvor von ihrem Vater hatte scheiden lassen. Verglichen mit seiner Schwester war Charles ein Faulpelz – schlau genug, um höhere Kurse in Computerwissenschaften und Physik zu belegen, aber nicht motiviert genug, um über mittelmässige Noten hinauszukommen. Seine engsten Freunde waren Jungs, mit denen er seit der Middle School befreundet war, die meisten von ihnen weiss oder asiatischer Herkunft. Er war aber auch mit mehreren Leuten aus Cliquen von afroamerikanischen und asiatischen Mädchen eng befreundet. Die Schwester liess Charles hinter seine harte Fassade blicken. «Ich habe etwas wirklich Schlimmes getan», sagte Charles. Er brauchte lange, um ihr zu sagen, was genau. «Wir kriegen das schon wieder hin», versicherte sie ihm, nachdem er ihr den Instagram-Account beschrieben hatte. Sie schlug vor, zuallererst Verantwortung zu übernehmen. Charles verfasste mit seiner Schwester eine Entschuldigung und postete sie noch an diesem Abend auf Instagram:
Ich habe Menschen, die mich für ihren Freund hielten, hintergangen. Die Inhalte, die auf dem Account veröffentlicht wurden, geben nicht meine wahre Einstellung gegenüber People of Color wieder. Ich möchte eine rechtschaffene Person sein. Jemand, dem alle Menschen am Herzen liegen und dem andere vertrauen können. Diesem Anspruch bin ich in keinster Weise gerecht geworden. Ich kann rational nicht begründen, warum ich getan habe, was ich getan habe. Ich dachte dummerweise, es würde bei meinen Freunden gut ankommen. Ausser mir hat niemand sonst Feindseligkeit oder Konsequenzen verdient. Ich erwarte nicht, dass man mir vergibt, weil meine Taten unverzeihlich sind.
Danach schlief er, erschöpft vom vielen Weinen, ein. Der Account wurde in einem Restaurant der Kette Melt, die für ihre Grilled-Cheese-Sandwiches bekannt ist, gestartet. Dort war Charles mit drei Freunden, zwei davon Kinder von chinesischen Einwanderern, der dritte ein weisser Junge, der dafür bekannt war, auch mit den beliebten Kids der High School befreundet zu sein. Es war an einem Wochenende Ende 2016, als die vier Jungs das taten, was sie immer taten, wenn sie sich sahen: Sie versuchten, sich gegenseitig zum Lachen zu bringen. Während sie auf ihr Essen warteten, scrollte Charles durch die Bilder auf seinem Handy – von ihm erstellte Memes und Fotos, die er für zukünftige Memes gespeichert hatte. Vorbild war das Zeug, das er im Internet gesehen hatte, bei Youtube und Reddit. Inhalte, die witzig zu sein schienen, weil sie anstössig waren.
Humor war das Bindemittel in ihrer Clique. Sie waren Klassenclowns. Diejenigen, die Grenzen austesteten. Charles zeigte den Jungs ein Foto von seiner Freundin Ana in schwarzem Minikleid und weissem Mantel. Ana, deren Vater Afroamerikaner und deren Mutter weiss ist, hatte es auf Instagram gepostet und dazu geschrieben: «Ich will die alte Zeit zurück.» «Aber will sie das wirklich?», meinte Charles. Als wir ein Jahr später über diesen Moment sprachen, war sich Charles nicht sicher, ob er bei dem Witz nicht deutlicher geworden war: Wenn die alten Zeiten wirklich wiederkämen, wäre Ana eine Sklavin. Aber egal, was genau er gesagt hat, die anderen lachten. Also machte er ein Meme aus dem Witz und fügte Anas Foto einen alten Kupferstich hinzu, auf dem ein schwarzer Mann an einem Baum aufgehängt und von einem weissen Mann geschlagen wird. Darunter schrieb er: «Willst du das wirklich?»
«Die solltest du irgendwo posten», meinte sein weisser Freund und schlug vor, einen Instagram-Account für solche «kontroverseren» Inhalte zu starten. Alle sagten, sie würden dem Account folgen. Also legte Charles einen neuen privaten Account an, den er @yungcavage nannte, ein Wortspiel mit «young savage». Bis März hatte der Kanal vierzehn Follower, darunter Charles selbst. Die ersten waren enge Freunde von Charles, alle Juniors wie er, also im dritten High-School-Jahr. Die übrigen sechs gehörten nicht zu seinem engsten Freundeskreis. Drei waren Juniors, mit denen er ausserhalb der Schule keine Zeit verbrachte. Die anderen drei waren Sophomores (Studenten im zweiten Jahr) aus der Klasse unter ihm. Charles kannte sie nur flüchtig, weil eine von ihnen mit Charles den Mandarin-Kurs besuchte und ihm die anderen vorgestellt hatte. Sechs der Follower waren weiss, die anderen asiatischer, lateinamerikanischer und nahöstlicher Herkunft.
Im Rückblick führt Charles seinen anstössigen Humor auf Videospiele zurück. Wer schon einmal eine Runde League of Legends gespielt hat, hat garantiert eine Flut von rassistischen und homophoben Beleidigungen von anderen Spielern zu hören bekommen. Man kann über solche Sachen leicht lachen, wenn sie einen selbst nicht betreffen – und man kann zeigen, dass man in diesem Online-Königreich dazugehört, wenn man auch lacht, obwohl man Ziel des Spotts ist. «Bei all diesen Witzen wusste ich tief in mir drin, dass es falsch ist», erzählt Charles. «Sie sind beleidigend. Das macht einen Teil des Humors aus.» Es geht darum, Grenzen zu überschreiten und zu schockieren. Entsprechend wurde es umso witziger, je schlimmer die Worte waren. «Ich nehme an, der Humor wurde immer schwärzer, je tiefer ich ins Internet abtauchte», erzählt er.
