Im Gespräch

Artur Domoslawski

Biograf von Ryszard Kapuściński

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Reportagen: Herr Domoslawski, Ihre Biografie über Ryszard Kapuściński erscheint dieser Tage auf Deutsch. Das Buch wurde in Ihrer Heimat Polen unterschiedlich aufgenommen. Sie zeigen auf, dass es Kapuściński mit den Eckdaten seiner Biografie nicht immer ganz genau nahm. Haben Sie den Mythos Ryszard Kapuściński entzaubert?
Artur Domoslawski: Es gibt genug Belege dafür, dass er an seiner eigenen Legende gebaut hat, und ich behaupte, dass die Welt der Schriftsteller und Künstler voll von Legenden ist. Warum sollte Kapuściński eine Ausnahme darstellen? In meinem Buch belege ich jede einzelne «Mythologisierung».

Zum Beispiel war sein Vater nie Gefangener der Sowjets. Aber könnte es nicht auch sein, dass ihm einfach sein Gedächtnis einen Streich spielte? Oder dass sein Vater die Geschichte erfand?
Wenn es sein Vater war, der die Geschichte erfand, hätte Kapuściński das zumindest von seinem Onkel wissen müssen. Ich denke nicht, dass sein Vater geschwindelt hat, es war Kapuściński selbst. Seine Schwester kann sich an nichts erinnern, und Katyn [Massaker von Katyn 1940, bei dem rund 25 000 Polen von Sowjet-Schergen umgebracht wurden, Anm. d. Red.] gehört zu denjenigen polnischen Familiengeschichten, die man nicht einfach so vergisst. Ich weiss, was Sie mit dem Gedächtnis meinen, das uns allen Streiche spielt, aber hier ist das nicht der Fall. Sie mögen sich vielleicht nicht daran erinnern, wo Sie und Ihre Familie im Jahr 1948 den Urlaub verbracht haben, Sie werden sich aber garantiert an die Familienlegende erinnern, dass der Vater vom Transport nach Katyn fliehen konnte.

Kapuściński erklärte sich ein Stück weit selbst. Als er, beispielsweise, über Haile Selassie und Äthiopien schrieb, war das eine Parabel über Edward Gierek [der damalige polnische Erste Parteisekretär, Anm. d. Red.] und Polen, was allen Polen zu dem Zeitpunkt klar war. Ist das nicht legitim, wenn man bedenkt, dass Kapuściński unter scharfer Zensur arbeitete?
Sie beziehen sich hier auf ein grossartiges Buch, wahrscheinlich sein bestes, und es ist genau so, wie Sie sagen. Das Problem ist dies: Als das Buch übersetzt wurde, verstand es die Welt als einen Faktenbericht über Äthiopien. Hätte Kapuściński das abstreiten oder korrigieren sollen? Ich weiss es nicht. Es wäre zu einfach, im Nachhinein über ihn zu richten, insbesondere dann, wenn man seine Umstände bedenkt. Ich finde es lächerlich, dass die Literaturkritiker glaubten, die Kurtisanen in Addis Abeba sprächen eine barocke, poetische Sprache, so wie sie es in «König der Könige» tatsächlich tun. Für mich ist dieses Werk eindeutig ein literarisches Werk, kein journalistisches, auch wenn die Erfahrung eines Reporters dahintersteht.

Ihr Buch befeuerte auch die Debatte über den, nennen wir es «konstruierten Journalismus». Eine Reportage verdichtet ja immer, spitzt zu, lässt aus. Was ist dann noch wahr? Wo ziehen Sie die Grenze, die nicht überschritten werden darf?
Verwechseln wir «die Wahrheit» nicht mit «den Fakten». Wahrheit ist ein philosophisches Konzept, und es gibt unendliche Debatten darüber. Die Grenze im Journalismus ist ziemlich einfach: Du sollst nicht behaupten, irgendwo gewesen zu sein, während du gar nicht da warst – auch dann, wenn du in einer Bar nur zwei Strassenblocks weiter warst. Du sollst nicht schreiben, dass etwas passiert ist, wenn es gar nicht passiert ist, und du sollst auch nicht Geschehnisse bezeugen, von denen du niemals Zeuge wurdest. Das hat wenig mit Subjektivität zu tun. Man kann sagen, dass man friert, obwohl draussen 40 Grad herrschen – das ist eine subjektive Empfindung –, aber man sollte nicht sagen, dass es kalt sei, während tatsächlich die Sonne brennt. Man kann sagen, dass man befürchte, jemand wolle einen töten, aber man sollte dann nicht behaupten, man sei beinahe vor ein Erschiessungskommando geführt worden, wenn es keinen Hinweis darauf gibt, dass dem tatsächlich so war.

