Bjørn zieht in den Krieg
Wie kommt ein Fischer von den Färöern dazu, für die Ukraine zu kämpfen?
Vielleicht endet diese Geschichte genau hier, in der Küche der toten Grossmutter, in Haldórsvík auf den Färöer-Inseln, mit Kaffee, Nutella-Brot und einer grossen Müdigkeit. Bjørn, der grossgewachsene und breitschultrige Mann, ist zurück an dem Ort, welchen er Heimat nennt. Draussen vor dem kleinen Fenster kann man das Meer sehen und einen Hafen. Er schweigt. Das passiert nicht oft, normalerweise redet Bjørn gern, ohne Pause und ausschweifend. Jetzt guckt er aufs Handy, seine Gedanken sind weit weg. Bjørn Kallsoy hat ein Jahr lang freiwillig für die Ukraine gegen Russland gekämpft, jetzt ist er müde, müde vom Krieg und müde vom Zurückkommen. Vielleicht zum ersten Mal, seit wir diese Reise angetreten haben.
Ich hatte den heute 43-Jährigen vor ein paar Jahren in einer australischen Doku über Singlemänner auf den Färöern gesehen, eine aufschreibenswerte Geschichte, dachte ich und nahm Kontakt auf. Aus der Reportage ist dann nichts geworden, aber wir blieben in Verbindung. Letztes Jahr schickte er mir dann ein Foto von sich – in Uniform. Er sei jetzt im Krieg, schrieb er dazu. Wow, dachte ich, fuck. Ein einsamer Typ, aus einem Land am Rand der Welt, der freiwillig kämpfen geht – warum zur Hölle tut sich einer das an? Ein paar Monate später schrieb Bjørn, dass er zurück will auf die Färöer. Seine Geschichte wollte ich mir nicht noch einmal entgehen lassen. Also bin ich mit meinem Auto losgefahren und habe Bjørn an der polnisch-ukrainischen Grenze abgeholt. Und hier sitzen wir also. Bjørn ist zwar zurück, aber angekommen ist er noch lange nicht.
Plötzlich fällt sie ihm wieder ein, die «Check my dick»-Geschichte, er fängt an zu erzählen. Sie ist ihm so wichtig, dass er sich eine Erinnerung daran sich sogar in die Leiste hat tätowieren lassen: «Dick is good» steht da jetzt, Schwanz ist gut, darüber das Porträt seines Waffenbruders Cyprus. Diese Geschichte höre ich nun schon zum vierten Mal. Es ist der 29. August 2023, schon am Vormittag ist es unangenehm heiss, fast 30 Grad. In den Wäldern unweit von Slowjansk, Region Donbas, Ostukraine, lodern überall kleine Brände, die Mörsergranaten entfacht haben. Irgendwo im Wald hocken Russen und schiessen auf die Stellungen der ukrainischen Fremdenlegion. Seit einer Stunde donnert und knallt es, rumpelt, summt, zischt, Selbstmorddrohnen schlagen ein, der Kommandant brüllt Befehle. Bjørn sitzt am Rand des Schützengrabens und schiesst um sein Leben. Viking nennen sie ihn hier, Wikinger. Es ist sein Kampfname, der Mann von den Färöern trägt ihn mit Stolz. Da schlägt die Granate ein. Eineinhalb Meter neben ihm. Über hundert Splitter treffen ihn, einer durchschlägt seine Wange, die anderen bleiben in seinen Armen stecken, durchbohren die Beine, streifen die Hüfte. Überall Blut. Er rappelt sich auf, kriecht in den nächsten Abschnitt des Grabens, ruft: «Injured! Injured!» – verwundet. Schmerzen habe er kaum welche gespürt, erzählt er, aber seine Hose sei dunkelrot gefärbt gewesen, genau im Schritt. «Check my dick!», brüllt er Cyprus zu, «check my dick!» Sein Penis ist in diesem Moment des Wikingers grösste Sorge.
Acht Monate ist das jetzt her. Am Küchentisch mit Blick auf den blassblauen Fjord und beigefarbene Berge hat Bjørn noch immer die Uniform der 2. Internationalen Legion der Ukraine an: eine Tarnhose mit grossen Taschen an den Seiten und dazu ein olivfarbenes Shirt mit Reissverschlusskragen. Das Camouflage-Hemd, das er sonst wie eine Jacke darüber trägt, hängt über dem Stuhl. Auf dem Ärmel prangt das blau-gelbe Patch der Ukraine, darüber die Flagge der Färöer: azurblau gerändertes, feuerrotes Kreuz auf weissem Hintergrund. Bjørn sieht aus, als könnte er jederzeit wieder in den Schützengraben ziehen. Sein Penis sei unversehrt geblieben, sagt er und lacht kurz auf, aber wegen der anderen Verletzungen musste er drei Monate lang in einem Kyjiwer Krankenhaus behandelt werden. Bjørn sitzt über dem Kaffee, dem Nutella-Brot und checkt mit dem Handy seinen Facebook-Account. Er hat gepostet, dass er wieder zu Hause ist. Jetzt wartet er darauf, dass jemand reagiert.