Man könnte glauben, mit Ironie vorgetragener Rassismus wäre im eigentümlichen Brutkasten der Gen-Z-Kultur zufällig entstanden. Aber es gibt Belege dafür, dass weisse Suprematisten und Neonazis diese Art von Humor aktiv in den Mainstream getragen haben. Da Reddit seit 2017 seine Inhaltsrichtlinie stärker durchsetzt, ist viel von dem, was Charles und seine Freunde dort zu sehen bekommen haben, seither auf andere Plattformen wie 9GAG, iFunny und Discord abgewandert oder wird in Videos für Tiktok und Instagram aufbereitet. 2017 war anstössiger Humor an der Albany High School jedenfalls ziemlich weit verbreitet, zumindest unter weissen und asiatischen Jungs. Charles sagt heute, dass er, würde er den Account als Aussenstehender sehen, aus diesem schliessen würde, dass die Person, die ihn erstellt hat, von Hass erfüllt ist. Nicht nur wegen der Bilder, sondern weil diese Person es auf bestimmte Menschen abgesehen hatte, darunter seine schwarzen Freunde. Allen voran Ana, die seit der achten Klasse eine seiner engsten Freundinnen war. «Weil das die Menschen waren, mit denen ich Tag für Tag zu tun hatte, wirkt es so, als ob ich sie hassen würde. Aber das tue ich nicht.»
Er weiss, dass das nur schwer zu glauben ist und nach Ausflüchten klingt. «Die ganzen Bilder sind total daneben. Sie sind zweifellos rassistisch. Ich streite das gar nicht ab. Aber ich habe das Gefühl, dass man, so wie ich die Sache erkläre, denken könnte, ich würde es abstreiten.» Zur gleichen Zeit, als Charles auf @yungcavage rassistische Bilder postete, schrieb er einen nachdenklichen Essay über Rassismus. Vielleicht schrieb er ihn nur, um eine gute Note zu bekommen. Vielleicht hatte Charles aber auch einen Weg gefunden, wie beide Seiten seiner Persönlichkeit in friedlicher Koexistenz in seinem Kopf wohnen konnten, wie Nachbarn, die denselben Aufzug nehmen, aber nie miteinander sprechen.
An dem Abend, als der Account aufflog, ging John Doe mit zwei seiner engsten Freunde, einem weissen Jungen und einem asiatischen Mädchen, ins Kino, um sich Kong: Skull Island anzusehen. Mitten im Film begann eines ihrer Handys ständig zu vibrieren. «Hey Leute», flüsterte das Mädchen, «das müsst ihr unbedingt sehen.» Im Vorraum des Kinos zeigte sie ihnen, worum es ging. Ihr Telefon wurde mit Fragen, Kommentaren und Anschuldigungen überschwemmt. Allen dreien erging es gleich. Es hatte irgendetwas mit dem Instagram-Account zu tun, dem sie folgten, @yungcavage. Die Leute schienen zu glauben, dass die drei Sophomores in die Sache verwickelt waren, was sich keiner von ihnen erklären konnte. Sie kannten Charles kaum, der eine Klasse über ihnen war. Das Mädchen, dessen Telefon keine Ruhe mehr gab, war im gleichen Mandarin-Kurs wie Charles, der ihr vorgeschlagen hatte, dem Account zu folgen. Die anderen beiden folgten ihm ebenfalls, weil sie fast alles gemeinsam machten.
Keiner von ihnen konnte sich erinnern, was der Account enthielt, und als sie nachschauen wollten, war er bereits gelöscht. Doe folgte mehr als tausend Accounts und sagt heute, dass ihm erst viel später, als er die Fotos der Posts zu sehen bekam, klarwurde, dass er überhaupt mit @yungcavage interagiert hat. Tatsächlich hatte er viele der Posts gelikt und zwei davon kommentiert. Aber an dem Abend im Kino erinnerte er sich eigentlich nur daran, dass der Account ähnlich «kontrovers» wirkte, wie es Youtuber wie iDubbbz und Filthy Frank waren, denen er folgte und die für ihr provokatives Verhalten bekannt waren. Ihre Bandbreite reichte von rassistischen Beleidigungen bis zum Backen von Kuchen aus Kotze. «Es war nie etwas, das ich jemals aktiv aufgerufen oder durchgesehen oder über das ich auch nur ernsthaft nachgedacht hätte», meint Doe heute. Er gehörte zu den Leuten, die aus Gewohnheit immer zweimal auf den Touchscreen tippten: scrollen, liken. Später fragte er sich, warum das so war. «Ich habe mich gefragt, warum ich damals nicht erkannt habe, dass der Account problematisch ist. Warum habe ich nichts gesagt?»
Aber am 20. März 2017 dachte er nur darüber nach, wie er den entstandenen Schaden eindämmen konnte. Im Alter von fünfzehn Jahren sah er sich als geselligen Typen, der freundliche Zuvorkommenheit und Coolness auf eine besondere Weise in sich vereinte, die bei Lehrern ebenso gut ankam wie bei Gleichaltrigen. Als er nach dem Film nach Hause kam, veröffentlichte Doe eine lange Nachricht für die 1200 Follower seines Hauptaccounts auf Instagram. Er erinnert sich, dass er schrieb: «Ich habe diesen Account nicht erstellt. Ich billige nicht, was auf diesem Account gepostet wurde.» So ging es weiter. Ein ganzer Absatz, in dem er sich gegen die Anschuldigung verteidigte, er sei ein Rassist.
