Xcalak, Quintana Roo
Der letzte Mann in Mexiko lebt an einem Ort 18°12’9” nördlicher Breite und 87°50’36” westlicher Länge. Dort kann man ihn finden, fast immer hält er sich auf der Dachterrasse auf. Vor Don Luisʼ Haus erstreckt sich das Karibische Meer, und überall sonst, wohin man auch blickt, ist Mangrovenwald. Wenn er fünf Minuten nach rechts läuft, kommt er in ein anderes Land, doch wenn er eine Stunde nach links läuft, erreicht er Xcalak, die erste mexikanische Ortschaft.
Don Luis ist ein drahtiger Mann, dunkles Haar, Schnurrbart, 58 Jahre alt, und lebt in einem verlassenen Haus an einer der absurdesten Grenzen der Welt. Eine 99 Kilometer lange, etwa ein bis anderthalb Kilometer breite, von einer Militärbasis fast mittig in zwei Stücke geteilte Insel. Ein schmales Stück Land im Südosten von Belize, das parallel zur Küste nach unten verläuft. Der Norden, Mexiko zugehörig, ist ein unbewohntes Gebiet von 62 Kilometern Länge; der Süden, der zu Belize gehört, misst 37 Kilometer und ist so voller Touristen, dass kein einziger mehr darauf passen würde.
Der letzte Mann in Mexiko hat weder Strom noch fliessendes Wasser, und sein Haus ist auf dem Landweg nicht zu erreichen. Er hat auch keinen Kühlschrank oder einen Fernseher oder Ventilator, und sein altes Mobiltelefon empfängt nur manchmal das Netz aus Belize. Aber er weiss Dinge, die für den Rest der Sterblichen unmöglich scheinen, zum Beispiel, wie man mit einem Schnürsenkel angelt, Meerwasser entsalzt, am Strand etwas pflanzt oder mit dem Mund das Gift der Nauyaca aussaugt, der Amerikanischen Lanzenotter,einer gefürchteten Schlange.
Luis Méndez wurde in Mérida, der Hauptstadt des Gliedstaates Yucatán, geboren und war Staatsbeamter, bis ein Bekannter ihm vorschlug, Wächter einer Finca zu werden. Drei Jahre nachdem er in den letzten Winkel des Landes gekommen ist, hat er gelernt, dass alles, was aus dem Meer kommt, zu irgendetwas nütze ist: ein Stück Seil, um die Schiffsschraube zu starten, die Sohle eines Schuhs, um ein Scharnier herzustellen, der Verschluss einer Limonadenflasche, um einen Nagel zu befestigen. In Begleitung von Canelo, einem kaffeebraunen ungarischen Vorstehhund, zieht Don Luis jeden Morgen bei Sonnenaufgang zu einem Spaziergang los. Früher lief er über den Sand, aber jetzt bewegen die beiden sich geschickt über einen übel riechenden Teppich aus Sargassum, einer Algenart, die invasiv die Karibik befällt und das Ufer unerträglich nach faulen Eiern stinken lässt. An dem Tag, an dem ich ihn begleite, liegen auf der mit Dosen, Sandalen, Chlorflaschen, Verschlusskappen und Chipstüten bedeckten braunen Schicht auch Hunderte von handtellergrossen Plastiktüten. Alle identisch und halboffen, mit Resten von weissem Pulver und Meerwasser.
Don Luis erwacht jeden Morgen gegenüber dem zweitgrössten Korallenriff der Welt, umgeben von atemberaubender Natur, trotzdem hält er beim Laufen die Augen auf den Boden geheftet. Er sagt, er gehe nur raus, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung ist, aber auf dem Spaziergang höre ich zum ersten Mal ein neues Verb: playear, die unermüdliche Suche nach Kokainziegeln, die von den Leichtflugzeugen am Ufer abgeworfen werden. Würde man hier den Strand nicht nach Beute absuchen, so wäre das, als lebte man im Vatikan und wäre kein Katholik.
Der Karibik-Robinson ist ein umgänglicher Mann, der sich die Schuhe nur für die Strandspaziergänge anzieht. Alle Motorarten, die vor seinem Haus vorbeikommen, kann er allein anhand des Brummens erkennen. Und das demonstriert er: «Ein Leichtflugzeug macht groooooongggg», durchgehend und langgezogen. «Aber ein Motorboot mit 15 PS macht brrrrrrr, Pause, brrrrrrr, und wieder Pause, um die Algen aus der Schiffsschraube zu kriegen. Eins mit 40 PS, ñeeeeeeeee», er schiebt dabei die geschlossene Faust durch die Luft wie an einem Gaspedal. «Und eins mit 75 PS . . .», genau wie das davor, aber tiefer und mit «o». Und so, immer weiter bis zum Boot mit 100 PS, präsentiert er ein vielfältiges Ensemble aus kehligen Lauten.
Er kann auch die Pfeiftöne identifizieren, die man nachts vom Meer hört. Die «sie kommen», «beeil dich» oder «hauen wir ab» bedeuten, und ob sie von El Gavilancito (dem Sperber), La Zorra (der Füchsin), El Pelón (dem Kahlkopf) oder El Guanaco (dem Salvadorianer) kommen.
Der letzte Mann in Mexiko hat vielleicht kein Netflix, aber er muss sich nur auf seinen Balkon setzen, um die Rennen der Motorboote zu sehen, die Verfolgungsjagden mit der Polizei oder das Vorbeifliegen der geheimen Flugzeuge. Erst gestern hatte er wieder mit seiner Frau Norma draussen Platz genommen, um das abendliche Spektakel zu geniessen. «Es gab so viele Mücken, dass wir ein paar Kokosnüsse angezündet haben, um nicht nach drinnen flüchten zu müssen.»
Karibik heisst das Meer, das 1061 Inseln umfasst, die zu 32 Nationen gehören. Eine ganz eigene Region und Kultur, die Gabriel García Márquez als das einzige Land beschrieb, das nicht aus Erde, sondern aus Wasser besteht. Weniger lyrisch ausgedrückt, heisst Karibik für die Mexikaner die 1176 Kilometer lange Küste, die sich zwischen dem Haus von Don Luis und der Halbinsel Cabo Catoche an der äussersten Spitze von Yucatán erstreckt. Zu dem Küstengebiet gehören Regionen wie Cancún, Playa del Carmen, Cozumel oder die Riviera Maya – sie bringen dem Land 35 Prozent seiner touristischen Einnahmen. Mexiko steht auf Platz sechs der meistbesuchten Länder der Welt; der Tourismus generiert fast 16 Prozent des Bruttoinlandproduktes.
Für das Dorf Xcalak, 412 Kilometer von alldem entfernt, bestimmen die Karibik und die dort wehenden Passatwinde auch die eigene Lebensart. Im extremen Süden des Gliedstaats Quintana Roo gelegen, zwei Stunden entfernt von Chetumal, ist es ein spektakulärer Flecken mit Palmen, türkisblauem Wasser, zwei Leuchttürmen und einer Lagune. Xcalak hat lediglich drei parallel zum Meer verlaufende Sandstrassen und drei weitere, die diese im rechten Winkel kreuzen; wenn ich ein Bild für das Paradies zu wählen hätte, erschiene mir immer diese 300-Einwohner-Gemeinde, in der fast alle eine Familie sind und sich beim Spitznamen kennen. Die Strände von Xcalak sind auch die Endstation für jegliches Ding von Wert, das in den Atlantik fällt, in erster Linie das von den kolumbianischen Kleinflugzeugen abgeworfene Kokain, was hier bombardeo, Bombardierung, genannt wird. Bei dieser Methode werden aus den Flugzeugen Abwurfkoordinaten an Land gefunkt, und Motorboote rasen unverzüglich zur besagten Stelle. Aber nicht immer ist genug Zeit, um die gesamte Ladung einzusammeln, und die mit braunem Packband umwickelten Pakete, die verloren gegangen sind, können Tage später auftauchen, auf dem Meer treibend, ans Ufer gespült oder in den Mangroven verheddert. Andere Male werden die Ziegel von den Schnellbooten abgeworfen, die von den nahegelegenen Inseln kommen, auf diese Art können Beweise vernichtet werden, und die Boote gewinnen Tempo auf der Flucht vor den Patrouillen.
Christoph Kolumbus wäre ohne die Passatwinde niemals bis nach Amerika gekommen – diese beständigen, durch die Erdrotation verursachten Winde, die einem bis zur anderen Seite des Ozeans Rückenwind geben und sich in der Karibik umkehren. Dank ihnen ist es egal, wo auch immer in diesem Meer man etwas hineinwirft – früher oder später stehen die Chancen hoch, dass es in Xcalak ankommt. Seit Don Luis hier lebt, sind auf dem Streifen stinkender Algen, auf den er aufpasst, unter anderem eine haitianische Puppe, eine Flasche aus der Dominikanischen Republik und ein Holzstück mit afrikanischen Verzierungen gelandet.
«Hier an diesem Ort ist das Suchen von Strandgut ein Beruf, der den jungen Leuten beigebracht wird wie das Fischen», erklärt Don Luis. «Was kannst du deinen Kindern sonst schon weitergeben, wenn du das ganze Leben lang fischst oder Kokosnüsse verkaufst, und dein Nachbar baut sich von einem Tag auf den anderen ein Haus oder kommt mit einem neuen Lieferwagen daher. Hier lernen die jungen Leute schnell, dass die Zukunft nicht in der Arbeit liegt, sondern im Suchen und Finden – und dann kauft man sich ein Boot, um weiterzusuchen. An einem Tag ist es Marihuana, aber ein oder zwei Jahre später findest du vielleicht das Kokain, das dich aus der Armut holt.»