Als ich Bjørn Kallsoy vier Tage zuvor zum ersten Mal treffe, sitzt er auch über Kaffee und Handy. Gross, kernig, mit Vollbart und Uniform, zuckt er zusammen, als ich das kleine Café in Medyka an der polnisch-ukrainischen Grenze betrete. Es riecht nach Rauch, der Fernseher läuft auf voller Lautstärke. Ausser ihm und mir ist niemand da, auch keine Bedienung. Er springt auf, halb erwarte ich, dass er gleich salutieren wird. Stattdessen eine etwas unsichere Umarmung, dann beugt er sich zu seinem Gepäck, drei grossen Rucksäcken, und zieht ein Buch heraus. Es ist ein Geschenk und handelt von den ersten Tagen des Krieges – persönliche Schilderungen von Ukrainerinnen und Ukrainern, ins Englische übertragen. «From Viking with Love» hat er reingeschrieben. Ein zweites Exemplar lässt er in der Tasche stecken, es ist für einen Journalisten auf den Färöer-Inseln, der vielleicht einen Podcast mit ihm aufzeichnet. Bjørn Kallsoy will, dass die Welt erfährt, was in der Ukraine wirklich passiert. Was die Russen diesem Land und seinen Bewohnern jeden Tag antun. Er möchte den Krieg so erzählen, wie er ihn im Schützengraben erlebt hat.
Wir steigen ins Auto und fahren los, von Medyka nach Kopenhagen und von da aus weiter mit dem Flugzeug nach Tórshavn, die Hauptstadt der Färöer. Die kleine, sturmumtoste Gruppe aus achtzehn Inseln liegt mitten im Nordatlantik, zwischen Schottland und Island, vom Flugzeug aus wirkt sie wie der steingewordene Fussabdruck eines riesigen Dinosauriers. Das Abenteuer, auf das Bjørn Kallsoy sich eingelassen hat, übersteigt die Vorstellung der meisten seiner Landsleute bei weitem. Und auch er hatte eigentlich gar nicht vor, in den Krieg zu ziehen. Es war Ende April 2023, Bjørn hatte gerade seinen Job als Beton-Auslieferer gekündigt und sein Auto verkauft. Die Arbeit war schlecht bezahlt gewesen, der Chef zu verpeilt für seinen Geschmack, und eine Freundin hatte er immer noch nicht: Während einige andere Singlemänner auf den Färöern sich recht pragmatisch Frauen von den Philippinen nach Hause holten, wollte Bjørn, das erzählt die australische Doku, in der er mir aufgefallen war, auf die grosse Liebe warten. Ihm war langweilig geworden, deshalb wollte er noch einmal neu anfangen. Wenn es finanziell nicht anders ginge, würde er vielleicht einfach wieder zur See fahren und fischen, wie früher. Aber vorher wollte er noch etwas reisen. Er fuhr nach Paris. Von dort sollte es weiter nach Deutschland gehen, aber dann sprang ihm ein günstiges Flixbus-Ticket ins Auge: 30 Euro bis nach Warschau. Die polnische Hauptstadt kannte er bislang nur aus Schwarz-Weiss-Dokumentationen über die Nazi-Zeit. Dort angekommen, rief er seinen Cousin an. Den Cousin, der mit einer Ukrainerin verheiratet ist, der in der Ukraine lebt – und kämpft. Eigentlich wollte Bjørn nur wissen, ob es Bjarti gut geht. Aber dann hörte er Geschichten vom Krieg – wie die Russen gezielt Wohngebiete beschiessen, wie Frauen, Kinder und Alte in den Dörfern nahe der Frontlinie ausharren, auf bessere Zeiten und den Sieg ihrer Armee hoffen. Der Entschluss fiel spontan, am Telefon. Fuck, er habe erst nach dem Auflegen kapiert, was er da gerade gesagt, seinem Cousin versprochen habe, erzählt er. Aber, na ja, er hatte auch nichts anderes zu tun gerade. Er fährt nach Medyka und überquert die Grenze. Sein Gepäck: ein alter Rucksack mit zwei Büchern übers Kajakfahren, einer E-Zigarette, Unterwäsche, T-Shirts, einer langen Hose und seinem färöischen Wollpullover. Er meldet sich zur 2. Internationalen Legion zur Territorialverteidigung der Ukraine, einem Korps aus ausländischen Freiwilligen, das die Ukraine kurz nach dem russischen Überfall im Februar 2022 ins Leben gerufen hat. Zwei Wochen gibt sich Bjørn, um herauszufinden, ob er der Ausbildung und diesem Krieg gewachsen sein würde. Zu Hause auf den Färöern weiss niemand, wo er ist. Erst als klar ist, dass er bleiben und Soldat werden wird, ruft er seine Mutter Svanhild an. Sie ist geschockt. Und ziemlich sauer. Aber sonderlich überrascht sei sie nicht gewesen, wird sie später erzählen. Bjørn war schliesslich schon immer ein bisschen verrückt.