Doch sein Post, an dem er stundenlang gefeilt hatte, machte alles nur noch schlimmer. «Wenn du davon gewusst und nichts gesagt hast, dann billigst du es», antwortete jemand. In dieser Nacht konnte er nicht schlafen, ging in seinem Zimmer auf und ab. Getrieben von Wut auf sich selbst und Angst umkreiste er immer wieder seine Matratze, die auf dem Boden lag, damit seine alte, blinde Katze daraufklettern konnte. Er wollte seinen Eltern nichts davon erzählen, um zu vermeiden, dass sie ihn so sahen, wie er sich plötzlich selbst sah. «Ich hatte Angst, sie würden mich für einen Rassisten halten», erzählt er.
Zu den Sitzungen des School-Boards fanden sich normalerweise keine grösseren Menschenmengen ein. Aber am 28. März 2017, acht Tage nach Entdeckung des Accounts, war jeder Platz gefüllt. Die Leute standen bis auf den Flur. Eine Woche zuvor hatte der Lokalsender KTVU in den Abendnachrichten einen Beitrag über den Instagram-Account gebracht, in dem teilweise unkenntlich gemachte Bilder einiger Posts zu sehen waren und die Mutter eines der rassistisch beleidigten Mädchen interviewt wurde. Die Stadt war in Aufruhr. Die Mitglieder des School-Boards sassen auf einem Podium und arbeiteten sich durch die Tagesordnungspunkte, bis die Zeit für eine öffentliche Aussprache gekommen war. In den nächsten 3 Stunden und 20 Minuten äusserten sich 45 Personen und machten ihrer Wut und ihrem Frust Luft. Viele Afroamerikaner und Latinos sagten, sie seien in Albany aufgewachsen oder hätten ihre Kinder und Enkelkinder hier grossgezogen. Sie hätten Rassismus, Sexismus und Mobbing erlebt, was im Ort totgeschwiegen würde. «Solche Vorkommnisse sind Teil der Geschichte von Albany. Wenn Sie sagen, es handele sich um einen Einzelfall, sagt das mehr über Sie aus als über die Geschichte dieser Stadt», warf jemand dem Ausschuss vor.
Ein afroamerikanischer Vater erzählte von seinem Aufwachsen im benachbarten Oakland. Dort war er auf mindestens so viele Beerdigungen wie Geburtstagsfeiern gegangen. Deshalb hatten er und seine Frau beschlossen, ihre Kinder in Albany aufwachsen zu lassen. Dort sollte seine Tochter sicher sein. Seine Stimme zitterte vor Kummer und Wut. «Was hat es für einen Sinn, sich in der Schule anzustrengen, damit man einen guten Job bekommt und genug Geld verdient, um die eigenen Kinder in einer tollen Stadt zur Schule zu schicken, wenn sie dort so behandelt werden?»
Immer wieder wurden harte Strafen gefordert. «Es müssen Köpfe rollen», sagte ein Elternteil. «Dafür muss jemand von der Schule verwiesen werden.» Eine Schülerin meinte, sie hoffe, den Followern des Accounts würde das Leben ruiniert. Etwa zwei Stunden nach Beginn der Versammlung trat Anas Vater ans Rednerpult. Er war während seines Maschinenbaustudiums in Berkeley nach Albany gezogen und besass eine natürliche Autorität, die ihn zum Sprecher der Familien der betroffenen Mädchen machte. «Es müssen Disziplinarmassnahmen folgen», forderte er den Ausschuss auf – angemessen wäre der Verweis von der Schule. Dann hob er warnend einen Finger: «Wenn hier nicht die richtige Entscheidung gefällt wird, dann möge Gott dieser Stadt gnädig sein.»
Zu diesem Zeitpunkt schien man auf der Leitungsebene der Schule bereits das Interesse daran verloren zu haben, welche Schuld die einzelnen Schüler hatten, die dem Account gefolgt waren oder Posts gelikt oder
kommentiert hatten. Einige wurden zunächst für zwei Tage vom Unterricht suspendiert, doch wurde der Zeitraum schnell auf das zulässige Maximum – fünf Tage – verlängert. Diese Entscheidung sollte sowohl für die Schule als auch den Schuldistrikt Konsequenzen haben. Da die meisten Follower dieselbe Strafe erhielten, konnten Lehrer, Schüler und Eltern leicht zu dem Schluss kommen, dass alle in gleichem Masse beteiligt gewesen waren. Aus den späteren Klagen erfährt man, dass das Schulpersonal bald begann, die Follower des Accounts kollektiv als «Schadensverursacher» zu bezeichnen.