Vor anderthalb Monaten reiste Don Luis für ein paar Tage in die Stadt. Bei seiner Rückkehr nach Xcalak musste ihm niemand erzählen, dass während seiner Abwesenheit eine Ladung runtergekommen war. «Einer hatte eine Band engagiert, ein anderer gab dem ganzen Ort Bier aus, noch einer kam auf einem neuen Motorrad angefahren.»
Einer von denen, die gestern auf der Flucht vor der Polizei aus Belize an Don Luisʼ Haus vorbeigekommen sind, war El Guanaco. Es war stockfinstere Nacht, als Don Luis dessen Yamaha durch die Bucht pflügen hörte. El Guanaco ist ein rauer, reservierter Typ, der pausenlos Marihuana raucht. Wie sein Spitzname verrät, stammt er gebürtig aus El Salvador und hat mit seinen 33 Jahren schon mehr Leben gelebt, als in diese Zeilen passen. Aus San Salvador sei er abgehauen, sagt er, als die Banden drauf und dran waren, ihn umzubringen. Anschliessend floh er nach Belize, wo er auf den Feldern der Mennoniten arbeitete, der im Grenzbereich ansässigen ultrakonservativen Christen, bis er schliesslich in Xcalak Zuflucht suchte, dem letzten Ort, wo sie nach ihm fragen würden.
Wir sitzen auf seinem Boot. El Guanaco ist sportlich gebaut, seine braungebrannte Haut zieren auf Brust und Rücken mehrere Tätowierungen. Aber heute ist er müde von seinem gestrigen Rumgedüse, als er mit ein paar Langusten auf der Flucht war. In Xcalak gilt ein Fangverbot für die Tiere, daher taucht er in den Gewässern von Belize nach ihnen, wo es weniger Überwachung gibt. Kaum jemand ist darin so gut wie er. Mit reiner Lungenkraft taucht er nachts sechs Meter in die Tiefe, lässt den Motor seines Bootes jedoch laufen – für den Fall, dass er früher als geplant abhauen muss. Beim Auftauchen dreht er sich um sich selbst und leuchtet dabei mit der Taschenlampe, um Haie abzuschrecken.
Als er sich an das Spektakel von gestern erinnert, merkt man, dass es ihm Spass macht, den Belizern etwas unter der Nase wegzustehlen. «Aber aufgepasst, die schiessen mit echter Munition», sagt er mit vom Marihuana gelösten Lachen über die Polizei des Nachbarlandes.
Daher taucht er heute das Ruder nur gemächlich ins Wasser, hält den Blick jedoch fest auf jegliches treibende Ding gerichtet. «Jetzt ist Paketsuchen dran, die Lotterie der Armen.» Er lacht wieder. «Du weisst nie, wo der Ziegel auftauchen wird, der dein Leben verändert.» Paquetear, so wird die unermüdliche Suche nach Drogen im Meer genannt. Es ist das zweite einheimische Verb, das ich in meinem Notizblock notiere.
Während er wie ein Gondelfahrer mit dem Ruder stakt, erinnert El Guanaco sich an jenen Tag vor fünf Jahren, als er ein hübsches Kokainpaket fand: «Da war es, vor mir», sagt er und zeigt auf ein Stück Meer, so klar und blau wie jedes andere. «Wir waren zu dritt und fanden 25 Kilo, die wir aufgeteilt haben. Ich hab eine Million Pesos (50 000 Dollar) abbekommen, so viel Geld auf einem Haufen hatte ich noch nie gesehen. Damit hab ich das Haus eingerichtet, hab mir ein Motorrad gekauft, noch eins für meine Frau. Normalerweise drehen die Leute durch und schmeissen das Geld sogar in die Luft, aber ich nicht, ich hab Entbehrungen erlebt. Am Ende hat das Geld weniger als ein Jahr gereicht.»
Neuer Verbündeter der Sammler (spanisch pepenadores) in der Karibik ist neben dem Wind der Sargassum-Befall, der am Ufer jene dichte Algendecke hinterlässt, die die Gegend verunstaltet, die Korallen schädigt, den Fischen den Sauerstoff nimmt und die Touristen vertreibt. Die Alge bereitet Mexiko, Panama, der Dominikanischen Republik und Florida Sorgen – nicht aber denjenigen, die die Strömungen ausnutzen: «Die Bewegung der Sargassum-Bänke auf dem Wasser hilft uns zu erkennen, wo am Ufer die Pakete auftauchen können», erklärt El Guanaco.
Vor zwei Wochen hat er eine Menge Prügel abbekommen. An seinen wundgeschlagenen Fingerknöcheln lässt sich ablesen, dass er sich so gut wie möglich gewehrt hat. Zehn Personen, darunter der Bürgermeister, traten ihn windelweich. Und durch die Leerstellen in seiner Erzählung entsteht der Eindruck, dass er besonders schlau hatte sein wollen. Er hatte für einen lokalen Drogenboss gearbeitet, im Voraus eine Bezahlung fürs Absuchen von Strand und Meer kassiert und daher dessen Boot genutzt und Benzin verbraucht. Dann jedoch hatte er bei seinem Auftraggeber den Dienst quittiert und begonnen, für einen anderen zu arbeiten.
Kokain? Crack? Marihuana? Das Angebot des tätowierten Lebensmittelhändlers lässt keinen Raum für Zweifel, als ich ein Sixpack Bier verlange.
In einer Handvoll Läden im Ort wird neben Bier «nasses» Kokain (aus dem Meer) verkauft, fünf Dollar für ein fingernagelgrosses Tütchen. Für sehr viel weniger kann man eine ähnliche Menge Crack kaufen.
In Xcalak ist das ortstypische Rezept nicht in Knoblauch marinierte Meerbrasse, sondern die Art, wie man feucht gewordenes Kokain kocht, ein Prozess, den mir ein dunkelhaariger Junge auf einem Motorrad sitzend erklärt, eine Gallone Benzin zwischen den Füssen. «Es wird alles in einen grossen Topf gegeben und bei niedriger Temperatur erhitzt. Man muss ständig rühren, bis das Wasser verdunstet ist, ohne das Kokain zu verbrennen. Dann legt man es auf ein Brett und zerschneidet es mit einem grossen Messer. Die Klumpen werden mit einem Löffel gelöst.» Um Crack zu erhalten, wird das Kokain im Wasserbad mit Natron erhitzt.
In den Strassen von Xcalak sind auch die Überreste besserer Zeiten zu erkennen. Aus den Jahren, in denen der Ort 3000 Bewohner hatte, eine Werft und sogar einen Tanzsaal. Damals wurden vom Quai Unmengen an Meeresschnecken, Schildkröteneiern, Langusten und Haien für den Export verschifft. Eine Zeit, in der Xcalak «grösser als Chetumal» war, erklärt Don Melchor, ein 75-jähriger Mann mit der Geburtsurkunde Nummer 2, die ihn als Ortsältesten ausweist. «In dieser Zeit gab es viele Leute, die am Quai abluden. Es gab sogar eine Eisfabrik und ein Kino», erinnert er sich und zeigt auf eine leere Strasse. Das ging so, bis 1955 der Hurrikan «Janet» alles wegfegte und ein Drittel der Bevölkerung tötete.
Seither lebe der Ort von den drei Ps, «paseantes, pesca y paquetes» (Touristen, Fischfang und Pakete), sagt El Guanaco sarkastisch. Die Besucher, die zum Fliegenfischen oder auf der Suche nach exquisiten Tauchgelegenheiten herkommen, steigen in sechs Hotels mit Preisen von 120 Dollar pro Nacht ab, die etwa 40 Personen Arbeit geben. «Aber der Fischfang bringt immer weniger ein, und die Touristen kommen nicht, deshalb muss man warten, bis das Meer das Glück schickt.»
Der 55-jährige Leuchtturmwärter José Miguel Martín steht hoch oben vor dem riesigen Lichtkegel. «Die Hauptarbeit in diesem Ort waren immer Kokosnüsse, Meeresschnecken und Langusten. Aber es gibt lange Schonzeiten, und seit es im Jahr 2000 zum Naturschutzgebiet erklärt wurde, sind die Möglichkeiten noch knapper», beklagt er sich. Von der Spitze des Turmes, einige Meter neben der Marinekaserne, sieht man das Kommen und Gehen der Jugendlichen auf ihren Motorrädern noch besser: Sie fahren auf der parallel zum Meer verlaufenden Piste Benzinkanister zu den Lagern, wo sie stundenlang warten, suchen und kochen. «Wie soll ich meinem Sohn verbieten, hinzugehen, wenn das alle seine Freunde machen?», fragt José resigniert.
Er und sein Leuchtturm, die Hafenverwaltung, die Nationale Kommission für Naturschutzgebiete (Conanp) und ein Marinestützpunkt mit zehn Soldaten sind die einzige staatliche Präsenz vor Ort. Paradoxerweise ist die am meisten gefürchtete und gehasste Institution nicht die Marine, sondern die Conanp. Ihre vier Delegierten kämpfen mit mehr Begeisterung als Mitteln dafür, dass die Schonzeiten eingehalten werden, Wildfischen verhindert und das Korallenriff nicht beschädigt wird. Da die Gemeinde keine Polizei hat, gehen die Conanp-Leute jedes Mal, wenn sie etwas Gesetzeswidriges aufgedeckt haben, zu den Soldaten. Und das heisst natürlich was. In Xcalak fürchtet man sich mehr, in der Schonzeit zu fischen, als ein Kilo Kokain weiterzuverkaufen.