Vor der Windschutzscheibe des Wagens zieht die polnische Provinz vorüber, ein Grau-in-Braun und Mattgrün an diesem wolkigen Nachmittag im April. Bjørn spielt ukrainische Musik auf Spotify ab – das patriotische Lied Oy U Lusi Chervona Kalyna über den roten Schneeball, ein Symbol des Widerstands gegen die russischen Aggressoren, läuft in Dauerschleife: Oh, die Kalyna steht gebeugt auf der Wiese / Warum ist unsere glorreiche Ukraine so traurig? / Wir heben die Kalyna hoch / Wir heitern unsere ruhmreiche Ukraine auf. Die Musik bringt die Bilder zurück. Der Wikinger hockt zusammen mit zwei Gefährten in einem Unterstand. Drei Tage lang müssen sie ausharren und zurückschiessen, wenn es nötig ist. In den Reihen der Soldaten erzählt man sich, dieser Krieg sei wie der Erste Weltkrieg, Schützengraben gegen Schützengraben, Mensch gegen Mensch. Nur die Drohnen mit ihren Kameras, denen nichts entgeht, mit ihren tödlichen Sprengladungen sind neu. An Bjørns Seite: wieder mal Cyprus und ein Kamerad namens Kokaina – beide tragen Decknamen und schwere Waffen, der eine kommt aus Zypern, der andere aus Kolumbien. Alle drei kämpfen freiwillig an vorderster Front, für einen Sold von ungefähr 120 000 Griwna im Monat, umgerechnet 2700 Euro. Das ist vergleichsweise viel, die Höhe des Solds hängt davon ab, wie viele Tage man an der Front verbracht hat. Aber hier sterben, das will keiner. Die erste Salve schlägt ein. Ein Mehrfachraketenwerfer der Russen feuert auf sie. Drei Geschosse schlagen kurz hintereinander ein. Wenn eine dieser Raketen ihren Unterstand treffen würde, das wissen alle drei, dann würden sie einfach verbrennen. Die erste russische Salve verfehlt sie nur knapp. Sie können nichts tun, nur warten, wenn sie Pech haben, auf den Tod. Die drei Männer umarmen sich im Unterstand, so fest es eben geht, als die zweite Salve einschlägt. Wieder explodieren die tödlichen Geschosse nur wenige Meter neben ihrem Unterstand. Dann die dritte Salve. War es das endlich? Ist es das wert gewesen? Aber da stoppt der Angriff plötzlich. Es ist das Ende einer drei Tage lang dauernden Schicht im Schützengraben. Ein paar Stunden später kommt die Ablösung, und alle drei dürfen zurück in die Unterkunft in einem kleinen Dorf hinter der Front. Bjørn, der tapfere Wikinger, weint vor Erschöpfung und Anspannung. In ein paar Tagen wird er wieder im Unterstand sein und das Maschinengewehr bedienen.