Am Tag nach der Versammlung stand Alice in der Sporthalle der Schule und hielt ein Mikrofon in der einen, ihr Handy in der anderen Hand. Die Schüler auf der Tribüne lehnten sich nach vorne, um ihre zitternde Stimme zu verstehen. Es war die jährliche Diversitätsversammlung, und Alice trug einen Text vor. Darin beschreibt sie, wie ein schwarzer Junge in die Eisdiele kam, in der sie arbeitete, und seine Mutter sie fragte, ob die Albany High School eine gute Schule sei. Sie beschreibt, wie traurig sie war, als ihr klarwurde, dass sie diese Frage nicht bejahen konnte. «Ich nehme es nicht länger hin, dass man sich an der eigenen Schule unsicher fühlt», las sie. «Ich nehme es nicht länger hin, dass ich niedergemacht werde. Ich nehme es nicht länger hin, dass man versucht, mich in Stereotype zu pressen.» Nachdem sie das letzte Mal «Ich nehme es nicht länger hin» hervorgepresst hatte, setzte sie sich auf den Hallenboden. Bis zum Schluss der Versammlung waren die meisten Schüler von der Tribüne nach unten gekommen und hatten sich zu Alice gesetzt, nachdem ein Schülersprecher dazu aufgefordert hatte, sich solidarisch zu zeigen.
Unterdessen war Charles kurz davor, von der Schule zu fliegen – genauso wie einer seiner engsten Freunde, ein chinesisch-amerikanischer Follower des Accounts, dessen rassistische Kommentare unter den Posts darauf schliessen liessen, dass er stärker involviert gewesen war als die anderen. (Dieser zweite Schulverweis wurde später von einem Richter aufgehoben.) Ein dritter Schüler, der Alice in die Haare gegriffen hatte, hatte sich einverstanden erklärt, den Rest des Schuljahres im Selbststudium zu verbringen. Die anderen Schüler aber sollten zurückkehren. Als das Ende ihrer Suspendierung näher rückte, sah sich die Schulleitung mit einem schwer zu lösenden Problem konfrontiert: Irgendwie mussten die Kids, die dem Account gefolgt waren, und die Mädchen, die beleidigt worden waren, wieder zusammen zur Schule gehen.
Schliesslich hatte man einen Plan. Eine gemeinnützige Organisation sollte an dem Tag, an dem die elf Follower an die Schule zurückkehren würden, eine Mediation zwischen den beiden Schülergruppen durchführen. Die Teilnahme war freiwillig, aber die Follower erklärten sich bereit, teilzunehmen. Ihre Motivationsgründe und Erwartungen waren dabei durchaus unterschiedlich. Einige wollten eine Chance, um sich bei den Mädchen zu entschuldigen, andere wollten einfach nur zurück an die Schule. «Ich freute mich auf eine seltsame Art darauf», erzählt Doe. «Ich dachte, es wäre eine Gelegenheit, mich zu erklären.»
Er hatte Tage damit verbracht, nachzuvollziehen, warum er nichts gesagt hatte, als er den Account zum ersten Mal sah. Dafür gab es verschiedene Erklärungen: Er sah sich selbst als Randfigur, die den Zwist von Schülern aus der höheren Klasse mitverfolgt hatte. Hätte nicht jemand aus dieser Gruppe etwas sagen sollen? Oder wäre er der ideale Kandidat gewesen, um die ganze Sache zu verpfeifen, weil er den Inhaber des Accounts nicht wirklich kannte? Warum dachte er erst jetzt darüber nach? «Es hätte viele Anlässe gegeben, dem Account zu entfolgen, die ich nicht wahrgenommen habe», erzählt er.
Am Vortag der Mediation verschickte jemand aus dem Feminist Club der Schule einen Aufruf zu einer Protestaktion, die von zwei anderen Clubs, der Black Student Union und der Gruppe von Amnesty International, geplant worden war. Sie sollte parallel zur Rückkehr der suspendierten Schüler in der Vormittagspause mit einem Sitzstreik im Schulfoyer beginnen. «Bitte teilt das mit allen, die ihr kennt und die ebenfalls der Meinung sind, dass diese ‹Schadensverursacher› nicht zurück an unsere Schule gelassen werden sollten», hiess es in der Nachricht. Der Aufruf erreichte schliesslich die «Schadensverursacher» selbst. Auch die Schulleitung bekam Wind von der Aktion, entschied sich aber, an der Mediation festzuhalten, die im gleichen Gebäude stattfinden sollte wie der Protest.
Am Tag der Mediation sassen die elf Follower in Klassenzimmer 104 auf roten Stühlen nebeneinander auf der Seite des Raums, die der Tür näher ist. Die Mädchen und eine Handvoll ihrer Unterstützer sassen auf der gegenüberliegenden Seite, die Moderatoren an den Stirnseiten. Vor Beginn der Sitzung waren die Mädchen gut gelaunt, aufgekratzt und machten Fotos. «Ich konnte spüren, wie wütend, gespannt und nervös alle waren», erinnert sich Ana. Laut einem Protokoll des zeitlichen Ablaufs, das später bei Gericht eingereicht wurde, begannen die Moderatoren mit einer vermeintlich neutralen Frage: «Was gefällt dir an der Albany High School besonders?» Um klarzumachen, wer sprechen durfte, reichten die Teilnehmenden einen Stein herum. Das lief gut, abgesehen davon, dass einige Mädchen den Stein weitergaben, ohne etwas zu sagen.
Anschliessend baten die Moderatoren zwei der Mädchen, zu erzählen, wie sie sich gefühlt hatten, als der Account entdeckt worden war, und welche Folgen das für sie seither hatte. Alice erinnerte sich daran, dass ihre Schwester sie gefragt hatte, warum sie die ganze Zeit so traurig sei. «Ich will einer Achtjährigen nicht sagen müssen, dass ich gemobbt werde und ich mich in meiner Haut nicht wohlfühle. Das muss einfach nicht sein!» Die Mädchen weinten, einige begannen zu schreien. Sie machten klar, wie verraten sie sich gefühlt hatten. Nachdem alle Gelegenheit gehabt hatten, sich zu äussern, wurden die Follower aufgefordert, zu antworten.