«Und sind die Partys im Dorf gross?», frage ich. «Kennst du Ibiza?», antwortet mir El 75 überheblich, beeinflusst von alldem, was auf MTV und im Kabelfernsehen läuft, dem effizientesten Dienstleister an einem Ort ohne fliessendes Wasser. Für den 24-jährigen Burschen ist es das beste Fest der Welt, wenn man sich drei Tage lang besäuft und in die Luft schiesst, um den Beginn der Osterwoche zu feiern. Oder weil ein Nachbar «ein Paket gefunden» hat.
Joaquín hat den Spitznamen El 75, weil er einen grossen Kopf und lange Beine hat wie ein 75-PS-Motor. Auf seinen Touren mit Touristen bemüht er sich um Förmlichkeit; er füllt den kleinen Kühlschrank mit Wasser und Erfrischungsgetränken, schleppt die Taucherbrillen und die Schwimmflossen, zeigt ihnen die Riesenmantas und die Seekühe und bietet ihnen an, das Sonnendach des Schiffes so oft auf- und abzubauen, wie es nötig ist. Doch wenn die Touristen nicht kommen, schliesst er sich der Gruppe seiner Freunde an, «und wir durchsuchen el recale». El recale, der dritte Neologismus, den ich mir aufschreibe, meint die angeschwemmte Algendecke. Joaquín erzählt, dass sein Onkel vor einigen Jahren einen dieser Ziegel fand, dass der Glücksgriff ihm aber schliesslich das Leben ruinierte. «Denn er kann weder lesen noch schreiben, und sie haben ihn betrogen und ihm nicht mehr als 70 000 Pesos gegeben. Später hat er den Kopf verloren und alles für Alkohol und anderen Bullshit ausgegeben, so dass es ihm noch schlechter ging.»
El 75 manövriert geschickt mit dem GPS, dem Motor und den Tauen, aber peinlich ist ihm, dass er nicht weiss, wie man mit Besteck isst, da fühlt er sich wirklich blöd. Mit kindlicher Unschuld erinnert er sich, wie er vor kurzem den beschämendsten Moment seines Lebens durchlitt, als seine Verwandten bei einem Familienessen merkten, dass er nicht wusste, wie man eine Gabel hält oder mit einem Messer Fleisch zerschneidet. Aber er hat andere Fähigkeiten: Er kann sofort erkennen, welcher kriminellen Gruppe die Ware gehört, «je nachdem, ob da ein Totenkopf, eine AK-47 oder ein Skorpion aufgedruckt ist».
Ausserhalb der Ortschaft liegt der Friedhof von Xcalak, er besteht aus Sandboden, den man dem Mangrovenwald abgerungen hat. Jeden Tag in der Abenddämmerung kommt Doña Silvia mit einer Machete und einem Besen und fegt, schneidet, ordnet und richtet den Ort, weil dort zwei ihrer Söhne begraben liegen. In dem vergessenen Paradies kostet Crack genauso viel wie eine Coca-Cola und ein Tütchen Chips, und die Folgen davon ruhen auf dem Friedhof. Guatemala registriert laut offiziellen Zahlen einen Selbstmord pro 41 666 Personen, aber in diesem Ort mit weniger als hundert Gräbern gibt es mindestens vier. Alles junge Leute. «In diesem Grab liegt ein 22-Jähriger, der sich erhängt hat; hier ein 23-Jähriger, der hat sich auch aufgehängt; dort ein 25-Jähriger, der von einem Antennenturm gesprungen ist, und da drüben . . .» Doña Silvia zeigt auf ein weiteres Grab, während sie auf dem schönsten und traurigsten Friedhof der Welt umhergeht.
Ich suche den Delegierten von Xcalak, ein Posten ähnlich wie der eines Bürgermeisters, aber mit weniger Befugnissen. Mindestens ein Dutzend gesammelte Zeugenaussagen deuten auf ihn und seinen Stellvertreter als die hiesigen Drogenbosse hin, gemeinsam mit seinem Kumpel, dem Bürgermeister von Mahahual, der Gemeindehauptstadt. Es heisst, sie seien dafür zuständig, die Lager und die Ware zu kaufen, auszurüsten und zu bezahlen. Der Delegierte muss das Dorf gerade verlassen, erklärt er mir, verweist mich aber an den stellvertretenden Delegierten, der am Ende des Ortes lebt.
Im Schatten der Bougainvilleen und der Kokospalmen haben zwei befreundete Familien gerade fertig gespeist. Sie lachen, scherzen und pulen sich die Essensreste mit Zahnstochern aus dem Mund. Eine der Familien ist die des stellvertretenden Delegierten Enrique Esteban Valencia und die andere die des Bürgermeisters von Mahahual, Obed Durán Gómez. Auf der karierten Tischdecke liegen Reste von Langusten und Garnelen, und vier Gemeindepolizisten warten im Stehen, die Waffen um den Hals gehängt. Sie interagieren aber ganz natürlich mit den mächtigsten Männern der Gegend. Sie fühlen sich wohl.
Was er für das Sargassum vorschlägt?, frage ich den stellvertretenden Delegierten. Möchte er, dass die Regierung Leute zum Saubermachen schickt, wie die Hotelbesitzer es verlangen?
«Die sollen nicht kommen, das ist nicht unsere Lösung, wir brauchen hier niemanden von aussen», antwortet er.
Wie er das Problem des Drogenhandels angeht und die Tatsache, dass die jungen Leute sich dieser Tätigkeit widmen?
«Ich würde das nicht Tätigkeit nennen. Die Leute sind frei, hin zu gehen, wo sie wollen. Das ist nicht unsere Sache, dafür gibt es Behörden.»
Aber es sei offensichtlich, dass viele Leute nach Strandgut suchen und sein Dorf ein wichtiges Einfallstor für Drogen sei?, frage ich.
«Ich weiss nicht, wovon Sie sprechen. Das Thema geht uns nichts an», antwortet der Bürgermeister, und sein Kumpel nickt.
Und die Drogenlager, die wir gesehen haben?
«Ich weiss nicht, welche Informationen Sie mitbringen, aber Drogenlager sind das nicht. Die Leute brauchen Land zum Leben, und wenn sie keins haben, muss man es ihnen geben»
Viele Stimmen bringen die beiden Männer mit dem Ankauf der im Meer gefundenen Ware in Verbindung.
«Sie können sagen, was Sie wollen, mich einen Drogenhändler oder was auch immer nennen, es ist aber so, dass wir Dinge unternehmen, und das stört», protestiert der stellvertretende Delegierte.
Was für Dinge?
«Wir kämpfen für unsere Rechte, dafür, nicht vergessen zu werden, und auch gegen das Verbrechen.»
Hätten sie gern, dass es mehr Polizei gibt? Möchten sie die Präsenz der Nationalgarde?
«Sehen Sie, wir überwachen auf unsere Art», sagt Obed Durán, der vor vier Monaten vom Polizeichef zum Bürgermeister von Mahahual geworden ist. «Und es gibt drei Arten, es zu lösen, wenn jemand Probleme macht. Zuerst gibt man ihm eine Chance, und wir bringen ihn in ein Rehabilitationszentrum, ohne ihn zu schlagen oder irgendwas. Wenn er es wieder macht, bekommt er eine Warnung, und wenn es noch einmal vorkommt . . . na, dann einen Sack Kalk, und ich spare mir viele Ausgaben!» Er bricht in eine derartige Lachsalve aus, dass sein Kumpel sich aufsetzt und auf den Tisch haut.
Es wird Abend in Xcalak, eine Brise hebt an und wiegt die Palmen und die Boote. Die Übersetzung der lateinischen Wurzel für alisios, den Passat, beschreibt ihn als einen «sanften und freundlichen Wind», was die Engländer als trade winds übersetzten, Handelswinde. In Xcalak, wo man die Fähigkeit besitzt, neue Wörter zu kreieren, sind auch die beiden Definitionen des Passatwindes miteinander verschmolzen.
Blue Creek, Belize
Der Beamte des Nationalen Instituts für Migration kommt in der Hälfte der vorgeschriebenen Uniform aus dem Büro, einer olivgrünen Hose, darüber trägt er ein weisses Trägerhemd. Der Beamte blickt mich von oben bis unten an, reibt sich die Hoden, fasst sich an den ergrauten Dreitagebart und dann wieder an die Hoden. Er ist überrascht, jemanden vor sich zu sehen, der kein Mennonite ist und auch kein Schwarzer oder ein Einwohner von La Unión.
Das Migrationsbüro von La Unión, im Gliedstaat Quintana Roo, taucht in der Datenbank des INM als zweistöckige Immobilie mit Klimaanlage und einem Raum für den Publikumsverkehr auf. Die knapp 1400 Kilometer von der mexikanischen Hauptstadt entfernte Realität ist eine Mischung aus Wohnung, Garage, Büro und Hühnerstall, wo die fortschrittlichsten Technologien ein Heft, ein Ventilator und die Hand an den Hoden sind, die nun einen Stift hält.