Wir sind noch ein paar hundert Kilometer von Kopenhagen entfernt, als ich wissen will, was ihm als Erstes in den Sinn kommt, wenn er an zu Hause denkt. Die Landschaft, sagt er sofort, die Natur, der Geruch nach Seetang und Salz, die kalte Luft, das klare, köstliche Wasser. Mehr kommt nicht. Keine Mama, keine Schwestern, auch seinen 14 Jahre alten Sohn Max erwähnt er nicht. Liebt er sie etwa nicht? Liebe, das ist für Bjørn sowieso ein grosses Wort. Ein zu grosses. Er kennt das Gefühl, aber ausdrücken kann er es nicht. Vor eineinhalb Jahren hat ein Arzt ihm mitgeteilt, dass es daran liege, dass er Autist sei, Asperger, ein hochfunktionaler zwar, aber eben Autist. Kein Wunder, hat er es nie geschafft, eine dauerhafte Beziehung zu führen, eine Frau fürs Leben zu finden oder überhaupt das Glück. Jetzt ist ihm das klar. Aber wie erklärt er sich dann Iryna? Iryna arbeitet als Kellnerin in einem Restaurant ganz in der Nähe des Krankenhauses, in dem Bjørn behandelt wurde. Er ging bei ihr essen, und sie ignorierte ihn, Woche für Woche. Bis er sich traute, sie um ein Date zu bitten: ein Abendessen, gefolgt von einem Spaziergang durchs Kyjiwer Stadtzentrum. Iryna ist geschieden, hat zwei Kinder und wird auf keinen Fall zu ihm auf die Färöer ziehen, viel zu kalt, viel zu einsam, und was soll dort aus den Kindern werden? Aber ein paar Dates und später dann ein paar gute Nächte, warum nicht? Seinen Single-Status auf Facebook hat Bjørn nicht geändert, die Sache sei kompliziert. Er hat sein Maschinengewehr nach ihr benannt und will sie wiedersehen. Denn hier und jetzt, am zweiten Tag seiner Heimreise, kurz vor der dänischen Grenze, ist Bjørn sich sicher: Er ist noch nicht fertig mit der Ukraine und diesem Krieg. Und dieser Krieg, ist er fertig mit Bjørn?
Vielleicht liegt es an der immer raueren, kühleren, blassblaueren und damit immer vertrauteren Landschaft oder auch daran, dass sich der Wikinger die wichtigsten Kriegsgeschichten fürs Erste von der Seele geredet hat, aber je näher wir Kopenhagen kommen, desto mehr entspannt er sich, rutscht tiefer in den Sitz und lacht zwischendurch. Aus Kriegsgeschichten werden nordische Sagen, aus ukrainischer Musik wird färöische, es läuft Í Gøtu ein dag, Eivør singt, Bjørn singt auch: Es war einmal in Gøta / Etwas Seltsames geschah, noch nie zuvor gesehen / Ein Brüllen wie von einem Hagelsturm, bei wolkenlosem Himmel / Heulen wie von einem Wirbelsturm, doch kein Haar war bewegt / Und Klippen knirschten, wie vom Blitz getroffen. Eine mystische Trommel gibt den Takt vor, während draussen vor der Windschutzscheibe allmählich der Abend anbricht. Zwei Stunden später, es ist inzwischen fast 20 Uhr, steht der Wikinger in Uniform, die Ukraine-Flagge um die Schultern gewickelt wie ein Superman-Umhang, in einem Wohngebiet am Stadtrand von Kopenhagen. Die Häuser sind klein, aber gemütlich, die Gegend sieht aus, als sei sie früher eine Schrebergartenkolonie gewesen, jetzt wohnen hier Familien. Auch die von Salvør, der mittleren von Bjørns drei Schwestern. Er will sie überraschen – und hofft, dass sie sich freut. Bjørn schleicht ums Haus herum, eine Aufklärungsmission nennt er es scherzhaft, duckt sich unter den Fenstern entlang, späht vorsichtig hinein und läuft geradewegs Salvørs Mann Magnus in die Arme. Die Begrüssung der beiden Männer ist herzlich, die Schwester, nein, die sei noch unterwegs, müsste aber gleich heimkommen. Bjørn versteckt sich im Schuppen neben dem polternden Wäschetrockner, ich drücke mich hinter ihm an die Wand, wir warten darauf, auf Magnusʼ Zeichen herauszuspringen, sobald Salvør zurück ist. Bjørn hält still, angespannt und zugleich fröhlich wie ein Kind an Weihnachten. Eine Kinderstimme tobt durch den Garten, Bjørns Neffe, und dahinter eine plaudernde Frauenstimme. Bjørn springt aus dem Schuppen wie aus einer Geburtstagstorte, reisst die ukrainische Fahne hoch und singt Chervona Kalyna. Salvør ist hochschwanger, das wusste Bjørn zwar, aber den neuen Babybauch sieht er zum ersten Mal. Ich sehe jetzt ganz deutlich, was ich auf der Fahrt hierher schon geahnt habe: Bjørn liebt die Bühne, den grossen Auftritt. Vor Schreck lässt seine Schwester die Einkaufstüten fallen, wird stürmisch umarmt. Sie guckt hoch, schweigt kurz und sagt dann: «Du dummes Arschloch.» Die Spannung löst sich in Gelächter, Gottseidank.