Von diesem Moment an ging die Sache furchtbar schief. Zunächst einmal war da das Problem, dass die Hauptschuldigen nicht anwesend waren. Die Mediation war für die Schüler gedacht, die in den Unterricht zurückkehren würden, weshalb die drei Schüler, die als die Hauptschuldigen galten, gar nicht eingeladen worden waren. Die elf Anwesenden wollten erklären, dass sie nur eingeschränkt involviert waren. Sie wollten deutlich machen, dass nicht sie die Posts verfasst hatten. Ein Junge war dem Account erst frisch gefolgt. Ein anderer war kaum auf Instagram und sagte, er habe mit dem Account nie interagiert. Andere sagten, sie hätten die Posts gelikt, ohne die Inhalte wirklich wahrzunehmen. Aber die Abgrenzung, die den Followern so wichtig war, bedeutete den betroffenen Mädchen wenig. Wen interessierte es schon, wer den Strick gemalt oder Alice mit einem Gorilla verglichen hatte? Worauf es ankam, war die Tatsache, dass diejenigen, die im Raum anwesend waren, es gesehen und ihre offene oder stillschweigende Zustimmung signalisiert hatten.
«Ich dachte ernsthaft, sie würden für das, was sie getan hatten, Verantwortung übernehmen und sich irgendwie entschuldigen», erzählte Alice später einem Nachrichtenteam, das über den Sitzstreik berichtete. «Stattdessen verteidigten sie sich vor allem und sagten immer wieder: ‹Ich habe durch meine Likes und Kommentare eigentlich gar nichts beigetragen.› Dabei sagte keiner von ihnen: ‹Es tut mir leid. Ich übernehme die volle Verantwortung und verabscheue, was ich getan habe. Ich bin so nicht.› Das habe ich kein einziges Mal gehört.» Aus Interviews mit den Personen, die bei der Mediation anwesend waren, zeigt sich, dass die Antworten der Follower sehr unterschiedlich ausfielen. Einige waren reumütig und zerknirscht, andere schnippisch oder unmotiviert. Alle fühlten sich furchtbar unwohl. Viele hatten den Blick auf den Boden geheftet und konnten den Anklägerinnen nicht in die Augen sehen. Je emotionaler die Mädchen waren, desto mehr konzentrierten sich die Follower auf ihre Schuld statt auf den Schmerz und die verletzten Gefühle, mit denen sie sich konfrontiert sahen.
«Es wäre anders gelaufen, wenn wir einzeln miteinander hätten sprechen können», sagt Murphy, der Junge, der den Mädchen als Erster den Account gezeigt hatte. Dann hätte er sich nicht so viele Gedanken machen müssen, was die anderen Jungen von ihm dachten. «Ich glaube, es liegt daran, dass wir Jungs sind. Wir wollen keine Schwäche zeigen.» Die Mädchen steuerten auf eine kollektive Panikattacke zu. Die Gefühle, die sich bei Kerry seit dem Tag aufgestaut hatten, an dem sie mit Rosie auf der Toilette die Posts abfotografierte hatte, brachen plötzlich aus ihr heraus: «Ich dachte, ich würde euch kennen! Ich wollte mit euch auf den Abschlussball gehen!»
Bis 11 Uhr hatten sich einige Hundert Schüler, die meisten aus den höheren Klassen, für den Protest im Hauptgebäude versammelt. Nur wenige Meter von Zimmer 104 entfernt, wo die Mediation noch lief. Die meisten sassen auf dem Fussboden. Sie hielten Schilder hoch, auf denen geschrieben stand «Ich nehme Rassismus nicht länger hin» und «Wir alle sind Menschen». «Es war ein stummer Protest», erzählt eine Lehrerin. «Die Teilnehmer blickten fest entschlossen drein. Als wollten sie sagen: ‹Wir lassen uns nicht einschüchtern.›»
Einige Minuten zuvor hatte die Leiterin des Schuldistrikts, Val Williams, eine E-Mail an die Schul-Community gesendet und bekanntgegeben, dass im Park neben der Schule ein Seil an einem Baum gefunden worden war, das «wie eine Schlinge aussieht». Es stellte sich letztlich heraus, dass es sich lediglich um eine Seilschaukel handelte. Aber als Williams eine Stunde später eine Richtigstellung verschickte, hatten die Spannungen bei der Mediation den Siedepunkt erreicht. Die Mädchen und ihre Freunde waren sich sicher, dass die Follower die Schlinge aufgehängt hatten. Diese empörten sich über die Anschuldigung und zweifelten an, dass die Schlinge überhaupt echt sei. Ihre Geringschätzung verärgerte die Mädchen nur noch weiter, woraufhin einige von ihnen aus dem Zimmer stürmten. Nach wenigen Schritten trafen sie auf die Demonstranten.
Eines der betroffenen Mädchen ging in den Raum zurück und sagte: «Ihr Jungs müsst euch anschauen, was ihr angerichtet habt. Es ist an der Zeit, dass ihr auf den Flur geht und euch der Menge stellt, damit jeder eure Gesichter sehen kann.» In ihren Erklärungen gegenüber dem Gericht gab die Schulleitung an, dass die etwa 250 Teilnehmer des Sitzstreiks «ruhig und respektvoll blieben», als die Follower aus dem Zimmer traten. Andere, die zugegen waren – Schüler, Eltern und Schulpersonal –, meinten jedoch, die Demonstrierenden wären nicht lange ruhig geblieben. Ned Purdom, der damals an der Schule unterrichtete, erinnert sich, dass ein Raunen durch die Menge ging, als die Verursacher sich zeigten. «Ein paar Sekunden lang war es ganz ruhig. Ein stiller Showdown. Dann fing das Geschrei an», erzählt er.