«Sie wollen nach Belize rüber? Aber da gibt es doch nichts», antwortet er sich selbst. Was der Beamte «nichts» nennt, ist ein Land mit 370 000 Einwohnern, die Englisch und Kreolisch sprechen und Queen Elizabeth II. von England als Staatsoberhaupt anerkennen. Ausserdem wird dort gerade um diese Zeit die Beerdigung von Henry begangen, eines guten Typs, der durch zwei Machetenhiebe auf den Kopf starb. Seine Mennonitenfreunde kannten ihn als El Happy. «Auf der anderen Seite ist niemand, der dir die Einreise nach Belize abstempeln kann», sagt der Beamte, «wenn du also hier in der Nähe bleibst, geh einfach so rüber.»
Während unseres Gesprächs sind an diesem üppig bewachsenen, heissen Ort, wo es von Fliegen wimmelt, ein Pärchen mit einem Fahrrad, vier mit Reinigungsprodukten beladene Frauen und ein junger Mann in einem Trikot vom FC Barcelona, der einen Kasten Bier trug, von Mexiko nach Belize gegangen – ohne weitere Dokumente, als die Augenbraue hochzuziehen. Und in die Gegenrichtung eine Mennoniten-Familie und ein weiterer Mennonit mit seinem schwarzen Chauffeur. 18 Autostunden von der Hauptstadt entfernt, am Dreiländereck zwischen Mexiko, Belize und Guatemala, wird die Migrationserfassung auf der Grundlage von «dein Gesicht kommt mir bekannt vor» gehandhabt.
La Unión ist der letzte wichtige Ort von Quintana Roo – wichtig soll heissen, dort gibt es einen Lebensmittelladen, eine Kirche, ein öffentliches Amt und einen Marinestützpunkt – an dem, was als «weisser Weg» bekannt ist, da es eine der beliebtesten Gegenden in der Region für den Transfer von Kokain aus der Karibik in die USA ist. Eine Schnellstrasse, die auf der mexikanischen Seite parallel zum Río Hondo verläuft, an der auf 100 Kilometer verteilt mehr als 30 Gemeinden liegen und wo sich die menschliche Natur gegen den Pass durchsetzt: ein Ufer, das Hunderte von Familien jeden Tag überqueren, um in den Unterricht zu gehen, Verwandte zu besuchen, sich zu verlieben oder billiger einzukaufen. Das taten sie auch schon, als es noch nicht Schmuggeln hiess.
In Cocoyol, einer dieser Gemeinden, wo Mais und Zuckerrohr angebaut werden, treffe ich Carmen Martínez, 48 Jahre alt, und José Jones, 47, die aus einem hölzernen Einbaum aussteigen, mit dem sie aus Belize herübergefahren sind. Eine Fahrt, nicht weiter als ein Steinwurf.
Er, Belizer, hat braune Haut, ist kräftig und muskulös und von Beruf yerbatero, er heilt seine Nachbarn mit Pflanzen und Wurzeln von Krankheiten wie Lungenentzündung, Rheuma oder Reptilienbissen. Sie, Mexikanerin, ist zierlich, hat tiefliegende Augen und verkauft auf einer wie der anderen Seite Secondhand-Kleidung. Sie haben sich kennengelernt, als José einmal rüberfuhr, um ein Fussballmatch zu spielen. Sie gefielen einander, heirateten und zogen nach Belize, weil die Löhne dort besser sind, sie kommen aber jeden Tag, um mit der Familie zu essen.
«Meine Tochter hat auf der anderen Seite (in Belize) die Schule auf Englisch gemacht und arbeitet jetzt in einem Hotel in Cancún», sagt Carmen, stolz darauf, ihr Kind in einer zweisprachigen Welt aufgezogen zu haben.
«Keiner kontrolliert einen», wenn man von einem Ort zum anderen überwechselt, doch manchmal «macht es einem die Marine schwer, zum Beispiel, wenn du ein lebendes Tier mitbringst, wie ein Ferkel für Weihnachten, deshalb ist es besser, den Soldaten vorher Bescheid zu geben», erklärt sie wenige Schritte vom Militärstützpunkt entfernt.
Auf die Frage, was ihr an jedem der beiden Länder gefalle, kritisiert sie die Brutalität, für welche die Polizei von Belize traurige Berühmtheit erlangt hat. «In Mexiko wird mehr auf die Menschenrechte geachtet. Sogar für Fälle von Korruption und Bestechungen gibt es bestimmte Richtlinien, die dann angewendet werden, aber in Belize ist es denen egal, und die Beamten erpressen dich und knöpfen dir in aller Öffentlichkeit das Geld ab», fasst Carmen zusammen.
Entlang der Strasse gibt es unzählige unkontrollierte Zugänge wie den in Cocoyol. Aber wenn man «Aktivität» wolle, solle man nach San Francisco Botes fahren, schlägt ein anderer junger Mann vor, was er als «das Tijuana des Río Hondo» beschreibt.
Umgeben von üppigem Grün, an der Grenze des Naturschutzgebiets von Calakmul, hat das Örtchen San Francisco Botes mit seinen 400 Einwohnern aber auch so gar nichts mit Tijuana gemeinsam. Recht hat der junge Mann trotzdem mit seiner Beschreibung, denn der Ort ist die Hauptanlaufstelle in der Gegend für den unkontrollierten Durchgang von Waren, Tieren und Personen. Als ich am späten Vormittag am Anlegesteg von Botes eintreffe, ist es ein Gefühl, als hätte plötzlich jemand die Musik ausgemacht: Alle hören mit dem auf, was sie gerade getan haben, als sie den Fremden kommen sehen: Der junge Mann, der Kisten abgeladen hat, pfeift in den Himmel, der Bootsmann blickt zu Boden, und die Frau, die Waren aus dem Pickup geladen hat, geht zum Wagen zurück und schliesst die Tür, um unbequeme Fragen zu vermeiden.
Das Grenzgebiet zwischen zwei armen Ländern ist ein pragmatischer Raum, in dem es ums Überleben, die Liebe oder das Ferkel für Weihnachten geht. Wo der Alltag sich gegen patriotische Symbole durchsetzt. Ein Ort des Übergangs und Austauschs, an dem der Bootsführer einem Taxifahrer in Acapulco oder Reynosa ähnelt: ein Mann, der besser schweigt und nie fragt, ob er da gerade Bauern, Migranten oder Waffen transportiert.
Vorsicht ist das beste Mittel in einer entlegenen Gegend, in der im letzten Jahr in den Zuckerrohrfeldern ein gutes Dutzend der narcoavionetas, der Drogenflugzeuge, abgestürzt sind und wo das nächtliche Surren der Cessnas, der Rockwells oder der Jets mit ausgeschalteten Scheinwerfern häufig über den Köpfen zu hören ist, begleitet von einem effizienten Netz von Mitarbeitern auf dem Boden, die an den geheimen Landebahnen für Treibstoff sorgen. Wenn die Marine hier ein Flugzeug ortet, kann es passieren, dass im Dickicht verborgen auch zwei Lieferwagen mit tausend Litern Kerosin stehen. Ein Leichtflugzeug landete eines Nachts um 3 Uhr 30 sanft auf dem internationalen Flughafen von Chetumal. Als der Sicherheitsdienst reagierte, waren die beiden Piloten schon über den Zaun geflohen und hatten auf der Piste einen Hawker-Jet für 15 Passagiere mit anderthalb Tonnen Kokain stehen lassen.
«Natürlich hören wir jeden Tag Flugzeuge», sagt mir der Polizeibeamte von La Unión, an die Tür seines Büros gelehnt. Seinen Namen möchte er lieber nicht nennen, weil er Angst vor Repressalien durch seine Vorgesetzten hat. «Auf dieser Seite der Grenze kommt alles Mögliche durch, ohne dass irgendwer einschreiten würde. Aber glauben Sie nicht, dass hier das dicke Geschäft läuft», meint er, als ein Mann auftaucht, der – in jeder Hand eine Kiste mexikanisches Bier – nach Belize läuft. «Gleich da drüben», er weist mit dem Kinn in Richtung eines ausgetrockneten Flussbetts, 50 Meter von der Kaserne entfernt, «fahren die Fahrzeuge in aller Ruhe hin und her.»
Für den Zollbeamten, der die Nase voll hat von seiner Institution und dem Leben an sich, hängt die Zunahme der Kriminalität in der Region mit dem neuen Präsidenten von Mexiko, Andrés Manuel López Obrador, zusammen. Seit er im Dezember 2018 an die Macht gekommen ist, hat der Staatschef das Institut für Migration ins Visier genommen, das dessen Sekretär Alejandro Encinas als «korruptestes Organ Mexikos» bezeichnet. Seither sind 67 Beamte aus dem Büro in Chetumal geworfen worden, an Orten wie Tapachula (Chiapas) war die Lage so haltlos, dass die Regierung beschlossen hat, die Migrationsstelle gleich komplett zu schliessen, wodurch Hunderte von Migranten in einem Limbus zurückblieben. «Sie haben uns gedemütigt und gekränkt. Sie haben ohne Erklärung viele Kollegen rausgeworfen, und so geht das nicht», protestiert er. Der Beamte vermisst die Zeiten der harten Hand, als es «Überraschungseinsätze» gab und er an Razzien teilnahm, um Mittelamerikaner festzunehmen. Trotz steigender Zahlen bei den Deportationen von Migranten gibt der Beamte der Politik der «offenen Türen» von López Obrador die Schuld an der unkontrollierten Lage an der Grenze, und der Ankunft von Migrantenkarawanen, die, wie er sagt, «Viren und Krankheiten in den Ortschaften verbreiten, durch die sie ziehen».
