
«Hello sweetie, how are you? I am back from the Aliens Circle.» Ich chatte wieder regelmässig mit Murtadha über Whatsapp. Doch anders als vor dreieinhalb Jahren handeln seine Nachrichten nicht von skrupellosen Schleusern, die den Fliehenden auf dem Weg nach Europa ausnehmen, sondern von der deutschen Ausländerbehörde – als «Aliens Circle» übersetzt sein Smartphone den Begriff aus dem Arabischen. Murtadha hat zwar kein Asyl erhalten, wird aber in Deutschland geduldet. Nun versucht er, seinen Wohnsitz vom sächsischen Bautzen ins thüringische Gera zu verlegen. Bislang erfolglos: Von der Geraer Ausländerbehörde kommt ein abschlägiger Bescheid. Der gefrustete Murtadha leitet die Mail an seine Sachbearbeiterin in Bautzen weiter. Ihre Antwort: «Eine Ablehnung von der dortigen Ausländerbehörde ist nicht korrekt. Die Wohnsitzauflage wurde rechtmässig gestrichen.» Die Wohnsitzauflage verpflichtet in Deutschland Geduldete, für drei Jahre an einem bestimmten Ort zu wohnen. Vorzeitig gestrichen werden kann sie nur, wenn man, wie Murtadha, eine sozialversicherungspflichtige Arbeit aufnimmt und selbst für seinen Lebensunterhalt aufkommt. So jedenfalls die Theorie. In der Praxis arbeitet Murtadha bereits seit März 2023 in einem Amazon-Logistikzentrum im 190 Kilometer entfernten Gera. Obwohl seine Sachbearbeiterin das weiss und ihm auch die Erlaubnis zur Aufnahme der Arbeit erteilt hat, streicht sie seine Wohnsitzauflage aus unerfindlichen Gründen erst im Mai 2024 – 14 Monate nachdem er die Stelle angetreten hat.
Murtadha hat sein offenes Wesen behalten. Er knüpft schnell Kontakte, wie damals im Erstaufnahmelager auf der griechischen Insel Samos, wo wir zusammen in der Geflüchtetenküche arbeiteten. Den Tipp, sich bei Amazon in Gera zu bewerben, bekommt er Ende 2022, als er frisch in Bautzen ist, nach seinem ersten Jahr in drei verschiedenen Ankunftslagern in Deutschland. In Gera lernt er die damals bald 30-jährige Kristina kennen. Als er bei Amazon anfängt, bietet sie ihm an, in ihrer Wohnung in Gera unterzukommen – inoffiziell.
Kristina ist im September 2022 vor dem russischen Angriffskrieg aus dem südukrainischen Mykolajiw geflohen. Zurück in die Ukraine möchte sie nicht. In Gera verbringt sie die meiste Zeit zu Hause, Kaufland und ein Fitnesscenter sind ihre häufigsten Anlaufpunkte. Murtadha und sie werden ein Paar. Kristina lernt ihre ersten Sätze auf Arabisch früher als auf Deutsch: Einen Platz im Sprachkurs erhält sie erst 23 Monate nach ihrer Ankunft. Murtadha schiebt nun seit zwei Jahren Nachtschichten im Logistikzentrum, sein Arbeitsvertrag ist unbefristet. Seine Kollegen kommen aus Polen, Rumänien, Afghanistan, Syrien, Deutschland, Spanien, Albanien, dem Irak, der Türkei, dem Sudan und mindestens fünf weiteren Ländern. Nachts Pakete mit bestellten Waren zu packen, bedeutet, tagsüber zu schlafen, von Gera bekommt Murtadha wenig mit. Und er hat nicht die Kraft, sich mit deutschen Behörden herumzuschlagen.
Die aber bereiten ihm Probleme. Sein Ausweis läuft demnächst ab. Ohne gültigen Ausweis darf er nicht zur Arbeit. Den Ausweis verlängern ohne gültige Anmeldung bei der Ausländerbehörde aber auch nicht – und die wird ihm von der Stadt Gera verweigert. Ich stelle Murtadha viele Fragen, wühle mich durch Mails, Dokumente und Termineinladungen, von denen er mir Screenshots schickt. Und bitte schliesslich den Flüchtlingsrat Thüringen um Hilfe. Da Murtadha inzwischen über einen offiziellen Mietvertrag für ein Zimmer in Gera verfügt, schlagen sie vor, er solle direkt zum Einwohnermeldeamt gehen statt zur Ausländerbehörde. Sobald er gemeldet sei, würde die Ausländerbehörde nachziehen und ihn registrieren.
Ob er denn schon irgendwann bei der Meldestelle gewesen sei, frage ich ihn. Er denke schon, sei sich aber nicht sicher. Die beiden Behörden befänden sich im selben Gebäude: «It’s one place», whatsappt er verzweifelt, «but each circle works separately.» Murtadha nimmt alle Kraft zusammen und vereinbart online einen Termin bei der Meldestelle – und noch am selben Tag bekomme ich ein Foto seiner Meldebescheinigung. Eine Woche später folgt das Foto von seinem neuen Ausweis, ausgestellt von der Stadt Gera – Murtadha darf weiterhin zur Arbeit gehen. Wo der Fehler im Prozess steckte, was das Problem war und was die Lösung? «Aliens Circle.»