Murphy erinnert sich: «Alle haben uns Beschimpfungen an den Kopf geworfen und uns einfach nur fertiggemacht.» Als John Doe vor der Menge stand, fühlte er das Adrenalin durch seinen Körper schiessen, aber sein Kopf war leer. «Ich stand völlig neben mir, als wäre ich gar nicht richtig da. Die ganze Sache fühlte sich unwirklich an», erinnert er sich. «Es war mit Abstand die surrealste Erfahrung meines Lebens. Das waren alles Leute, die ich schon ewig kannte, manche seit dem Kindergarten.» Um den Moment noch seltsamer zu machen, betrat auch noch seine Mutter die Schule. Sie war gekommen, um ihn abzuholen, drängte sich durch die Menge und stellte sich zwischen die Demonstranten und ihren Sohn. Sie streckte die Arme aus, als wollte sie ihn mit ihrem Körper schützen, und rief der Menge zu: «Ihr seid hier die Mobber.» Dann schrie eines der Mädchen Does Mutter an: «Halt’s Maul, Bitch! Du weisst überhaupt nicht, wovon du redest! Rassismus ist nicht dasselbe, wie angeschrien zu werden. Klar?»
Irgendjemand rief: «Du hast den Strick aufgehängt.» «Wessen Mutter bist du eigentlich?» Als die Situation ausser Kontrolle zu geraten schien, wurden die Follower in Zimmer 104 zurückgescheucht. Am frühen Nachmittag waren bis zu 700 Schüler nicht im Unterricht. Vor der Schule reihten sich die Übertragungswagen der Nachrichtensender aneinander. Die protestierenden Schüler waren nach draussen gezogen, nachdem ihnen gesagt worden war, sie müssten aus Brandschutzgründen einen Fluchtweg freihalten. Sie sassen auf beiden Seiten eines Pflasterstreifens, der von der Schultreppe zum Strassenrand reichte. Die Follower sollten sich auf dem Weg hinaus einem Spiessrutenlauf unterziehen, einem «Walk of Shame». Niemandem würde etwas passieren, wenn sie das täten. Die Eltern der Follower versuchten, einen anderen Weg zu finden, um ihre Kinder aus der Schule zu bringen. Einige von ihnen, darunter Does Mutter, waren in einen Abstellraum gebracht worden, wo sie ausharrten, während die Schulleitung über den nächsten Schritt nachdachte.
Um 14 Uhr 22 ging im Polizeirevier von Albany der Anruf von Schulleiter Jeff Anderson ein. Er wollte einen «Tumult» an der Schule melden und sagte, man brauche Unterstützung. Die Schulleitung sagte der Polizei, man mache sich Sorgen darüber, wie man die Follower sicher aus der Schule bringen sollte. Laut eines Polizeiberichts wurden alle verfügbaren Einheiten sofort in das Gebiet um die High School geschickt. Zwei Beamte in Zivil, die sich bereits auf dem Schulgelände befanden, sollten die Follower über den Hinterausgang nach draussen bringen. Ein komplizierter Weg, für den man einen Hof durchqueren und durch das Foyer der Turnhalle gehen musste, um die Strasse zu erreichen. Dort würden zwei Streifenwagen auf sie warten.
Gegen 14 Uhr 50 traf ein Sportlehrer mit den Zivilbeamten ein, um sie nach draussen zu begleiten. Als sie das Signal erhielten, hasteten die Schüler aus dem Konferenzraum über den Flur, um ihre Eltern zu treffen, die im Abstellraum gewartet hatten, um durch eine Hintertür in den Hof zu verschwinden. Dann rannten alle. Vor der Schule warteten die Demonstranten noch immer darauf, dass die Follower ihren Spiessrutenlauf absolvieren würden. Plötzlich rief jemand von drinnen: «Sie gehen hinten raus!»
Als die Follower und ihre Eltern das Foyer der Turnhalle erreichten, hatte sich bereits eine Gruppe von Schülern davor versammelt, die mit ihren Smartphones filmten und durcheinanderschrien. Eine leere Wasserflasche flog durch die Luft und erwischte eine Mutter am Kopf. Gemäss den Erinnerungen der Follower entfernten sich die zwei Polizisten. Es waren zu viele Menschen, um zu rennen, also mussten sie sich hintereinander durch die Menge drängen. Plötzlich spürte Murphy einen heftigen Ruck von hinten. Der Sportlehrer hatte seine Hand auf Murphys Rucksack gehabt, um nicht in die Menge gezogen zu werden. Das Nächste, an das Murphy sich erinnern kann, ist, dass ihn jemand herumwirbelte und ihm ins Gesicht schlug. Die Schläge brachen ihm die Nase. Blut schoss aus seinen Nasenlöchern auf sein Hemd und seine weissen Vans. Ein anderer Follower wurde ebenfalls geschlagen. Doe, die anderen Sophomores und ihre Eltern schafften es zum Minivan seines Vaters, der von Schülern umringt wurde. «Wir sassen in der Falle», erinnert sich ein Elternteil. «Wir konnten weder vor noch zurück. Sie fingen an, wie wild am Auto zu rütteln. Ich kann kaum beschreiben, wie furchteinflössend das war.»