Auf der anderen Seite des Flusses, auf der Seite von Belize, lachen sich zwei riesige schwarze Polizisten kaputt, die im Zollhäuschen von Blue Creek oberkörperfrei eine Serie gucken. Es ist eine schmucklose Bude mit einem Tisch, einem Fernseher und einem abgewetzten Sofa, auf dem die Hünen ihre Lieblingsfolge ansehen, Pistolen und Fernbedienung auf der Armlehne abgelegt. Ich frage, ob ich passieren darf. «Wenn Sie sich nur in der Gegend der Mennoniten aufhalten, letʼs go, letʼs go», ruft einer der beiden und winkt mich durch, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. Ich gehe, und es öffnet sich mir eine neue Welt, eines der kontrastreichsten Bilder dieser Grenze: Während La Unión, der letzte Ort in Mexiko, chaotisch, katholisch, ländlich und ein bisschen dreckig ist – dort wird Zuckerrohr angebaut und Bier getrunken wie Wasser –, ist das auf der anderen Seite liegende Blue Creek, der erste Ort in Belize, konservativ, effizient, technisiert, protestantisch. Es wird ein altmodisches Deutsch gesprochen, und unmöglich bekommt man auch nur einen Tropfen Alkohol. Ein verblüffender Ort, den man hier nicht erwarten würde.
Die Mennoniten sind eine im 16. Jahrhundert entstandene protestantische Gruppierung mit über einer Million Gläubigen in Lateinamerika. Eine pazifistische Strömung, die im heutigen Gebiet der Schweiz, Deutschlands und Polens entstanden ist, deren Anhänger verfolgt wurden und nach dem Bruch mit der katholischen Kirche im Jahr 1536 und der Reformation Luthers in Länder wie Frankreich, Russland und Kanada, aber auch nach Mexiko, Paraguay und Bolivien emigrierten.
Blue Creek ist nicht einfach irgendein Dorf, es ist eine aus 800 Mennonitenfamilien bestehende Gemeinde, die in Häusern im nordamerikanischen Stil wohnen, mit Veranda und Satteldach, verstreut zwischen perfekt kultivierten Feldern und miteinander verbunden durch asphaltierte Strassen mit tadelloser Beleuchtung. In Blue Creek, das von einem Ende bis zum anderen 20 Kilometer misst, sind keine Leute auf der Strasse unterwegs, nicht ein Papier liegt auf dem Boden, es gibt nicht einen Betrunkenen und auch keinen Platz und kein Rathaus oder eine Bar. So weit das Auge reicht, sieht man nur Schlachthöfe für Hühner und Felder mit Reis, Bohnen, Ölpalmen und Mahagoni. Im einzigen Laden im Ort, der auch als Bank und Bürgerzentrum fungiert, grüssen sich alle. Es sind hauptsächlich Weisse, mit fast durchscheinender, von Sommersprossen übersäter Haut, und vereinzelte Arbeiter aus El Salvador.
Neben Blue Creek gibt es in der Gegend noch zwei andere Mennoniten-Gemeinden, Shipyard und Spanish Lookout, in denen etwa 6000 Menschen leben. Beides Orte ultrakonservativen Schlags, wo man auf Strom verzichtet und Pferdekutschen als Fortbewegungsmittel nutzt.
Mexikanische Arbeiter fliehen in die Reisfelder, als sie uns kommen sehen, vermutlich halten sie uns nicht für Journalisten, sondern für die belizische Migrationspolizei, die sie festnehmen möchte.
Die Mennoniten kamen vor fast 60 Jahren aus Chihuahua in Mexiko hierher, mit nichts. Die Regierung von Belize, das damals noch British Honduras hiess, gab ihnen am hintersten Ende des Landes rund 35 000 Hektar üppig wachsenden Urwalds mit Kapok-, Mango- und Mahagonibäumen, von denen kein Fitzelchen mehr übrig ist.
Im Gegenzug für Land und Autonomie begannen sie mit Feuereifer zu arbeiten und sind heute der Motor der nationalen Nahrungsversorgung. Die Mennoniten produzieren 95 Prozent des Hühnerfleisches, das in Belize gegessen wird, und 80 Prozent von Mais, Reis, Bohnen und Sorghum, einer Hirseart. Parallel dazu sind sie eine ganz eigene Welt, religiös, steuerlich und erziehungspolitisch unabhängig, sie unterrichten ihre Kinder in einem speziellen Deutsch, dem sogenannten «Plautdietsch», das an das «Plattdeutsch» erinnert, das in Teilen Norddeutschlands gesprochen wird. Die Mennoniten haben ausserdem ein eigenes Gesundheits- und Polizeisystem und sogar ein kleines Wasserkraftwerk.
Aber die Macht, die eine Handvoll Familien erlangt haben, die aussehen, als seien sie frisch von Schiffen aus Mitteleuropa von Bord gegangen, weckt Argwohn in der herrschenden Klasse Belizes, die wenig von ökonomischen Überraschungen hält, wenn sie nicht aus Grossbritannien kommen. «Wir sind uns bewusst, dass wir Misstrauen und Neid hervorrufen und sie uns unsere Unabhängigkeit nehmen wollen», sagt Rubén Fonseca, der Bürgermeister von Blue Creek. Dabei dient auch der Drogenhandel als Argument: Für die durch die Karibik einfliegenden Leichtflugzeuge sind die perfekt bestellten Felder ein idealer Ort zum Landen und für das Nachrüsten; pro Monat taucht mindestens ein verkohltes Flugzeug im Dorf auf. Rubén Fonseca ist nicht nur Bürgermeister, er ist auch Aktionär des mächtigen Unternehmens Caribbean Chicken, das ein Drittel der Hühner produziert, die im Land verspeist werden. Zum Interview kommt er jedoch in Arbeitsstiefeln und mit Händen dreckig vom Schlachthof, das karierte Hemd ölbefleckt. Er gehört zu den modernen Mennoniten – die Handys und Lieferwagen benutzen und sich Apps runterladen – und ist Vater von drei Kindern.
Fonseca räumt ein, dass mehrere Mennoniten wegen Drogenhandels festgenommen wurden und die Angelegenheit dem Ansehen der Gemeinde schadet. «Aber die Bekämpfung dieser Probleme übersteigt unsere Möglichkeiten und selbst die der Regierungen der Länder. Wenn wir hören, dass ein Flugzeug explodiert, machen wir nichts, wir lassen alles verbrennen und mischen uns nicht ein», erklärt er in einer exotisch anmutenden Sprache, die Hollywood-Englisch mit von den Bauern gelerntem Spanisch und Deutsch aus der Zeit von Menno Simons, dem 1561 gestorbenen Namensgeber der Mennoniten, mischt.
«In den 1970er und 80er Jahren war das der Wahnsinn», erinnert er sich an jene Jahre, in denen der mexikanische Drogenboss Amado Carrillo Fuentes, auch bekannt als «Herr der Lüfte», oder der Kolumbianer Pablo Escobar entdeckten, dass Kleinflugzeuge die beste Art waren, um eine Tonne Kokain nach Mexiko oder in die USA zu bringen, indem sie so niedrig und ohne Licht flogen, dass sie vom Radar nicht entdeckt werden konnten. «In den 90er Jahren wurde das weniger, aber jetzt gibt es wieder Aktivitäten in der Gegend», sagt Fonseca und zeigt auf die zwei Kilometer lange Strasse, die die Gerstenfelder durchschneidet wie ein Messer die Butter. «An einem Tag wurden sogar zwei Flugzeuge gesehen, wie sie auftankten.» Dies hier sei der perfekte Ort für eine Operation, das muss Fonseca zugeben, die innerhalb von Minuten erledigt wird: Der Pilot schickt die Koordinaten, ein Trupp beleuchtet die Piste mit in Benzin getränkten Lappen, das Flugzeug landet, lädt ab, und innerhalb kurzer Zeit ist die Ware auf der mexikanischen Seite auf dem Weg nach Escárcega und zum Golf von Mexiko, einer der Hauptdurchgangsstationen für Drogen und Migranten.
«El Happy hätte das nicht gefallen», stellt eine seiner besten Freundinnen auf seiner Beerdigung fest. Im Leichenhemd, in einen Sarg gesteckt und das Gesicht mit Reispuder geweisst, hat der 34-jährige Henry den schlechtesten Spitznamen, um die Hauptperson bei einer Totenwache zu sein. Wenn er sich gleich jetzt aufrichten und einen Blick in die Runde werfen würde, sähe er eine alte Frau, die ihm die Fliegen mit einem Federbusch vom Gesicht wedelt, vier weitere Frauen, weinend, und hundert Männer in Schwarz, die ein Totengebet aus dem 16. Jahrhundert murmeln. Die Präparationsarbeit der alten Frauen verhindert, dass die beiden Einschläge der Machete auf seinem Schädel zu sehen sind.
1966 verteilten sich die Mennonitengemeinden im Norden von Belize auf Blue Creek und Shipyard, physisch benachbart, jedoch sozial sehr verschieden. Erstgenannte waren Fürsprecher der Modernität, der neuen Technologien und der Industrialisierung der Felder. Zweitere entschieden sich für die orthodoxe Linie, und nicht einmal die Elektrizitätsgesellschaft hat Strom in ihren Ort bringen können.