Was für eine Bedeutung hat Kapuściński für Sie persönlich?
Er war mein Mentor, auf eine gewisse Art mein Freund, jemand, der bis zu einem gewissen Grad die Welt für mich erschlossen hat, insbesondere den Süden oder die Welt der Bedürftigen, der Ausgegrenzten, der Ausgeschlossenen. Er half mir, kollektive Träume und Hoffnungen zu verstehen. Er zeigte mir auch die Bedeutung unseres Berufs auf. Als Leser kann ich sagen, dass seine Bücher die Vorstellungskraft beflügeln können. Kapuściński kann einem ein Gefühl davon geben, wie es sich an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt anfühlt. Oder anders gesagt: Er erfasst den Zeitgeist und den Moment, den er beschreibt.

Und welche Bedeutung hat Kapuściński für Journalisten?
Er stellt uns eine anspruchsvolle Aufgabe: Zeuge zu sein, nicht nur in einem wortwörtlichen Sinne, sondern auch in einem moralischen. Unsere Aufgabe sei es, über die menschlichen Dramen zu berichten für diejenigen Leser, die in ihrem ach so bequemen Leben nicht die geringste Ahnung davon haben, was weit weg von ihnen geschieht. Kapuściński brach auch mit der angelsächsischen Vorstellung von Objektivität. Mehr noch: Er sagte bei mehreren Gelegenheiten, dass man als Journalist eben nicht objektiv sein sollte, vielmehr sollte man sich Werten und einem «Grund» verpflichten. Der einzige Journalismus, der diesen Namen verdiene, sei der engagierte, so wie bei Orwell oder García Márquez. Aber gegen Ende seines Lebens machte er eine bittere Entdeckung, nämlich dass ihn – ich zitiere aus dem Gedächtnis – die Leute, über die er schrieb, nie lesen würden, während sich seine Leser nicht um die beschriebenen Personen kümmerten.

Veränderte sich ihr Bild von Kapuściński, während Sie an seiner Biografie arbeiteten?
Das ist völlig richtig. Ich musste mich in ihn einfühlen, musste mich an einige Fakten, die ich entdeckte, erst gewöhnen. Wenn man von Anfang an das Resultat seiner Forschungen kennt, ist es den Aufwand nicht wert, weil man ja nichts Neues oder Frisches mehr entdecken wird. Was mich vielleicht am meisten umgehauen hat: Ich habe einen Mann entdeckt, der unnötigerweise Angst vor seiner eigenen Vergangenheit hatte. Der fürchtete, einige seiner Geheimnisse – politische, persönliche, berufliche – würden eines Tages enthüllt werden und sein Mythos würde zusammenbrechen. Es schmerzt mich, erkennen zu müssen, wie sehr er gelitten hat, und ich bedaure, dass er wahrscheinlich nie jemanden gefunden hat, der ihn davon überzeugen konnte, dass für seine Ängste kein Grund besteht.

Was bedeutet Kapuściński für Sie als Pole? In Polen hat er ja immer noch den Nimbus eines Nationalheiligen.
Würde Kapuściński aufmerksam gelesen und würde er richtig verstanden, würde er in Polen nicht derart gepriesen werden. Polen ist eine in höchstem Masse konservative, antikommunistische Gesellschaft, die allergisch auf progressive Ideen reagiert, und Kapuściński war nun mal ein progressiver, aufgeschlossener Autor mit eindeutig linken, emanzipatorischen und antiimperialistischen Ansichten. Grundsätzlich bewundern ihn viele Polen als «einen von uns», der in der Welt Anerkennung gefunden hat. Ich wünschte mir aber, dass stattdessen einige seiner Ideen mehr Einfluss in die polnische Gesellschaft und Politik gehabt hätten. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: 2003 war Polen bei der Invasion in den Irak beteiligt. Ich würde es bevorzugen, wenn Kapuścińskis kritische Ansichten bei den damaligen Entscheidungsträgern, die ihn – selbstverständlich – in höchstem Masse bewundern, auch tatsächlich angekommen wären. Unglücklicherweise wurde er völlig ignoriert.