Ja, ihr Bruder sei schnell gelangweilt, erzählt Salvør später. Bjørn brauche immer eine Beschäftigung, etwas, worauf er sich konzentrieren könne, eine Herausforderung. Er hasst Smalltalk, liebt Geschichten, vor allem wenn er sie selbst erzählen kann. Er hält ihr seinen Helm hin, oben ist er geflickt. Ein Schrapnell hat ihn da getroffen, knappe Kiste war es, ist gerade noch mal gut gegangen, nur das Loch ist eben noch da, abgeklebt mit Panzerband. Salvør nickt, Bjørn auch. Dann zeigt er ihr seine ukrainischen Orden, erzählt die Penis-Geschichte und jene aus dem Unterstand, als er dachte, er müsse jetzt sterben. Alle lachen, ein bisschen. Über Gefühle sprechen, das scheint grundsätzlich nicht so wirklich die Sache der Kallsoys zu sein, denke ich, Asperger hin oder her.
Wenn er auf den Färöern ankomme, werden die Leute entweder applaudieren oder ihn ausbuhen, sagt Bjørn am nächsten Morgen am Flughafen. Ein paar Putin-Unterstützer hatten ihn in den letzten Monaten auf Facebook beschimpft, ihn einen Idioten und Mörder genannt, der für die falsche Sache kämpfe. Salvør hat am Vorabend versucht, ihn darauf vorzubereiten, dass möglicherweise weder das eine noch das andere passieren würde. Dass es den meisten Leuten einfach nicht wichtig sein könnte, wo er die letzten Monate gewesen ist und was er getan hat. Aber entweder hört Bjørn nicht richtig zu, oder er hört das nicht gern. Schon das Einsteigen in den Flieger ist ein kleines Schaulaufen. Er kommt fast zu spät (absichtlich?), schiebt sich mit seiner grossen Statur in Uniform und Militärkappe durch den schmalen Mittelgang, schaut abwechselnd nach links und rechts, fast so, als suche er jemanden. Die allermeisten Mitreisenden gucken kurz hoch und dann wieder weg, sie wirken eher desinteressiert. Einen kennt er, den grüsst er freundlich und sagt etwas auf Färöisch, in dem das Wort Ukraine vorkommt. Der Mann erwidert etwas und lächelt unverbindlich. Bjørn schreibt ihm ein paar Minuten später über acht Sitzreihen hinweg per Messenger, er solle sein Ankommen bitte nicht ausplaudern. Denn Bjørn hat noch etwas Grosses vor heute: So wie die Schwester will er auch die Mutter überraschen. Bjørn ist sich nicht sicher, ob sie ihn umarmen oder ihm eine scheuern wird. Ein Scherz, denke ich. Und liege falsch.
Knapp zwei Stunden später ist Bjørn Kallsoy zurück auf den Färöern. Ah, die Luft, sagt er und dass ihn hier ganz sicher nichts und niemand töten wolle. Er wird diesen Satz in den nächsten Tagen noch öfter sagen, die Brust dabei immer etwas vor-, das Kinn etwas zurückstrecken und die Augen dabei leicht zusammenkneifen, wie ein lebendes Zitat aus einem Actionfilm. Das würde auch zu gut zu dem grossspurigen, bärtigen Mann passen. Aber von der Autofahrt weiss ich, dass er in Wirklichkeit auf romantische Komödien steht. Ich weiss, dass er mit einem Maschinengewehr mit Namen Iryna Russen erschossen hat (strenggenommen, sagt er, wisse er nicht, ob er je einen getroffen habe) und zu Hause gerne Musik von Cher, Phil Collins und David Hasselhoff hört. Ich weiss, dass er Witze über die umstrittene Grindwaljagd auf den Färöern macht («Save the whale – for dinner!»). Aber zwei Tage später wird er plötzlich aus dem Auto hechten, um ein von seiner Mutter verstossenes Lamm in seine Jacke zu wickeln und es vor dem Erfrieren zu retten. Wer ist Bjørn Kallsoy? Es fühlt sich an, als würde ich durch ein kaputtes Fernglas auf diesen Mann blicken: Egal wie viel ich auch am Rädchen drehe, das Bild wird einfach nicht scharf.
In seiner Militärkluft und mit dem schweren Frontgepäck fällt Bjørn hier am Flughafen auf. Er weiss das – und es gefällt ihm. Trotzdem scheint sich niemand wirklich für ihn zu interessieren. Er schaut sich immer wieder suchend um, plustert sich auf, aber weder jubelt jemand noch buht man ihn aus. Und weil ja keiner weiss, dass er kommt, ist auch keiner da, der ihn abholt. In der Schlange am Bus nach Tórshavn, der kaum 15 000 Menschen beherbergenden Hauptstadt des Inselstaates, spricht den Mann in Tarnfarben endlich jemand an. Eine junge Frau, sie kennt ihn von Facebook, ihr Bruder ist ein Bekannter von Bjørns Cousin Bjarti, fragt ihn, was das für eine Uniform ist, die er da trägt. Der Wikinger wird mit einem Mal sehr geschäftig, die Rede ist von Drohnen, und obwohl ich kein Färöisch verstehe, weiss ich genau, welche Geschichte er da gerade erzählt. Sie reisst die Augen kurz auf und nickt verständnisvoll, dann steigt sie in den Bus und setzt sich. Bjørn setzt sich woanders hin.