In Shipyard verwenden sie Eisenräder, Kerzen als Beleuchtung, Holz zum Heizen, Tiere, um die Felder zu bewirtschaften, und Musik ist verboten. Unnötig zu sagen, dass es am langweiligsten Ort der Welt kein Kino gibt, auch keine Bibliothek oder einen Park, und das Hauptverbrechen der jungen Leute besteht darin, heimlich das Mobiltelefon zu benutzen. Vor alldem war El Happy vor vielen Jahren geflohen, als er Leute kennenlernte, die Gitarre spielten oder Radio hörten, erinnert sich seine Freundin an seinem Sarg.
Die Ankunft bei der Beerdigung gleicht einer Reise durch die Zeit, es ist das perfekte Bühnenbild für einen Historienfilm. Dutzende Pferdekutschen warten in der Einfahrt. Draussen harrt ein Haufen Kinder aus, ordentlich gekämmt und in Latzhosen. Sie schreien nicht, sie spielen nicht, sie rennen nicht herum und ziehen die übrigen Kinder nicht an den Haaren. Sie tragen kurzärmelige Hemden, an die man ihnen zusätzliche Ärmel genäht hat, damit sie heute langärmelig sind. Die Frauen benutzen Kopfschmuck und lange schwarze Filzkleider mit Strumpfhosen, ungeachtet der Temperatur von 40 Grad. Drinnen rezitieren die Männer mit Hosenträgern und bis zum Hals zugeknöpften Hemden neben dem Leichnam Passagen aus dem alten Gesangbuch, die Wangen rot von der Sonne und mit grossen Feldarbeiterhänden. Niemand möchte erklären, was mit El Happy passiert ist. Man weiss nur, dass er zwei Machetenhiebe auf den Kopf bekommen hat und dann in einem Bewässerungskanal gefunden wurde. Ob er in Drogenhandel verwickelt war, ob es am Saufen oder seiner Leichtsinnigkeit lag, darüber will keiner sprechen, keiner will es herausfinden oder wissen. Unterdessen geht der Trauergesang in seine sechste Stunde, ohne je den Rhythmus oder die Kadenz geändert zu haben, und das mennonitische Schweigen legt seinen Mantel über die Gemeinde. Ihr Überleben hängt davon ab.
Puerto Barrios, Guatemala
Der Taxifahrer hat die Arme starr ausgestreckt wie Baseballschläger am Lenkrad des alten Toyota, den er durch Puerto Barrios steuert, er löst den Blick keinen Moment vom Rückspiegel. «Sehen Sie, ich bin nicht für dummes Zeug aufgelegt», murmelt er dem Passagier verbissen zu. Die Tür schliesst nicht, die Frontscheibe hat zwei mit Packband verklebte Risse, und aus der Öffnung für das Radio ragt eine Handvoll Kabel. Aber Adrián verlangt von mir, dass ich die Tür sanft zumache, mit Kleingeld bezahle und mit den Füssen nicht die Verkleidungen eines Fahrzeugs beschädige, das direkt aus dem zerbombten Aleppo zu kommen scheint.
Der Fahrer schwitzt stark und wischt sich das Gesicht mit dem Hemdsärmel ab. Die einzige nette Geste des Nachmittags ist, als er auf die Hupe drückt und im Vorbeifahren die Hand zum Gruss für einen anderen Taxifahrer hebt. Der Mann ist verärgert wegen der ihm absurd vorkommenden Route. Und das ist sie im Grunde auch.
Die beiden Taxifahrer, die sich gerade angehupt und gegrüsst haben, nahmen vor drei Monaten an einer Massenprügelei teil, bei der wenige Strassen von hier entfernt zwei Männer durch Steinwürfe und Tritte getötet wurden. Eine etwa 500 bis 700 Personen starke Gruppe beklatschte das nahende Ende wie den heruntergehenden Vorhang nach einer Theateraufführung. Dieser Moment kam um fast neun Uhr abends, als jemand ein Zündholz auf den in Benzin gebadeten Körper von Oliver González warf, der zuvor schon alle nur vorstellbaren Tritte abbekommen hatte. Als vom 18-jährigen Jungen nur noch ein verkohlter Rumpf übrig war, liefen sie zu ihm, spuckten auf ihn und schrien «Dieb!». Von weiter hinten brüllten die weniger Brutalen: «Ja, wir können das!», und sie filmten die Szene mit ihren Mobiltelefonen.
Im Gemenge daneben liessen die Taxifahrer sich an dem 19-jährigen Víctor Reyes aus. Sie hatten ihn an den Haaren hinter sich hergezogen, waren ihm auf den Bauch gesprungen und hatten ihn mit einem Verkehrsschild und einem Backstein geschlagen. Die letzte halbe Stunde lang kickte die Masse gegen seinen Kopf wie gegen einen Rugbyball. Die Ankunft seines Vaters bremste die rund fünfhundert Taxifahrer, Nachbarn und spontan Dazugekommenen nicht. Als der alte Herr eine Machete nahm und sich zwischen den Jungen und die Bestien stellte, war sein Sohn ein Häufchen Elend, das blutüberströmt im Sterben lag. Da schrie der Mob: «Verbrennt den Alten auch!»
Sechs Monate zuvor war die brutale Bande Barrio 18 in die Stadt gekommen und hatte begonnen, von den Taxifahrern wöchentliche Zahlungen zu fordern, erklärt mir der Polizeichef auf dem Kommissariat. Es lief immer auf dieselbe Weise: Ein Typ auf einem Motorrad fährt parallel neben einen Taxifahrer, wirft ihm ein billiges Telefon ins Auto und sagt: «Los, fahr, da werden sie gleich mit dir sprechen!» Nachdem die tausend Taxifahrer der Stadt sich drei Monate lang geweigert hatten, gaben sie schliesslich nach und vereinbarten eine erste Übergabe von 150 000 Quetzales (20 000 Dollar) an die Gang, was der Zahlung von 150 Quetzales (20 Dollar) pro Woche und Wagen entsprach. Die Geldübergabe war in Wirklichkeit eine Falle, um die Erpresser zu schnappen. Das gelang. Und die Taxifahrer übergaben die beiden jungen Männer der Polizei.
Aber jene unter ihnen, die Rache und nicht Gerechtigkeit forderten, begannen über den Taxifunk und die Taxifahrer-Chat-Gruppen ihre Kollegen aufzuheizen, indem sie behaupteten, man würde die Erpresser mangels Beweisen wieder laufen lassen. Daraufhin strömte eine Meute zur Polizeistation und drängte sich vor dem Metallzaun und schleppte die Verbrecher schliesslich gewaltsam weg.
Drei Monate nach den Lynchmorden herrscht im Ort wieder schwüle Hitze und tropische Natürlichkeit. Für Momente scheint sich sogar das Fahrzeug von der völligen Ruhe anstecken zu lassen. Bis der Mann, der nur schimpfen kann, um Viertel vor neun abends abrupt bremst und endlich alles rauslässt: «Sehen Sie, amigo, durch diese Strassen fahre ich nicht mehr. Und noch etwas, ich kann überhaupt nicht weiter für Sie fahren. Hier sind wir fertig.»
Warum?
«Wegen der Uhrzeit», schnappt er.
Nach den Lynchmorden eröffnete die Gang die Jagd auf die Taxifahrer. In einer Facebook-Nachricht drohte Barrio 18, «diese Hurensöhne von Taxifahrern einen nach dem anderen» zu ermorden, und verhängte eine Ausgangssperre ab sieben Uhr abends. Sie würden jeden umbringen, der nach dieser Uhrzeit fährt.
Nur wenige Tage später wurden von den parallel heranfahrenden Motorrädern keine Telefone mehr in die Autos geworfen, sondern Schüsse in den Kopf abgefeuert. Ein Attentat alle zwei Wochen. Die Bande fordert die Köpfe der Taxifahreranführer. Als einer von ihnen ein Interview mit mir ablehnte, tat der schrankbreite Mann das unter Tränen. Er hatte seit drei Monaten sein Haus nicht verlassen. «Die Bandenmitglieder wollen mich umbringen, die Polizei will mich festnehmen, und ich habe nicht mal mehr Arbeit, um mich zu ernähren», schluchzte er.
Bevor er aufs Gaspedal tritt und sich mit einem Knurren verabschiedet, wischt Adrián – der, damit ich seine Geschichte erzählen darf, verlangt hat, dass ich seinen Namen ändere – sich den Schweiss ab. Seit zwei Stunden hat er ununterbrochen auf jedes Motorrad geachtet, das im Rückspiegel aufgetaucht war. Jetzt schwitzt auch der Passagier.
Puerto Barrios, an der Karibikküste Guatemalas zwischen Belize und Honduras gelegen, ist die grösste Stadt des Verwaltungsbezirks Izabal, fünf Autostunden von der Hauptstadt entfernt. Eine feindselige und staubige Stadt mit etwa 260 000 Einwohnern, die in den vergangenen Jahren stets in der Gruppe der zehn brutalsten Städte Guatemalas auftaucht. Sie ist auch Bezirkshauptstadt für Orte wie Morales, El Estor oder Livingston, wo der Hafenzauber von irdischeren Zutaten wie dem Durchgangsverkehr von Lastwagen, Drogenhandel und Korruption verschüttet worden ist. Eine Stadt mit «krankmachendem Klima», wie es die 1902 von der Regierung geschickte Forschergesandtschaft zur Beschreibung dieses abgelegenen Ortes mit Temperaturen um 40 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent definierte.
