Sprachlos in Kambodscha

Wie zwei Zirkusartisten mit Akrobatik die Geister des Pol-Pot-Regimes vertreiben. 

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Nichts. Ako und Apra rütteln am Gitter. Es versperrt ihnen den Zugang zu ihrer Trainingshalle, dem letzten Gebäude am Stadtrand von Battambang im Nordwesten Kambodschas. Sie zerren und reissen daran, treten dagegen. Vergeblich. Nochmals. Sie wollen arbeiten, es ist neun Uhr morgens, 34 Grad, bald wird es noch heisser. Nach dem vierten Versuch lassen sie vom Gitter ab, schauen ratlos, so lange, bis sie dieselbe Idee haben. Gemeinsam drücken sie mit dem Hintern dagegen – zweimal, dreimal – im Takt, und zack!, kreischend springt das Tor auf. Ako und Apra. Wieder einmal zeigt sich: Allein sind sie nicht nichts, doch nur zusammen sind sie gut.

Die beiden wollen ihr neues Stück proben. Ako, der Grosse, 29 Jahre alt, kindliche Züge, muskulös, meist lächelnd. Apra, der Kleine, 28, Brust und Schulter tätowiert, ein scharf geschnittenes Gesicht umrahmt von einem ungezähmten Haarschopf.

Im Innern der Halle wärmen sie sich auf. Ihre neue Nummer ist technisch anspruchsvoll, was ihnen Sorgen macht, und es bleibt nicht mehr viel Zeit. Die letzten Wochen haben sie etwas gar locker genommen. Schliesslich gab es keinen Grund, sich anzustrengen. Ihre vergangenen Saisons verliefen erfolgreich. 2013 tourten sie gemeinsam mit anderen Artisten durch Frankreich, zuletzt waren sie mit dem Circus Monti in der Schweiz unterwegs.

Von diesen Engagements ist noch etwas Geld da. Wie es Sitte ist, gaben sie es ihren Eltern, die damit den Lebensunterhalt der grossen Familien bestreiten – alle wollen essen, alle wollen ein Smartphone und ein T-Shirt mit dem geschwungenen «S» von Superman. Doch in Battambang, der drittgrössten Stadt des Landes, gibt es kaum Möglichkeiten, so viel Geld zu verdienen, wie es Ako und Apra bisher gelungen ist. Nun ist bald alles Ersparte weg, die Zeit drängt.

Jetzt klettert Apra, der Kleine, auf die Schultern seines Partners, so behende wie eine Ziege auf einen Felsen. Ako, der Grosse, stemmt ihn in die Höhe, bis seine Arme gestreckt sind. Die beiden verharren einen Augenblick, der Fels steht, die Ziege zittert, nichts ist zu hören in der grossen Halle – nur heftiges Atmen. Dann geht Apra in die Knie, wie eine Feder unter Spannung, springt hoch, kugelt sich zusammen, stösst die Füsse Richtung Himmel und stürzt kopfvoran dem Boden entgegen. 

Wäre Ako ein Mensch mit durchschnittlichen Fähigkeiten, würden ihm 0,23 Sekunden als Reaktionszeit genügen, um seine Arme dem fallenden Körper entgegenzustrecken, ihn aufzufangen, an sich zu pressen und zu stoppen. 0,23 Sekunden dauert es, bis ein Mensch Signale aufgenommen, ins Grosshirn übertragen, dort umgesetzt und dann weitergeleitet hat, damit der Muskel tut, was ihm befohlen wird. 

Doch Ako reagiert nicht wie andere Menschen. Etwas ging schief, noch im Mutterleib. Wenn sein Partner durch die Luft fliegt, wenn er sich dreht und wie ein Geschoss dem Boden entgegensaust, muss sich Ako ganz allein auf seine Augen verlassen. Besser wären die Ohren, denn das Gehirn verarbeitet akustische Reize um 30 Millisekunden schneller als optische. Das kann entscheidend sein, der Unterschied zwischen Leben und Tod. Aber Ako ist gehörlos. Er hat nie sprechen gelernt.

Sprachlosigkeit. Zum ersten Mal taucht das Thema auf.

Zwei Stunden arbeiten die beiden an diesem Morgen. Apra steigt ein letztes Mal auf Akos Schultern, springt aber nicht. Er hat genug, es ist zu heiss. Sie verständigen sich mit einigen Gesten, selbst entwickelt und so unverständlich wie Morsezeichen eines fremden Alphabets. Ako hilft seinem Partner von den Schultern und setzt ihn ab, sachte und geradezu zärtlich, als sei er ein kleiner Vogel.