Die erste Klage wurde einen Monat später von vier der Follower und ihren Eltern eingereicht. Als Beklagte wurden der Schuldistrikt und seine Leiterin Val Williams, der Schulleiter Jeff Anderson sowie Melisa Pfohl genannt. In der Klage wurde argumentiert, dass es sich sowohl bei den Posts selbst als auch bei den Likes und Kommentaren um eine freie Meinungsäusserung handle, die durch den ersten Zusatzartikel zur Verfassung der USA, das First Amendment, geschützt sei. Da es sich bei @yungcavage um einen privaten Account handelte, der ausserhalb der Schule erstellt und genutzt wurde, sei die Schule nicht befugt, die Schüler dafür zu bestrafen, dass sie mit dem Account interagiert hatten. Die Schüler, die an der Mediation teilgenommen hatten, führten ausserdem an, dass die Schule sie während des Sitzstreiks in Gefahr gebracht habe, indem sie die Menge durch die irrige E-Mail über die Seilschlinge aufgestachelt und für sie keinen sicheren Weg zum Verlassen der Schule gefunden habe.
Die zweite Klage ging gut eine Woche später ein und wurde im Namen der drei Sophomores und eines anderen Followers erhoben, die mit keinem der Posts interagiert hatten. Sie legte das First Amendment anders aus: Der Schuldistrikt möge das Recht gehabt haben, Schüler wegen Hassrede zu disziplinieren, aber einen Post zu liken und einem Account zu folgen, seien per se keine hasserfüllten Aktionen und somit durch die Verfassung geschützt. Fragen der Meinungsfreiheit standen aber nicht im Vordergrund. Stattdessen wurde in der Klage argumentiert, dass es der Schuldistrikt den Schülern unmöglich gemacht habe, an die Schule zurückzukehren, indem er die Identität der Kläger offenlegte und sie behandelte, als wären sie für die Erstellung des Accounts verantwortlich. Er habe sie dadurch ihres Rechts auf Bildung beraubt. Noch bevor der Juni vorbei war, reichten Murphy und Charles jeweils eigene Klagen ein, in denen die Meinungsfreiheit und andere Gründe geltend gemacht wurden, womit die Zahl der klagenden Schüler auf zehn stieg.
Kurz nach Erhebung der ersten Klagen begannen die Eltern der von dem Account betroffenen Schülerinnen zu prüfen, ob sie die Eltern der Follower verklagen konnten. Die meisten Kanzleien hatten kein Interesse an dem Fall. Vielleicht weil die Familien, die sie verklagen wollten, nicht so tiefe Taschen hatten wie der Schuldistrikt. Alices Mutter fand schliesslich jemanden, der ihren Fall übernehmen würde: Elizabeth Riles, eine afroamerikanische Anwältin, die auf Diskriminierung am Arbeitsplatz spezialisiert ist.
Aber Alice war nicht daran interessiert, noch mehr Energie in die Beschäftigung mit dem Vorfall zu stecken. Sie wollte nur, dass die Sache aufhörte. Weniger als die Hälfte der Follower ist nach der gescheiterten Mediation an die Schule zurückgekehrt. Die Begegnung mit ihnen führte Tag für Tag zu Spannungen. Alice hatte das Gefühl, in der Schule kritisch beäugt zu werden, weil sie schwarz war, aber auch, weil sie zum Opfer gemacht worden war. «Leute, mit denen ich nie gesprochen habe, waren plötzlich viel zu nett zu mir. Oder nahmen an, ich wäre ein Sprengsatz politischer Korrektheit, der jeden Moment hochgehen könnte», erzählt sie. Oft blieb sie zu Hause.
Im Laufe des nächsten Schuljahres sprach Alices Mutter immer wieder die Möglichkeit einer Klage an. Alice erinnert sich daran, dass ihre Mutter zu ihr sagte: «Du limitierst deine Möglichkeiten, wenn du nichts unternimmst.» Das sass. Denn Alice fühlte sich eingeschränkt. Sie war jetzt im vierten High-School-Jahr und hatte sich noch bei keinem College beworben. Aber einige der Follower würden doch sicher aufs College gehen, oder? Sie würden ihr Leben weiterleben. Alice entschied sich, Klage zu erheben.
Im März 2018 reichte Elizabeth Riles Klage wegen Verletzung der Bürgerrechte von Alice, Verletzung ihrer Privatsphäre und vorsätzlicher Zufügung von seelischem Leid gegen Charles und die beiden anderen hauptverantwortlichen Jungen sowie gegen deren Eltern ein. Einer der Jungen wurde auch der tätlichen Beleidigung beschuldigt, weil er Alices Haare berührt hatte. Einen Monat später einigte sich der Schuldistrikt mit sieben der zehn Follower, die geklagt hatten, auf einen Vergleich. Vier Schüler sollten Vergleichszahlungen, die von der Versicherung des Schuldistrikts getragen wurden, erhalten, um die Kosten für medizinische Behandlungen, Rechtsberatung sowie Umzugskosten und das Schulgeld für eine Privatschule zu decken. Drei Jungen, die an die High School zurückgekehrt waren, erhielten 80 000 Dollar, nachdem das Gericht festgestellt hatte, dass der Schuldistrikt ihre Rechte aus dem First Amendment verletzt hatte.
Bei einer Sitzung der Schulbehörde kurze Zeit später drängten sich die Eltern der rassistisch beleidigten Mädchen um das Rednerpult. «Was Sie getan haben, war wie Salz in die Wunde zu streuen», sagte Alices Mutter unter Tränen. «Unsere Mädchen müssen weiter zur Schule gehen, weil sie ihren Abschluss machen wollen. Sie müssen sich anhören, wie diese Jungs darüber reden, eine Siegesfeier zu veranstalten!»
