
Wenn sich mein Jugendfreund Tom meldet, geht es stets um Frauen. Ob ich mich an Gloria erinnere, die Prostituierte aus Genua? Natürlich erinnere ich mich. Obwohl bald zwanzig Jahre vergangen sind. Spuck’s aus, Tom. Warst du wieder im Bett mit ihr? «Nein», sagte Tom. «Gloria hat mir heute früh Fotos geschickt.» Er hielt sein Handy in die Facetime-Kamera. Gloria in einem genuesischen Palazzo, vergoldete Barockmöbel, Kristallleuchter, riesige Ölbilder. Gloria mit einer Amtsperson, gehüllt in eine Schärpe in den Farben Italiens. Gloria, Dokumente signierend. «My Italia citizen», hatte sie als Legende dazu gesetzt, zusammen mit einer Reihe überglücklicher Smileys. «Gloria ist Italienerin!» Toms Stimme überschlug sich. Sie, die Bauerntochter aus Nigeria. Sie, die einstige Sexsklavin. «Sie hat es geschafft!» Na gut, sagte ich, Italien bürgert jedes Jahr über hunderttausend Menschen ein. Was ist so besonders daran? Und schon waren wir wieder am Streiten, wie immer, wenn es um Gloria ging. «Hast du dich mal gefragt, wo Gloria heute wäre ohne mich?», blaffte Tom. «Wahrscheinlich wäre sie tot. Oder ausgeschafft. Oder noch immer in der Gosse. Ja, man kann das daneben finden: Ich unterstützte sie, und gleichzeitig ging ich mit ihr ins Bett. Aber jetzt ist sie Italienerin, und nicht zuletzt dank mir.» Toms Augen schimmerten. Er, der Melodramatiker, war ob sich selbst gerührt.
Tom hatte Gloria 2005 kennengelernt. Er lebte damals in Zürich, schrieb fürs Theater und fuhr an die ligurische Küste, wenn er Ruhe suchte. Auf einem seiner Spaziergänge durch die schlafende Stadt sah er einen Schatten an einer Mauer lehnen, mit angewinkeltem Bein. Gloria war 25 und so schwarz, dass sie mit der Nacht fast verschmolz. Er lud sie zu einem Kaffee ein und zahlte ihr dafür doppelt so viel, wie sie mit Sex verdiente. Sie erzählte ihm von der Armut zu Hause und dem Besuch der Frau mit Mercedes und Golduhr, die eine bessere Zukunft versprach. Von da an trafen sich die beiden regelmässig, kochten gemeinsam und gingen an den Wochenenden spazieren. Gloria hatte jemanden, dem sie auf dem fremden Kontinent vertrauen konnte, und Tom war in ihre Art und Andersartigkeit verliebt. Nach Monaten schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Ein knappes Jahr später fällte Tom, wie er einmal sagte, den vielleicht dümmsten, vielleicht besten Entscheid seines Lebens. Er beschloss, Glorias Schulden zu tilgen. 30 000 Euro musste sie der Mafia zurückzahlen, für die Reise nach Italien. Obwohl sie jeden Tag am Hafen stand, gelang es ihr nicht, die Summe zu reduzieren. Sie wurde von den Zuhältern geschlagen, bei jeder Polizeikontrolle drohte ihr die Ausschaffung, und seit ein abgewiesener Freier sie angefahren hatte, war sie krank. Tom steckte das Geld in ein Plastikschwein, schrieb «Freedom» darauf und überreichte es ihr. Gloria brach zusammen und hörte nicht auf zu weinen, bis sie einschlief.
Das war gleichzeitig Höhepunkt wie Ende ihrer Beziehung. Gloria war nun frei, sie brauchte Tom nicht mehr, und für ihn war der Prickel weg. Zwei Jahre waren sie so etwas wie ein Paar gewesen. Trotzdem hielten sie Kontakt, und so erfuhr Tom eines Tages, es gebe nun «somebody» in Glorias Leben. Jemand, der aus ihrer Heimat kam und an Gott glaubte. Tom freute sich. Bald kam das erste Baby, drei Jahre später das zweite, dann das dritte. Zu den Geburtstagen der Kinder brachte er Geschenke. Und weil Gloria dauernd die Ausschaffung drohte, ging er mit ihr zu einer auf Migrationsfragen spezialisierten Anwältin.
Und jetzt bist du also auch diese Sorge los, sagte ich zu Tom. Gloria ist nun Italienerin. Du kannst also endlich ganz damit aufhören, dich wie ein kolonialer Sugardaddy aufzuführen. Tom schwieg. «Mach mich nur fertig», sagte er schliesslich. «Mich interessiert nur, wie es Gloria geht. Und endlich geht es ihr gut. Lies, was sie zu den Fotos geschrieben hat!» Nochmals hielt er sein Handy in die Kamera. In fehlerhaftem Englisch stand da: «Ich möchte dir danken, für deinen Zuspruch, für deine Unterstützung in all den Jahren, für meine Freiheit und alles, was du für mich getan hast. Danke dir so so sehr! In Jesus’ Namen Amen.»
Wegen einer Frau haben sich unser Autor Christian Schmidt und Tom entzweit. Die Geschichte über Gloria brachte sie wieder zusammen.