Mit einem Tuktuk, einem motorisierten Dreirad-Taxi, fahren sie ins Zentrum der Stadt, ans Ufer des Flusses, an die Flaniermeile der Stadt mit ihren verschiedenen Restaurants und Häusern mit Giebeldächern und Rundbogenfenstern wie in einem französischen Marktstädtchen. Tatsächlich ist Battambang geprägt von französischer Kolonialarchitektur.

Doch der Charme ist oberflächlich; die Fassaden sind schwarz verschimmelt, die windschiefen Jalousien häufig geschlossen, was Battambang den Charakter eines Dorfs im Dornröschenschlaf verleiht. Das zeigt sich nicht nur an den Gebäuden. Anders als sonst in Asien fahren die Tuktuks Schritttempo, das Lauteste in Battambang ist der Betgesang der Mönche. Der Flughafen ist seit Jahren nicht mehr in Betrieb, und auch die Eisenbahn fährt nicht mehr, nachdem Reisen nach Phnom Penh je nach Anzahl Entgleisungen zwischen einem und drei Tagen gedauert haben. 

Doch der Dornröschenschlaf ist kein Dornröschenschlaf. Battambang dämmert vielmehr in einem Wachkoma dahin. Es ist die Starre einer Stadt, die die Vergangenheit noch nicht vergessen hat. Oder nicht vergessen kann: Die Geschichte von Ako und Apra beginnt nicht mit ihrer Geburt, sondern knapp zwanzig Jahre zuvor, konkret mit einem Telefonanruf Richard Nixons. 

Am Abend des 9. Dezembers 1970 sitzt der US-Präsident im Oval Office des Weissen Hauses in Washington D.C., allein, er ist unter Druck. Der Vietnamkrieg dauert bereits viel zu lange; die USA haben den Gegner unterschätzt und kommen nicht voran. Auch die Ausweitung des Krieges auf das Nachbarland Kambodscha zeigt nicht den erhofften Erfolg.

Die Bombardements mit dem Codenamen «Menü» – aufgeteilt in «Breakfast», «Lunch», «Snack», «Dinner», «Supper» und «Dessert» – vermögen den Vietcong nicht zu stoppen: Über den weitverzweigten Ho-Chi-Minh-Pfad, der Kambodschas Dschungel durchquert, erhält der Gegner weiterhin Nachschub.

Nixon muss handeln, insbesondere da er die Angriffe auf Kambodscha dem Kongress bislang verschwiegen hat. Inzwischen gibt es jedoch zu viele Mitwisser, und sollten die Attacken ans Licht kommen, braucht er zumindest eine Erfolgsmeldung.

Laut dem vom National Archive for Security veröffentlichten Gespräch greift der Präsident um 20 Uhr 45 zum Telefon und ruft Henry Kissinger an, seinen Sicherheitsberater. 

Nixon: «Ich will, dass Sie noch heute Nacht Moorer kontaktieren [Anm. der Red.: Thomas Moorer, Chef des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte] und ihn beauftragen, einen Plan zu entwerfen, dass jedes gottverdammte fliegende Ding in Richtung Kambodscha startet und jedes sichtbare Ziel angreift.»

Kissinger: «Verstanden.»

Nixon: «Ich will, dass jetzt alles Fliegende dort reingeht und ihnen die Hölle heiss macht. Es gibt keine Limite bezüglich Meilen und Kosten. Ist das klar?»

Kissinger: «Verstanden, Mr. President.»

Nixon: «Wir sagen, dass wir Nachschub einfliegen. Aber da­rüber muss absolutes Stillschweigen bewahrt werden. Es darf nur nach Nachschub aussehen.»

Kissinger: «Das ist eine geniale Idee.»

Wenige Tage später dehnt die US-Airforce ihre Angriffe auf weite Teile Kambodschas aus. Eine Karte weist die Einschläge als blutrote Punkte aus; der gesamte Osten und Süden des Landes ist damit getränkt. Kambodscha ist nun mitten in einem Krieg. Als Monarchie war der Staat über lange Zeit stabil, König Sihanouk verfolgte geschickt einen neutralen Kurs, wurde aber mit US-Unterstützung von seinem Premierminister und früheren General Lon Nol gestürzt.