Was war der Grund, dass Sie sich entschlossen haben, noch eine Kapuściński-Biografie zu schreiben?
Ich hatte das Privileg, enge Bekanntschaft mit ihm zu pflegen und mit ihm während seiner letzten neun Lebensjahre sprechen zu dürfen. Kapuściński hatte weit engere Freunde als mich – und diese waren für mich eine ausgezeichnete Quelle –, aber wenn es um Ideen ging, war ich vielleicht sein engster Freund. Das gab mir die Idee, dass ich seine Geschichte aufschreiben könnte, vielleicht sogar sollte.

Manchmal hatte ich bei der Lektüre das Gefühl, dass die Grenze zum Voyeurismus überschritten wurde. Nehmen Sie Kapuścińskis Affären oder die komplizierte Beziehung zu seiner Tochter und ihrem gebrochenen Leben: Hätte man die zentrale Aussage, nämlich dass man für den Erfolg einen gewissen Preis zahlen muss, nicht anders klarstellen können?
Naja, diese Beurteilung bleibt jedem selbst überlassen. Ein Mensch, der Schriftsteller ist, ist gleichzeitig meistens auch ein Sohn oder eine Tochter, ein Ehemann oder eine Ehefrau, ein Vater oder eine Mutter. Wir spielen in unserem Leben viele Rollen. Und mein Buch ist eine Biografie, also was hätte ich mit einigen dieser Rollen tun sollen? Sie ignorieren? Sie auslassen, wegen persönlicher Probleme, von denen es einige gab? Kann mir irgendjemand erklären, warum? Ich wehre mich vehement gegen den Vorwurf des Voyeurismus – bitte versprechen Sie Ihren Lesern hier nicht pikante Details, die sie dann im Buch nicht finden werden. Die Art meiner Beschreibungen empfinde ich als subtil, und ich schrieb nicht ex-pliziter über Kapuścińskis Affären, als ich es mit meinem Anspruch auf gutes und ernsthaftes Schreiben über jemandes Leben habe vereinbaren können.

Kapuścińskis Witwe verklagte Sie und versuchte, die Publikation Ihres Buches gerichtlich zu verhindern. Rein juristisch bekamen Sie zwar recht, aber war die Zeit tatsächlich bereits reif für Kapuścińskis Demaskierung?
Ich verstehe meine Arbeit überhaupt nicht als Demaskierung. Ich erzähle stattdessen die Geschichte eines Mannes in verschiedenen Kontexten. Natürlich beinhaltet das Nachforschungen darüber, was geschah und unter welchen Umständen es geschah – das ist die zentrale Aufgabenstellung jedes Historikers, jedes Schriftstellers und jedes Journalisten. Wäre es meinem Berufsstand mehr angemessen, wenn ich das nicht getan und meine Ergebnisse verschwiegen hätte?

Ihr Buch zeigt auch deutlich auf, dass Kapuściński ein glühender Kommunist war, unabhängig von der Tatsache, dass er als Journalist selbst unter den Konsequenzen des Kommunismus, insbesondere der Zensur, litt. Was war Ihrer Meinung nach der Grund, dass Kapuściński bis zum Schluss an dieser Ideologie festhielt?
Seine Kindheit und die Armut, die er gesehen hat. Das menschliche Elend, das er während des Krieges und während seiner Zeit als Reporter in der Dritten Welt erlebt hat. Wenn jemand, der aus Afrika, Asien oder Lateinamerika berichtet, kein Mitgefühl empfindet, nicht zornig wird, ist er wohl ein eiskalter Schweinehund. Ich bewundere Kapuścińskis Standhaftigkeit, wenn es um seine Weltsicht ging, und ich bin dankbar dafür, dass er – anders als viele seiner Zeitgenossen – diese Ansichten nicht aufgegeben hat, nur weil der globale und politische Kontext änderte.

Nachdem wir nun die Fakten über Kapuściński kennen: Müssen wir ihn jetzt anders lesen? Ist er nicht mehr einer der grössten Journalisten unserer Zeit, sondern «nur» noch ein herausragender, aber trotzdem fiktionaler Schriftsteller?
Ich denke, er ist eine Klasse für sich. Seine Texte helfen uns, einige Ereignisse und Zeiten besser zu verstehen. Ich würde sie aber nicht als Quelle zur Rekonstruktion historischer Ereignisse in Betracht ziehen. Ich würde es be-vorzugen, wenn einige seiner hervorragenden Werke mehr als kreative Texte gelesen würden, die uns einige Wahrheiten über den Zeitgeist und die Orte erzählen, die er aufsuchte.