Puerto Barrios ist eine niedrig bebaute, weitläufige Stadt, in der fast alle Strassen am Meer enden. Der Markt ist das vitale Zentrum dieses Fleckens, der aus halb fertiggestellten Wohnungen besteht, aus denen Eisenstäbe mit einer Plastikflasche obendrauf ragen. In Puerto Barrios gibt es kein Gebäude mit mehr als drei Stockwerken und nicht eine Rolltreppe; Orte der Zerstreuung sind das Fast-Food-Restaurant Pollo Campero und die winzige Strandpromenade, auf der die Kinder im Schatten der Container von Chiquita, dem multinationalen Bananenunternehmen, spielen.
Das Leben von Barrios dreht sich um zwei Häfen, der eine, Santo Tomás de Castillo, öffentlich, und ein weiterer, privater, erbaut von der United Fruit Company, sie geben etwa 5000 Personen unmittelbar Arbeit. Über die Hauptstrassen brausen fortwährend Lastwagen, 24 Stunden, an 365 Tagen im Jahr, sie transportieren Bananen, Palmöl und Nickel hinaus in die Welt und schaffen Plastik aus Kolumbien oder Unfallwagen aus den USA zum Wiederverkauf heran.
Puerto Barrios hätte ein Paradies sein können, umgeben von Urwald, Buchten, Inseln mit weissem Sand und kristallklarem Wasser, aber über die Hälfte der Strassen ist nicht asphaltiert, und Wasser und Strom fallen mit derselben Natürlichkeit aus, mit der die Wellen an den Strand rollen. Am Tor Guatemalas zur Karibik kann man leichter sterben, indem man von einem 28-Tonner-Truck überfahren wird, als dass einem eine Kokosnuss auf den Kopf fällt. Barrios ist der hässliche Abschluss des einzigen Zugangs Guatemalas zum Atlantik. An einem 148 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Honduras und Belize, sechs Stunden von der Grenze zu Mexiko, eine Schlüsselposition für Transporte zwischen Mittelamerika und den Inseln der Karibik.
Zur Bedeutung des Hafens kommt noch eine so zerklüftete Topografie wie das Enzephalogramm eines Verrückten. Unzählige von den Palmen, Mahagoni- und Kapokbäumen verborgene Ein- und Ausfahrten an der Küste, die diese Gegend zu einem bequemen Platz für Zwischenstopps und Landungen der Leichtflugzeuge und Schnellboote an der neu belebten Kokainroute machen, die die Karibik via Río Dulce und Petén mit Mexiko verbindet. Puerto Barrios ist auch einer der Orte, die kriminelle Gruppen aus den Vereinigten Staaten gern wählen, weil man dort leicht Waffen nach Mittelamerika, in die gewalttätigste Region der Welt, einführen kann. 2016 und 2017 berichtete die guatemaltekische Steuerbehörde von der Beschlagnahmung von über einem Dutzend aus den USA und Panama kommenden Containern am Hafen Santo Tomás de Castilla mit Pistolen, Gewehren, Kleinwaffen und Munition, was Izabal zu dem Verwaltungsbezirk mit den zweitmeisten beschlagnahmten Waffen nach der Hauptstadt macht.
In die entgegengesetzte Richtung ist Puerto Barrios wichtig für die Ausfuhr Tausender exotischer Tiere, das illegale Geschäft, das nach Waffen und Drogen das meiste Geld einbringt. Ein Roter Ara aus Belize oder Guatemala, zwei der Länder mit der grössten Biodiversität der Welt, kann auf dem Schwarzmarkt nach vorheriger Absprache zwischen Käufer und Verkäufer via Internet bis zu 3000 Dollar einbringen, so die Wildlife Conservation Society.
«Die Geografie des Ortes ist echt schwierig, und diese Gewässer sind fast immer ruhig. Ideal, um sich in der Nacht zu bewegen», sagt der Polizist aus Barrios, ein Beamter mittleren Ranges, der seit 15 Jahren im Dienst ist und es satthat, dass er selbst das Polizeiauto instand halten muss. Im Gegenzug dafür, dass ich seinen Namen nicht nenne, begleitet er mich bei einer nächtlichen Runde. Er zeigt auf die Bucht von Manabique und sagt: «Nur in dem Gebiet hier vor uns haben wir fast 100 einfache Zugänge für das Abladen gezählt. Um all das zu überwachen, haben sie uns schon mehr Streifenwagen gekauft, aber nicht ein Boot oder ein Motorrad.» Er blickt auf die Lichter des Puerto Castilla in der Ferne.
Wir laufen durch eine der Strassen im Viertel El Estrecho, in das Polizisten sich nur zögerlich hineinwagen, nicht wegen der Gewalttätigkeit, sondern weil sie ohne Motorräder nicht durch den Schlamm kommen. Häuser am Meeresrand, mit Sandwegen, ohne Wasser- und Stromversorgung, wo die Familien ihre Zeit auf Stühlen vor der Haustür verbringen. In einer Mischung aus Resignation und Stolz erklärt der Polizist, dass es Puerto Barrios «scheissegal ist, was in der Hauptstadt los ist, denn hier gucken sie auf die angrenzenden Karibikländer».
Joseph Conrad porträtierte Hafenstädte als Orte, in denen Fieber und Geschichten ausgetauscht wurden, und für Gaviero Maqroll, den Seefahrer aus den Büchern des kolumbianischen Schriftstellers Álvaro Mutis, waren sie die verschwommene Schwelle zwischen Meer und Festland. Wichtige Häfen werden an den berühmten Persönlichkeiten gemessen, die dort einmal gelebt haben: Die amerikanischen Schriftsteller Paul Bowles und Ernest Hemingway machten Tanger und Havanna unsterblich; unbedeutende Häfen müssen sich mit dem Wissen begnügen, welche Berühmtheiten zumindest durch sie hindurchgekommen sind.
Durch Puerto Barrios sind im letzten Jahrhundert drei herausragende Persönlichkeiten gekommen. 1935 übernachtete der Schauspieler Bruce Bennett hier einige Tage während der Dreharbeiten für den Film Tarzans neuestes Abenteuer, in dem er die Hauptrolle spielte. Die Schwarzen aus Livingston und die Mayas aus Izabal lieferten eine perfekte Kombination, um die Szenen zu drehen, in denen Wilde mit dem weissen Mann interagieren.
Fast 20 Jahre später, im Jahr 1954, war Ernesto Che Guevara auf seiner zweiten Reise durch Lateinamerika in Barrios. Er war 25 Jahre alt und arbeitete für einige Wochen im Hafen, wo er Teerfässer ablud, wie er seiner Mutter in einem Brief gestand. Che wollte die erneuernden Lüfte des Sozialismus von Jacobo Árbenz schnuppern, der es wagte, einen Teil der Ländereien der United Fruit Company zu enteignen, die bis dahin die Hälfte des kultivierbaren Bodens von Guatemala besass.
Wenige Kilometer von Puerto Barrios, in den Ortschaften Río Dulce und Livingston, füllen heute Hunderte junge Rucksackreisende aus der ganzen Welt die Touristenlokale und lachen und trinken. Puerto Barrios ist bei der privilegierten Route aussen vor geblieben, es spuckt Besucher wieder aus. Wenige möchten an einem Ort bleiben, durch den täglich eintausend 28-Tonner fahren und in dem das einzige anständige Hotel aus den Zeiten von Tarzan stammt. Die mutigsten Touristen kommen an der Anlegestelle an und hauen dann schnell zum anderen Ende der Bucht ab.
Die sich aus Filipinos, Liberianern oder Chinesen zusammensetzenden Schiffsbesatzungen gehen nicht einmal von Bord, um nicht ausgeraubt zu werden. Das Geschacher und die Magie der Quais, der Schenken und der Bordelle wurden von riesigen Kränen verschlungen, die ein Lastschiff in sechs Stunden leerräumen. Frenetisch schwenken sie mit ihren riesigen Armen von einer Seite zur anderen und ziehen Kisten hoch, die sie eine nach der anderen auf die Dutzenden von Lastwagen laden, die in einer langen Reihe warten. Der Hafen Santo Tomás de Castilla ist eine Ministadt, wo rund um die Uhr rege Betriebsamkeit herrscht und die 2500 direkte und noch einmal so viele indirekte Arbeitsplätze schafft.
Seit den 1970er Jahren wurden die guatemaltekischen Atlantikhäfen als Kokain-Korridor benutzt. Von hier kommt man übers Meer in sechs Stunden nach Miami, und die Droge wurde getarnt in Behältern für Obst, Gemüse oder Garnelen. Es war ein Geschäft, das hauptsächlich von Exilkubanern in Miami und in Guatemala kontrolliert wurde, die auf den Schutz der Armee und im Widerstand gegen Fidel Castro engagierter lokaler Unternehmer zählen konnten. Der Drogenhandel machte in jenen Jahren guatemaltekische und kubanische Unternehmer zu Millionären. Später blieb das Geschäft in den Händen kleiner lokaler Kartelle, die sich für den Schmuggel von Migranten oder Tieren öffneten, jedoch von den mexikanischen Kartellen abhingen.
In einer Lagerhalle im Hafen überprüfen zwei Agenten der Drogenpolizei einen aus Kolumbien eingetroffenen Container. Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (Emcdda) warnt vor einer Zunahme des an europäischen Küsten eintreffenden Kokains, in immer grösserer Reinheit, in Containern aus Afrika und der Karibik. Laut den Vereinten Nationen bewegt sich 90 Prozent des Welthandels auf Schiffen, aber nur etwa 2 Prozent werden inspiziert. Die Organisation hat ein Programm gestartet, um die Kontrollen zu verstärken, wohlwissend, dass der Grossteil durch die Häfen hereinkommt.