Doch mehrere Gruppierungen bekämpfen Lon Nols US-gestütztes Regime, darunter die Roten Khmer, die schliesslich im Bürgerkrieg siegen. An ihrer Spitze steht ein Mann, dessen Name heute Synonym für eines der weltweit schlimmsten Terrorregime ist: Pol Pot. Einst buddhistischer Mönch, dann Sozialreformer mit maoistischem Hintergrund, hat er sich als «Bruder Nummer eins» zum Anführer der Roten Khmer aufgeschwungen, einer kleinen Guerillatruppe, lange nur ein paar tausend Kämpfer zählend.

Doch er weiss die Bombardierungen geschickt als Propaganda für seine Ziele zu nutzen. Die Soldaten in schwarzen Uniformen und mit roten Halstüchern werden vom Volk als Befreier begrüsst. Am 17. April 1975 marschieren sie in Phnom Penh ein. Es ist der Anfang einer neuen Ära, einer neuen Zeitrechnung, in den Worten Pol Pots «das Jahr null» – das Terrorregime beginnt. 

Damit ist auch das Schicksal von Ako und Apra vorgezeichnet, aufgrund eines Telefongesprächs, geführt von einem Mann, der sich 14 000 Kilometer entfernt von Kambodscha für nichts anderes interessiert als seinen politischen Erfolg.

Das Regime Pol Pots hält sich keine vier Jahre, im Januar 1979 nehmen vietnamesische Truppen – nach Angriffen der Khmer auf Vietnam – Phnom Penh ein. «Bruder Nummer eins» und seine Getreuen ziehen sich in den Westen zurück, an die Grenze zu Thailand. Von Pailin aus, 80 Kilometer entfernt von Battambang, kämpfen sie weiter. 1997 geben sie offiziell auf – trotzdem finden noch zwei Jahre lang Scharmützel statt.

Ako und Apra haben die letzten zehn Jahre miterlebt.

Wie erinnern die beiden Artisten die Zeit unter den Roten Khmer? Was haben sie durchgemacht?

Akos Blick flackert. Er spielt mit seinem iPhone, lässt es kreiseln, links herum, rechts herum, schreibt SMS oder unterhält sich via Skype mit seiner ebenfalls gehörlosen Frau.

Ist es Langeweile oder überspielte Anspannung?

Nicht viel anders Apra. Geht eine Frage an ihn, kümmert er sich – anstatt zu antworten – zuerst um seine Haare. Bis vor wenigen Tagen trug er sie rot, dann beantragte er eine neue Identitätskarte, was die Behörden ihm aufgrund der Farbe verweigerten. Worauf er sie schwarz färbte, dazu ein paar blonde Strähnen am Hinterkopf. Oder dann, eine andere Technik zur Verzögerung, muss er zuerst den Sitz seines Hals­tuches korrigieren. Er zupft daran herum, legt es einmal so, einmal anders, um es schliesslich so zu belassen, wie es war.

Ako, war der Krieg für dich als Gehörlosen besonders gefährlich? «Nein, nicht wirklich», sagen die zwei Dolmetscher, einer für Kambod­s­chanisch, einer für Gebärdensprache. Seine Geschwister seien ihm beigestanden, fügt Ako an. Gab es Verletzte oder Tote in deiner Familie? «Ja, einer meiner Onkel wurde von drei Schüssen getroffen – Arm, Bauch, Bein.»

Apra, was hast du vom Krieg bemerkt? «Nicht viel.» Und was ist das wenige? «Ab und zu gab es Schiessereien, dann habe ich mich versteckt und gewartet.» Hattest du Angst? «Eigentlich nicht.» Und hat dich der Krieg beschäftigt? «Nein, nicht sehr.» 

Sprachlosigkeit, zum zweiten Mal.

1975, nach der Machtübernahme durch die Roten Khmer, verebbt der Jubel schnell. «Bruder Nummer eins» verwandelt das Land in wenigen Monaten in einen Bauernstaat mittelalterlichen Zuschnitts. Die Einwohner des Landes behandelt er wie Leibeigene, Millionen von Menschen müssen in den Reisfeldern Frondienst leisten.