Im Herbst 2020 waren nur noch die Klagen zweier Jungen gegen den Schuldistrikt anhängig, darunter jene von Charles. Sie gehörten auch zu den letzten Beklagten in Alices Klage. Charles legte vor den Anwälten eine aussergerichtliche eidesstattliche Erklärung nach der anderen ab, es war ihm aber nie ganz klar, zu welchem Fall er eigentlich befragt wurde. «Ich denke, okay, ich bin im Unrecht», und seine Mitschülerin sei im Recht, erzählte er mir. «Sie hat nichts falsch gemacht.» Dennoch kämpfte er weiter an zwei Fronten, als Kläger und als Beklagter.
Der Verhandlungstermin für Alices Klage wurde auf Ende November 2020 festgesetzt. Drei Jahre und acht Monate waren seit der Entdeckung des Accounts vergangen, aber viele der Schüler auf beiden Seiten dieser Geschichte hatten noch immer damit zu kämpfen, ihr Leben zu meistern. Der pandemiebedingte Lockdown verstärkte das Gefühl, in einer Endlosschleife festzustecken. Alice beschrieb ihr Leben als «Fegefeuer» und träumte davon, die Stadt zu verlassen.
John Doe betrieb weiter seine Selbstfindung. Er war jetzt ernsthafter als der Junge, der er im Alter von fünfzehn Jahren gewesen war. «Wenn ich den Weg fortgesetzt hätte, auf dem ich mich in Albany befand, was für ein Mensch wäre ich dann geworden? Ich glaube, ich wäre heute schlechter dran», sagt er. «Ich hinterfrage die Dinge jetzt auf eine Art und Weise, wie es mir wahrscheinlich nicht möglich gewesen wäre, hätte ich diese Erfahrung nicht gemacht.»
Charles war sich nicht ganz so sicher. Er wollte Alices Klage durch
einen Vergleich beilegen, konnte sich aber nur schwer damit abfinden, dass er dafür sein eigenes Geld auf den Tisch legen müsste. Er arbeitete im Einzelhandel und ging auf ein Community College. Aus seiner eigenen Klage hatte er nichts bekommen, aber sein Anwalt legte Berufung ein. «Es ist nicht so, dass ich nicht will, dass sie aus der Sache etwas für sich herausholen», erzählte er. «Es ist nur so, dass ich nicht will, dass sie es mir nehmen.»
Am Tag des Verhandlungsbeginns teilte Elizabeth Riles dem Richter mit, dass ein Vergleich erzielt worden war. Charles sagt, er hätte einer Zahlung von 15 000 Dollar zugestimmt. Zusammen mit den Vergleichszahlungen der anderen Beklagten, deren Höhe teilweise vertraulich blieb, sollte Alice eine beträchtliche Summe erhalten, auch wenn diese nicht ganz an die 80 000 Dollar heranreichte, die einigen der Follower zugesprochen worden waren. Danach klang sie eher erleichtert als triumphierend. «Ich bin sehr froh, dass dieses Kapitel meines Lebens vorbei ist», sagte sie. Kurz danach zog sie ins Hochland von Guatemala, um sich in einem Retreat-Zentrum am Ufer des Atitlán-Sees der Meditation, der Metaphysik und dem Yoga zu widmen. Seither reist sie durch die Welt. Charles’ Klage setzte ihren Weg durch die Instanzen fort. Nach jeder Niederlage legten seine Anwälte Berufung ein, bis schliesslich im Juni 2023 der Supreme Court die letzte Berufung ablehnte.
Darren McNally, ein Mann mit Glatze und dichtem roten Bart, ist heute Schulleiter der Albany High School. Als der Account @yungcavage entdeckt wurde, absolvierte er gerade sein erstes Jahr als Schuladministrator. Die meisten der involvierten Schüler sind heute dreiundzwanzig Jahre alt. Wenn er an sie denkt, wird ihm wieder klar, wie wichtig es ist, Schülern Einfühlungsvermögen und zwischenmenschliche Kompetenzen beizubringen. Ihnen zu helfen, Lektionen über Ungerechtigkeit aus dem Unterricht und die unmittelbaren Auswirkungen ihres Handelns auf die Menschen, die im Klassenzimmer neben ihnen sitzen, miteinander in Verbindung zu bringen. «Diesen Kindern war auf intellektueller Ebene beigebracht worden, dass diese Dinge schlecht sind», sagt McNally, «aber nicht auf einer tieferen zwischenmenschlichen und emotionalen Ebene. Sie wussten, sie würden Grenzen überschreiten, aber ihnen war nicht klar, welchen Schaden sie damit anrichten konnten.»
Die Beilegung der Rechtsstreitigkeiten hat auch Melisa Pfohl nachdenklich gestimmt. Für sie fühlte es sich damals so an, als stünde sie mitten in einem Flächenbrand. «Wir bildeten eine Löschkette, und jeder reichte die Eimer weiter», erzählt sie. Bei der Erinnerung steigen ihr Tränen in die Augen. «Einige von uns, darunter auch ich, haben dabei versehentlich Öl ins Feuer gegossen. Wir wussten es einfach nicht besser. Wir haben nur den Eimer weitergereicht, ohne zu wissen, dass dieser voller Öl war. Aber wenn alles so schnell geht, dann sehen alle Eimer gleich aus.»
Aus dem Amerikanischen von Steffen Kern.