Die rund 54 000 Menschen, die hier leben, gehören nicht zur EU und nur indirekt zu Dänemark. Sie unterstehen zwar der dänischen Krone, sind aber ansonsten weitgehend unabhängig: ein eigenes Parlament, eigene Währung, eigene Sprache, eigene Sturköpfigkeit. Sie haben keine Wehrpflicht und keine Armee, Militäruniformen sieht man hier fast nie. Wer dienen möchte, muss zur dänischen Armee aufs Festland. Deshalb fällt Bjørn Kallsoy hier so auf, und das blau-gelbe Patch auf seinem Ärmel verrät, für wen er als Soldat gekämpft hat – und gegen wen. Die Färöer unterhalten seit fast 50 Jahren Fischereiabkommen mit Russland. Russische Trawler, unterwegs im Nordatlantik, waren gerngesehene Gäste, die dem Hafen von Tórshavn über die Jahre viel Umsatz brachten. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine sind die Beziehungen merklich abgekühlt, nur im Notfall dürfen russische Fangschiffe die Färöer-Inseln noch anlaufen. Seit Januar 2023 streiten die Parlamentarier allerdings darüber, ob die Handelsbeschränkungen wieder gelockert werden sollten: Während Russland stets für gutes Geld auf den Inseln gesorgt hat, legt die EU ihnen beim so wichtigen Fischhandel immer wieder Steine in den Weg. Im März war EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen zum ersten Mal auf den Inseln – auch um Flagge zu zeigen, sagt man sich hier.
Die Fahrt mit dem Bus nach Tórshavn dauert 25 Minuten. Am Fenster ziehen das Meer und die Berge vorbei, Schafe, welche die noch winterlichen Grashänge abfressen, und alle paar hundert Meter fällt Wasser aus den Felsen und verschwindet zwischen den Ritzen. Rote, weisse und schwarze Häuschen stehen am Ufer herum, meist dicht beieinander. In fast jedem Dorf, das wir passieren, behauptet eine trutzige Kirche ihren Platz. Kein einziger Baum. Das alles ist so besonders, dass es fast schon wieder gleichförmig aussieht, ein Dorf wie das andere, ein Berg wie der nächste, ein Wasserfall wie der vorherige. Es ist bewölkt und ausnahmsweise gerade nicht besonders windig. Wer auf den Färöern lebt, der schaut in der Wetter-App nicht nach Sonne oder Regen, sondern in erster Linie auf die Windstärke. Der Rest ändert sich sowieso alle paar Minuten. Nur der Wind bläst sonst fast immer über die Inseln, mal stark, mal noch stärker. Bjørn, der Wikinger, ist ungewöhnlich still während der Fahrt. Er tippt nur ein paar Nachrichten ins Handy und schaut ab und zu aus dem Fenster. Wie er sich gerade fühlt, will ich wissen. Happy, sagt er, aber ich weiss schon, dass er mit der Frage nach Gefühlen nicht viel anfangen kann.
In Tórshavn wartet dann immerhin doch jemand auf ihn: Ein schmaler, freundlich lächelnder Mann mit dem Gesicht eines Jungen und grauen Haaren kommt uns an der Bushaltestelle entgegen und winkt. Es ist Sjúrður Skaale, tagsüber Politiker und Abgeordneter der Sozialdemokraten im färöischen Parlament, abends Stand-up-Comedian. Er hat Bjørns Einsatz in der Ukraine verfolgt. Und vor ein paar Monaten sogar eine Konferenz mit dem ukrainischen Botschafter in Dänemark organsiert, um den Krieg wieder ins Bewusstsein zu rücken und vor den Russen als Handelspartner zu warnen. Björn war per Videocall zugeschaltet. Kaum haben sich die beiden die Hände gereicht, fängt der Wikinger an zu erzählen. Ich kann an den Gesten erkennen, dass es wieder um seine Verletzung geht. Er ist jetzt ein Kriegsveteran, und von denen gibt es noch ein paar andere auf den Färöern. Die meisten von ihnen waren in Afghanistan und im Irak im Einsatz, aber diese Einsätze sind kaum mit dem vergleichbar, was Bjørn in der Ukraine erlebt hat, das weiss Sjúrður, der im engen Austausch mit ihnen steht. Graben gegen Graben, Mann gegen Mann, veraltete und niemals ganz ausreichende Ausrüstung, kaum Flugzeuge, die den ukrainischen Bodentruppen den Weg freibomben könnten. Aber egal, wo und wie sie im Einsatz waren, fast alle, die zurückkehren, brauchen eine ganze Weile, bis sie wieder im Leben ankommen. Manche sind bis heute nicht wirklich zurück. Sjúrður Skaale ist ein Mann, der gerne lacht und fein beobachtet. Bjørn, der Wikinger, auf den hier sonst keiner gewartet hat, rührt ihn. Die beiden verabreden sich für übermorgen zum Mittagessen.