Alles, was nach Westen, Entwicklung oder Fortschritt aussieht, wird verboten. Pol Pot lässt die Städte räumen, schliesst Spitäler, Schulen und kappt Beziehungen mit der Aussenwelt. Privatbesitz und Geld werden abgeschafft; im Zentrum steht allein die Agrarproduktion. Wer auf den Gewaltmärschen zu den Feldern zusammenbricht oder krank wird, stirbt. Getötet werden auch alle, die anders denken, als die Parteidoktrin verlangt, und den Fehler begehen, dies zu sagen.

Sie werden erschossen, Tausende krepieren in Folterzentren. Um Munition zu sparen, werden Kinder von «Verrätern» an Bäumen zu Tode geschlagen. Das ganze Land ist ein Gefängnis, mindestens 1,7 Millionen Menschen fallen dem Terror zum Opfer, darunter fast alle Mönche, Künstler und Intellektuellen des Landes.

Zwei Tage später, zehn Uhr. Ein Tuktuk bringt Ako und Apra zum Training. Am Vorabend waren sie Fussball spielen. Einer der Kollegen traf Akos Schienbein anstatt den Ball, nun humpelt er. Ako und Apra wollen heute Technik üben, genauer: das Timing bei den Sprüngen. Aktion und Reaktion. Apra rückt die Sprungmatten zurecht, dann klatscht er in die Hände, wissend, dass sein mit geschlossenen Augen dasitzender Partner den Schall spürt, es geht los. Ako stellt sich hin, breitbeinig, leicht gehockt. Apra steigt in die verschränkten Hände, schon steht er auf Akos Schultern.

Aber die Ziege zittert und wankt. Also herunter und nochmals. «Beobachte meinen Bauch», befiehlt Apra. «Die Spannung sagt dir, wo mein Gewicht ist. – Hast du verstanden?» Ako nickt. Der nächste Versuch missrät, der übernächste ebenso. «Du musst schauen. Ako: Schauen!» Apra packt Akos Hände. «Wo spürst du mein Gewicht? Hier? Oder hier?» Vierter Versuch. Apra kann sich ein paar Sekunden halten, dann stürzt er ab. Ako vermag den fallenden Körper zwar so zu steuern, dass Apra auf den Füssen landet, doch überdreht er dabei Apras Handgelenk.

Ein heftiger Streit entbrennt, die Hände fliegen. Ako deutet: «Das war dein Fehler! Nicht meiner! Du hast dich nicht gerade gehalten, also hast du die Balance verloren, du, nicht ich!» Apra starrt den Partner an, ohne zu reagieren, schnappt sich ein Handtuch und läuft aus der Halle. Ako stemmt die Arme in die Seite und verdreht die Augen. Dann setzt er sich hin und wartet. 

Zehn Minuten später kehrt Apra zurück. Die beiden schauen sich kurz an, dann nehmen sie die Arbeit wieder auf. Sie entwickeln die Handlung ihres neuen Stücks weiter: eine Posse à la Chaplin, Pantomime gemischt mit Akrobatik. Die Trainingshalle wird zur imaginierten Manege mit einem Publikum aus Trampolins und Sprungmatten. Verbeugung, und schon sind sie mitten im stummen Stück: Oh, Ako, was hängt da oben? – Siehst du doch: eine Blume. – Hmm. Ich möchte sie gern. Wie können wir sie holen? – Ist doch klar: Ich hebe dich hoch … Autsch! Apra, du Trottel, geht’s auch etwas sanfter? – Hier, ich hab sie. Schau, wie schön sie ist. So zart. Diese Fülle an Blütenblättern. – Ah, und jetzt lass mich riechen … Puaaah! Die stinkt ja! – Stinkt? Oh nein, sie riecht phantastisch. – Also, lassen wir die Dame in der ersten Reihe urteilen. Riecht sie gut oder stinkt sie? – Siehst du! Wenn du behauptest, diese Blume stinke, dann riech doch mal an meinem Flipflop. Es ist ein gut getragenes Modell. – Igitt, das ist ja widerlich! Warte, das zahle ich dir heim …

Nun amüsieren sie sich, fügen neue Details hinzu und freuen sich darüber. Doch so humorvoll die beiden bei der Arbeit sind, so verschlossen sind sie, wenn Fragen in ihre Vergangenheit zielen. Über ihre Jugend erzählen Apra und Ako nicht mehr, als Licht durch ein Schlüsselloch fällt. Weshalb? Weil sie nur die letzten Wellen des Terrors miterlebt haben? Oder schweigen sie, weil sie sich für die Geschichte ihres Landes schämen? Oder ganz anders: Trauen sie sich nicht, über die Roten Khmer zu reden? Fürchten sie sich? 