«Wir kontrollieren fast alles, was aus Kolumbien, Venezuela oder Panama kommt», sagt einer der Beamten, bevor er anordnet, dass die Ladung wieder verpackt wird – sie enthält nur Millionen Styroporbecher und -teller zum Servieren von Fastfood.
Haben Sie einen Scanner?, frage ich den Beamten.
«Nein, noch nicht.»
Und wie kontrollieren Sie dann die fast 1000 Container, die jeden Tag bewegt werden?
«Indem wir verdächtige Länder wie Venezuela, Kolumbien oder Panama auswählen.»
Wie viele Hunde haben Sie?
«Drei, aber nur einer arbeitet jetzt gerade, sie heisst Molly», sagt er und zeigt auf einen belgischen Schäferhund, der mit einem Stück Knochen spielt.
Puerto Castilla hat keine Kältekammer für die Inspektionen, weshalb die Versicherungsunternehmen mit millionenschweren Klagen gegen den Hafen Druck machen, falls die Ladung Schaden nimmt. Daher beschränken die Beamten sich darauf, Dosen, Plastikverpackungen oder Fahrzeuge in einem Rhythmus von etwa zehn Containern pro Tag zu kontrollieren, fast ein Prozent des Gesamtvolumens, darin inbegriffen schon die des Steuerbetrugs Verdächtigen. Von den 40 Polizisten, über die die Einheit verfügt, sind 8 für die Drogenabwehr eingesetzt, aufgeteilt in drei Schichten. Zwei Polizisten pro Schicht, um die Abfertigung von tausend Containern pro Tag zu kontrollieren. Und Molly.
In den mexikanischen Häfen gibt es immer mehr Kontrollen, und der Schmuggel chemischer Bestandteile für die Herstellung von Drogen verlagert sich nach Guatemala.
Jahrzehntelang wurde der Hafen Santo Tomás de Castilla von der Armee kontrolliert. 30 Prozent des nationalen Handels kommen durch diesen Hafen, und in den letzten Jahren ist er dank dem verwickelten Netz aus Unternehmen, Zulieferern und Kunden zur perfekten Beute für die politische Klasse geworden. Der frühere Präsident, Otto Pérez Molina, und seine Vizepräsidentin Roxana Baldetti kamen 2015 unter anderem deshalb ins Gefängnis, weil sie falsche Verträge für die Versorgung des Hafens mit Kränen ausgearbeitet hatten, in einem Korruptionsfall, der als «La Línea» bekannt ist.
«Hier ist der Staat nicht abwesend, natürlich sind die Beamten und Politiker da, aber zum Klauen und Plündern», erklärt wenige Meter vom Hafen entfernt in ihrem Büro eine Gewerkschaftsführerin, die ihren Namen aufgrund erhaltener schwerer Drohungen nicht nennen möchte.
Fast zwei Stunden lang hat mir Erik Bosbelli Martínez in seinem holzverkleideten Büro erklärt, warum Izabal, der zweitgrösste Verwaltungsbezirk von Guatemala, «von Gott gesegnet» ist durch die grosse Anzahl natürlicher Ressourcen, die den Staat mit Einkünften aus Minen, Tourismus und Häfen versorgen, auch ist Izabal der einzige Bezirk, der an die Karibik grenzt.
Bei dem Gespräch sass der Gouverneur unter einem riesigen Bild des Staatspräsidenten und einem Foto, auf dem er selbst Arm in Arm mit seiner Frau zu sehen ist. Doch als er erzählt, warum auf dem Posten in weniger als drei Jahren fünf Gouverneure gewechselt haben, verfliegt aller institutioneller Anklang: «Es ist zu konfliktgeladen», schnaubt er.
Im Unterschied zu Mexiko ist ein Gouverneur in Guatemala eine dekorative Figur, fast ohne finanzielle Mittel. Bosbelli Martínez gibt zu, dass das grösste Vermächtnis, das er während seiner Amtsperiode zu hinterlassen anstrebt, ein sauberer Fluss ist. Die Gangs und die Emigranten aus Honduras sind das grösste Problem, dem er sich stellen muss, seit er vor sieben Monaten ins Amt gekommen ist.
Stecken die Banden hinter dem Tod der Taxifahrer?
«Ja, bueno, sie und die Migranten aus Honduras, die in Karawanen hier in der Nähe vorbeikommen, durch Corinto», antwortet er.
Die Migranten oder die Banden?
«Na ja, bueno, Migranten, die Bandenmitglieder sein wollen.»
Aber das sind unterschiedliche Dinge . . .
«Bueno, na ja, fragen Sie besser die Polizei.»
Die Gleichsetzung von Bandenmitgliedern und Migranten, schon früher von Donald Trump benutzt, liefert die perfekte Ausrede für Unfähigkeit.
Eine Autostunde von Puerto Barrios entfernt liegt die Gemeinde Morales. Um dorthin zu gelangen, muss man der Strasse am Atlantik folgen und bei Kilometer 245, auf der Höhe der Tankstelle von La Ruidosa, abbiegen. An der Tankstellentür ist ein Einschussloch im Glas, es wirkt wie die makabre Warnung, dass wir auf dem Land der Mendozas angekommen sind.
Morales ist ein Örtchen ohne besonderen Reiz, in dem einzig die Häuser der hier lebenden Drogenbosse bemerkenswert sind. Es liegt jedoch an einer strategischen Strassenkreuzung, die die Küsten von Guatemala und Honduras via Petén mit dem Landesinneren von Mexiko verbindet. Die Capos konzentrieren ihre Macht in dieser Gemeinde, in der es keine anderen Bars oder Feste gibt als jene, die sie erlauben. Das heisst: wenige. Morales war für die Mendozas lange wie Sizilien für die Corleones, der Ort, von dem aus sie ihre illegalen Geschäfte und ihr Netz aus Transport- und Bauunternehmen sowie Tankstellen lenkten.
Es ist ein Familienclan, dessen Name nur mit gesenkter Stimme ausgesprochen wird, genau wie der der Lorenzanas oder der Leóns. Anders als in Mexiko können in Guatemala zwei oder sogar drei im Drogenhandel involvierte Familien am selben Ort nebeneinander leben. An der Karibikküste und an der Grenze zu Honduras bewegt sich nichts, ohne dass sie davon wissen, und aus diesem Grund wählte auch Joaquín «El Chapo» Guzmán diese Gegend 2011 als sein Versteck. Er war der dritte berühmte Besucher, der durch Barrios gekommen ist.
Nach dem Tod des Patriarchen der Familie Mendoza übernahmen seine vier Söhne (Obdulio, Milton, Alfredo und Haroldo) die Geschäfte und besitzen heute Land und Häuser in Morales und in Petén. Die Morales-Anwesen überragen alle anderen. Sie und fünf weitere Immobilien wurden 2014 während eines Polizeieinsatzes zeitgleich durchsucht. Gemäss Iván Velásquez, dem Leiter der internationalen Uno-Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala, war die von Haroldo Mendoza angeführte Verbrecherorganisation «nicht eine beliebige Bande», sondern «eine Privatarmee in Izabal, die die Bevölkerung unterjocht hatte».
Auch wenn der Nachname noch immer Respekt und Angst einflösst, haben sie viel Macht eingebüsst, verfügen nicht mehr über die frühere Feuerkraft und die starken Verbindungen zur politischen Macht, das erzählt mir ein Polizist, der mich auf meiner Runde begleitet. Die Festnahme des Bosses der Mendoza im Jahr 2014, von Chapo Guzmán 2016 und 2017 von Sergio Mejía (alias El Compa, Leiter des Sinaloa-Kartells) «hat sie geschwächt, und es gibt neue kleinere Gruppen, die Absprachen gleich in Kolumbien treffen», erklärt mir der Polizist.
Wieder zurück in Barrios, dröhnt eine Reihe Kenworth-Trucks mit 400 PS und 20 Rädern durch den Hafen wie eine Bisonherde.
Zu den Absteigen, die im Niedergang überleben, gehört das «Medellín», ein Bordell am Hafen. Ein so schäbiger Ort, dass der Begriff Nightclub unangemessen klingt. 15 Besoffene starren bedröhnt vom Reggaeton in die Glotze, auf den Bildschirmen flimmert europäischer Fussball. Im «Exa», dem anderen Bordell, sind die Drinks 15 Pesos teurer (knapp einen Dollar), weil es dort eine Klimaanlage gibt, erklärt mir Virginia, eine 20-jährige honduranische Prostituierte. Virginia hasst Puerto Barrios, liefert aber eine Lehrstunde für Anpassungsfähigkeit, als sie erklärt, wie es ihr in der vergangenen Woche gelungen ist, mithilfe von Google Translate einen Deal für Oralsex mit einem Chinesen abzuschliessen. Es ist fast Mitternacht, und ich muss ein Taxi nehmen. Die grösste Überraschung ist, dass eines kommt, trotz der geltenden Ausgangssperre. Puerto Barrios hat letztlich, wie die Seeleute in den Büchern von Joseph Conrad, keine Zukunft, sondern ein Schicksal und birgt mehr Literatur in sich, als es den Anschein hatte.
Aus dem Spanischen von Silke Kleemann.