Bjørns Heimatdorf Eiði liegt ganz im Norden der Insel Esturoy, 45 Autominuten von Tórshavn entfernt. Der Weg von der Hauptstadt dorthin führt durch einen Tunnel unter dem Meer, vorbei am einzigen Unterwasser-Kreisverkehr der Welt. Der Künstler Tróndur Patursson hat ihn mit scherenschnittartigen Figuren, die sich an den Händen halten, gestaltet. Festbetoniert im Boden, führen sie dort jetzt für immer den traditionellen färöischen Kettentanz auf, den føroyskur dansur. In Eiði lebt Bjørns Mutter. Als wir vor ihrem Haus aussteigen, wirkt der Wikinger angespannt. Er steht rauchend auf der Strasse im Regen und fummelt an den drei Orden herum, die er von den ukrainischen Streitkräften für besondere Tapferkeit bekommen hat. Er trägt sie immer in einer kleinen Umhängetasche bei sich und zeigt sie gern herum, aber jetzt ist das erste Mal, dass er sie sich auch ansteckt. Dann wickelt er sich die ukrainische Fahne um die Schultern und stapft los, rein ins Haus, die schmale Treppe hoch ins Obergeschoss, zur Wohnung der Mutter. Draussen steht ihr Auto, sie muss also zu Hause sein, das ist gut, vielleicht. Bjørn öffnet vorsichtig die Tür, tritt leise ein und ruft dann laut und fröhlich ein «Hallo!» in die stille Wohnung.
Das Apartment ist frisch renoviert und sehr geschmackvoll eingerichtet: gedeckte Farben, viel Holz, nordische Gemütlichkeit. «Geh weg mit deiner Uniform», wirft Mutter Kallsoy Bjørn entgegen. Sie
ist stinksauer, ihre Augen verengt, die Lippen schmal. Sie würde ihrem Sohn jetzt am liebsten den Hintern versohlen, das merkt man. Es gibt zwei Arten von Müttern, man erkennt sie daran, wie sie reagieren, wenn das Kind im Kaufhaus verloren geht und dann wieder da ist: Die einen schimpfen es ordentlich aus, bevor sie es in den Arm nehmen, die anderen umarmen und küssen das Kind sofort. Es ist offensichtlich, zu welcher Art Mutter Svanhild Kallsoy gehört. Es ist auch offensichtlich, dass sie ihm nicht verziehen hat, dass er, ohne Bescheid zu sagen, in den Krieg gezogen ist, und es ihm übelnimmt, dass er jetzt einfach so wieder da ist, als wäre er nur eben mal kurz im Supermarkt gewesen. Von ihrer Schlaflosigkeit, von der Angst, dass ihr einziger Sohn vielleicht sterben könnte, erzählt sie nicht, jedenfalls nicht Bjørn. Bjørn sei schon als Kind anders gewesen, erfahre ich von Svanhild Kallsoy, er habe sich kaum für Spielsachen interessiert, am liebsten sei er draussen gewesen und habe mit Steinen und Stöcken gespielt. Bjørn hat einigen Ärger gemacht und wusste genau, dass es welchen gäbe, wenn es rauskam. War er vielleicht deshalb immer lieber bei den Grosseltern im Nachbardorf? Da hat er sich geliebt, angenommen, zu Hause gefühlt. Da gab es nicht so viel Wut – und keine Haue. Svanhild hatte mit den drei Töchtern und einem Trinker als Mann auch so genug um die Ohren. Nach der Schule heuerte Bjørn auf dem Schiff seines Vaters an, wurde Seemann und Fischer und wäre zweimal fast im Sturm ertrunken. In dieser Zeit starb sein Vater. Er war nicht traurig darüber. Wenn Bjørn an Land war, feierte und trank er, liess es krachen. Einmal ging er sogar ins Gefängnis, weil die Polizei ihn betrunken am Steuer erwischt hatte und er das Bussgeld nicht bezahlen wollte. Mit Ende 20 wurde er ungeplant Vater. Kurz: Der Junge hat immer schon Ärger gemacht. Aber freiwillig in den Krieg in der Ukraine zu ziehen, das war vielleicht doch eine Nummer zu gross. «Nein, kein gemeinsames Foto», sagt sie immer noch mürrisch, als ich fragend das Handy hebe. Ich darf dann zwar doch eins machen, aber Bjørns Gesicht wirkt darauf ähnlich versteinert wie das der Mutter. Obwohl er gewusst hatte, wie unwahrscheinlich es war, ein ganz kleiner Teil des Wikingers hatte doch gehofft, dass die Orden und sein Einsatz für ein überfallenes Land sie stolz machen würden. Er hatte doch endlich mal was Sinnvolles getan. Oder nicht?