Was sich damals in Battambang abspielte: Die Stadt wird wie Phnom Penh weitgehend geräumt. Die Menschen müssen Fronarbeit leisten. Da in Pol Pots Konzept von einer besseren Welt Familien keinen Wert haben, werden sie aufgelöst. Männer, Frauen und Kinder kommen in verschiedene Camps.

In den Reisfeldern müssen die Erwachsenen mit nichts als ihren Händen Bewässerungsgräben ausheben. Die Kinder stellen derweil Dünger her. Sie mischen Grünabfälle und Fäkalien, von Hand, und bringen sie aus, von Hand. Zur Einschüchterung finden öffentliche Gerichtsverhandlungen statt, wobei die Zuschauer über das Schicksal der Angeklagten entscheiden. Reagiert das Publikum auf die Vorwürfe des Tribunals mit Applaus, erfolgt die sofortige Exekution.

Man schlägt die Verurteilten bewusstlos und köpft sie. Oder sie werden zu den «Killing Caves» einige Kilometer ausserhalb der Stadt gebracht, dort zu Tode geknüppelt und durch ein Erdloch in die Tiefen eines Höhlensystems gestossen. Die Gebeine der Ermordeten sind heute noch zu sehen – eine touristische Attraktion. Doch niemand traut sich zu sprechen, angesichts des Horrors und angesichts des grossen Buddhas, der in der Gruft wacht. Sein Lächeln gründet in einer Welt jenseits von Leid und Tod. Die Stille des Friedens.

Sprachlosigkeit, zum dritten Mal.

Als sich Pol Pot im Januar 1979 aus Phnom Penh zurückziehen muss und die von Vietnam dirigierte Marionettenregierung die Macht übernimmt, ändert sich in Battambang vorerst nicht viel. Die Kämpfe flackern immer wieder auf. In diese Zeit werden Ako und Apra geboren, sie sind Kinder des Krieges. Ihre Familien leben in Angst und Schrecken, und sie hungern. Aus Angst vor den Soldaten wagt niemand die – verminten – Felder zu bebauen. Erst 1997, nach mehr als zwei Jahrzehnten Krieg, kommt auch diese Region des Landes zur Ruhe.

Treffen mit Det Khuon. Ako und Apra haben ihn mehrmals erwähnt, mit Respekt und Zuneigung. Sie haben zu verstehen gegeben, dass Fragen über ihr Land und dessen Vergangenheit nicht an sie, sondern besser an ihn zu richten seien: Det ist nicht nur ihr «Ersatzvater», er hat ihnen auch die Chance gegeben, Artisten zu werden und damit beruflich eine Zukunft zu haben.

Det ist von jener auffälligen Sanftheit, Freundlichkeit und Bescheidenheit, wie sie Menschen eigen ist, die alles gesehen haben und durch nichts mehr zu erschüttern sind. 1972 geboren, ist er eine halbe Generation älter als Apra und Ako. Als Pol Pot die Macht übernimmt und die Menschen zu Hunderttausenden sterben, flieht er mit seiner Familie. Jahrelang ziehen sie von einem Flüchtlingslager zum nächsten, bis sie 1985 im Camp «Site 2» an der Grenze zu Thailand Unterschlupf finden. Das Lager ist zwar gut organisiert, doch für Kinder gibt es nichts zu tun.

Det lebt seit einem Jahr im Lager, als eine junge Französin auftaucht. Véronique Decrop, Zeichenlehrerin aus Marseille. Sie ist dem Ruf eines französischen Priesters gefolgt. Der Geistliche hat erkannt, was den verängstigten, ausgehungerten und oft auch verwaisten Kindern und Jugendlichen im Lager fehlt: eine Möglichkeit, sich mit ihrem Schicksal auseinanderzusetzen. Decrop beginnt mit ihnen zu arbeiten, ist gleichzeitig erschüttert und fasziniert von ihren Werken.

Was ihre Schüler an Greueltaten sahen und auch selbst durchmachen mussten, bricht nun hervor. Die Zeichenblätter werden zum Destillat des Krieges. Decrop erkennt, dass sie zwar mit ihrer Arbeit helfen kann, doch ihre Schüler auch auf die Zeit nach ihrem Aufenthalt im Flüchtlingscamp vorbereiten muss. Noch in «Site 2» gründet sie zusammen mit einigen besonders Engagierten die Organisation «Phare Ponleu Selpak», frei übersetzt «Das Leuchten der Kunst». Wichtigstes Ziel: auf Basis der Kreativität etwas Gewicht von den Seelen und Herzen der jungen Menschen zu nehmen. 

Ein Jahr nach den Wahlen von 1993 – durchgeführt unter Uno-­­Aufsicht, boykottiert von den Roten Khmer – verlassen Det und seine Freunde das Lager. Det ist 22 Jahre alt. Unterstützt von Decrop, beginnen sie die Kunstschule in Battambang aufzubauen. Sie können ein Reisfeld am Stadtrand kaufen, stellen Zelte auf, schon bald kommen die ersten Schüler aufs Areal. Sie sind der Nachwuchs kriegsgeschädigter Eltern, Strassenkinder, Waisen, befreite Kindersklaven, Kinderprostituierte – kurz: Pol Pots Vermächtnis.

Als Ausbildung bringen die Gründer nichts mit ausser ihrem praktischen Wissen aus dem Unterricht bei Véronique Decrop. Im Umgang mit den Kindern müssen sie immer wieder improvisieren. Der Andrang ist gross, «Phare Ponleu Selpak» wächst schnell, und dank Unterstützung aus dem Ausland ist visuelle Gestaltung bald nicht mehr das einzige Fach. Neue Richtungen und neue Gebäude kommen dazu: Musik, Tanz, Theater und schliesslich auch die Zirkusschule mit ihrer grossen Trainingshalle.

Hier lernt Det Apra und Ako kennen.

Das Areal ist kaum eröffnet, als Det ein herumlungernder Knabe auffällt, schüchtern und verwahrlost. Es ist Apra. Ein Foto zeigt ihn: kleingewachsen, bekleidet mit nichts als roten Shorts und einem Kopftuch. Mit gesenktem Blick steht er da, vielleicht beobachtet er etwas, vielleicht geht der Blick ins Leere. Der Knabe ist sieben und hat sein Elternhaus verlassen. Der Vater trinkt jeden Tag und wird dabei gewalttätig.

Als Träger von Reissäcken verdient er zu wenig, um die Familie ernähren zu können. Eines Tages hat Apra genug von Gewalt und Hunger und kehrt nicht mehr in den Wellblechverschlag zurück. Er schläft bald hier, bald dort, meistens am Strassenrand. Um etwas Geld zu verdienen, sammelt er Abfälle. Bis er von «Phare Ponleu Selpak» hört, den Weg zum Grundstück am Stadtrand findet – und bleibt. Da sind Leute, die ihm Essen und ein Bett bieten, ohne zu fordern, ohne ihn zu prügeln. «Alle Kinder, die damals zu uns kamen, waren psychisch krank, zu hundert Prozent», sagt Det. «Sie trugen eine unglaubliche Traurigkeit in sich.»

Apra behält seine Entdeckung nicht für sich. Bald bringt er seinen besten Freund mit: Ako.

Die beiden kennen sich, ihre Väter arbeiten in derselben Reismühle. Apra findet den anderen Jungen anfänglich zwar seltsam, er spricht nicht, aber da sie ein ähnliches Schicksal verbindet, freunden sie sich an. Auch Akos Vater trinkt, auch er kann seine Kinder nicht ernähren, und die Hütte von Akos Familie ist noch erbärmlicher als seine. Um sich verständigen zu können, entwickeln die beiden Knaben ihre eigene Art der Kommunikation, ein Universum aus Zeichen, das nur für sie Sinn ergibt.

Damals kreiert Ako auch die Namen für Apra und sich selbst. Seinen Partner charakterisiert er mit der Gebärde für «Akne», weil Apras linke Wange vernarbt ist. Wenn er von sich selbst spricht, deutet er auf die beiden schwarzen Punkte links und rechts seiner Nase. Er ist «der mit den zwei Muttermalen». 

Als Ako und Apra «Phare Ponleu Selpak» beitreten, öffnet sich ihnen eine andere Welt. Sie ist das Gegenteil ihrer bisherigen Wirklichkeit. Noch erkennen sie nicht, dass sich hier bereits ihre berufliche Zukunft abzeichnet, aber beide beginnen die Ausbildung, sind so gut und arbeiten so harmonisch zusammen, dass sie alsbald «wie ein Körper» agieren, erkennt Det. 

Zuerst lernen sie Pantomime, später Akrobatik. 2009 bewerben sie sich für eine Weiterbildung in Frankreich und werden vom renommierten Centre national des arts du cirque aufgenommen. Sie verlassen zum ersten Mal ihre Heimat, fliegen zum ersten Mal, erkennen, wie gross die Welt ist und was sie zu bieten hat. In Frankreich verdienen sie auch zum ersten Mal Geld, 150 Euro in drei Monaten. Det: «Das war für die beiden sehr viel.» Heute seien sie die bestverdienenden Mitglieder ihrer grossen Familien. Das zeigt sich etwa daran, dass beide ihren Eltern ein Haus bauen konnten, zwar klein, doch mit festen Mauern und wasserdichten Dächern, die Fenster sind verglast. Im Vergleich zu den windschiefen Hütten aus Wellblech und Holz ein grosser Fortschritt.

Als Ersatzvater Det Khuon über die Auswirkungen der Herrschaft der Roten Khmer auf Battambang spricht, weist er beiläufig darauf hin, dass in der Nachbarstadt Pailin weiterhin Vertreter des einstigen Regimes als Gouverneure amtieren, gerade sei der dritte in Folge gewählt worden. 

Einige Urheber des Terrors haben überlebt. Vierzig Jahre nach dem «Jahr null» gibt es die Roten Khmer immer noch, und nicht nur in Pailin. Die Vietnamesen haben sie zwar nach ihrem Sieg 1979 aus allen wichtigen Positionen entfernt, doch heute sind einige wenige führende Politiker Kambodschas ehemalige Rote Khmer. Inbegriffen Ministerpräsident Hun Sen. Als Kommandant eines Regiments der Roten Khmer flüchtet er 1977 ins Exil in Vietnam und wird später mit dem Segen Hanois Aussenminister der neuen kambodschanischen Regierung. Als Ministerpräsident ist er seit 1985 ununterbrochen im Amt.

Auf Druck der Uno stimmte zwar Kambodschas Nationalversammlung einem internationalen Rote-Khmer-Tribunal zu, das aber von Hun Sen behindert wird – mittlerweile leben von den einst hochrangigen Kaderleuten nur noch einige wenige, die juristische Aufarbeitung der Verbrechen in der Pol-Pot-Zeit geht nur schleppend voran. Gleichzeitig gehen Hun Sen und seine Gehilfen gegen die politische Opposition vor.

Regierungskritische Zeitungen und Radiostationen müssen aufgeben, Militärpolizisten ermorden den bekanntesten Umweltschützer des Landes, Journalisten finden Gewehrkugeln vor ihren Haustüren, und im Sommer 2015 werden elf Mitglieder einer Oppositionspartei zu sieben bis zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie gegen Hun Sen demonstriert haben. Zudem versucht Hun Sen die Rechte der NGOs im Lande einzuschränken – eine Aktion, die insbesondere auf Menschenrechtsorganisationen zielt.

So ergibt sich plötzlich eine neue mögliche Erklärung für Ako und Apras Einsilbigkeit. Die beiden sind Zirkusartisten, talentiert und gut genug, um international aufzutreten. Nachdem sie dank Phare Ponleu Selpak die Chance erhalten haben, dem Martyrium ihrer Jugend zu entrinnen, wollen sie nichts anderes als ihren Status erhalten. Sie wollen Verträge abschliessen, auf Tournee gehen und so viel Geld verdienen, dass sie ihre Eltern, Geschwister, Grosseltern, Tanten und Onkel ernähren können.

Sie müssen sich mit den Behörden ihres Landes gut stellen, sie brauchen Dokumente und Bewilligungen für ihre Reisen, sie dürfen nicht ins Getriebe des repressiven Staatsapparates geraten. Weshalb also sollten sie fremden Ohren Dinge über ihr Land erzählen, die ihnen möglicherweise Scherereien eintragen?

Sie leben in einem Land, in dem überall Plakate mit dem Konterfei des Ministerpräsidenten prangen. Eines hängt auch an Akos Haus. Die Plakate werben für eine weitere Amtszeit Hun Sens, und sie machen klar, wem man Respekt zu zollen hat: einem Mann, der für ein Klima der Repression und Unterdrückung steht – die Sprachlosigkeit ist verordnet.