Svanhild Kallsoy wirkt auf den ersten Blick wie das Land, in dem sie lebt: klein, rau, streng, nachtragend. Sie hat vermutlich viele Fehler gemacht, sagen andere über sie, wie die meisten Mütter. Aber wenn sie mit ihrer Familie zusammen ist, mit den Töchtern, den Enkelkindern, der Verwandtschaft, dann wird der schmale Mund, der sonst einen eher bitteren Zug trägt, ganz weich, dann lächelt sie und herzt und drückt. Von dieser Herzlichkeit ist an diesem Wiedersehensnachmittag in Eiði nichts zu sehen. Das Eis taut erst am Abend etwas auf, bei gebratenem Rindfleisch, Möhren und der allfreitäglichen Runde Bingo im Färöer Fernsehen.
Bjørn wird in den nächsten Tagen noch viele Besuche machen, Freunde und Verwandte wiedersehen. Die Türen auf den Färöern sind niemals abgeschlossen, man geht einfach rein und ruft oder klopft kurz. Manchmal wird er reingebeten auf einen Kaffee, manchmal bleibt er im Flur stehen. Er wird nicht müde, vom Krieg zu erzählen, von den Bomben, von den Schützengräben, von seinen verrückten Kameraden, von Männerfreundschaften, von Zusammenhalt, von einem Familiengefühl im Krieg. Dass diese knallharten Krieger aus verschiedensten Erdteilen ihm Herzchen per Messenger schicken, dass sie ihm Kraft und Ruhe und Gottes Segen wünschen, erzählt er meist nicht. Lieber von den Greueltaten der Russen, die auf Videos und Fotos unter den Soldaten kursieren – Bilder von verstümmelten Leichen, Massenvergewaltigungen und Familien, die auf der Flucht erschossen wurden –, und wie sie dort in der Ostukraine deshalb die Zivilisten schützen müssen. Er sei als besserer Mann zurückgekommen, höre ich später.
Die Menschen, in deren Fluren er steht, deren Kaffee er trinkt, denen er all das berichtet, freuen sich, dass er wieder da ist. Aber Fragen haben sie eigentlich nicht an ihn. Wissen wollen sie wenig, jubeln schon gar nicht. Ein bisschen pikiert wirken manche, ein bisschen peinlich berührt von seinen Geschichten. Der Krieg ist so weit weg für sie, und dass einer sich mit Geschichten darüber so hervortut, das finden sie schon ungewöhnlich. Geduldig hören sie ihm trotzdem zu, nicken leicht lächelnd: Hmhm, soso, du machst ja Sachen, Bjørn. Im Dorf Eiði steht auch Bjørns Haus. Er hat es schon in jungen Jahren gekauft, vom Erdgeschoss aus schaut man auf die Fischfabrik, vom Obergeschoss aufs Meer. Vor dem Krieg hatte er beschlossen, alles komplett umzubauen. Mitten im Umbau aber ging er fort, weshalb jetzt nur ein Zimmer bewohnbar sei. Bjørn hat kein Problem damit, in Unterhose vor mir zu stehen und panisch auf eine Zecke zu zeigen, die in seinem Bein steckt. Das Haus hingegen zeigt er mir nicht, als wäre es etwas unglaublich Intimes. Vielleicht ist es das auch: Es ist nicht fertig, nicht aufgeräumt, nicht präsentabel, und der Schlüssel klemmt. Er kriegt die Haustür nicht auf und muss die ersten Nächte im Haus der verstorbenen Grossmutter übernachten. Die Familie hat es nach ihrem Tod behalten, es ist gemütlich eingerichtet, Gäste und Angehörige können es jederzeit nutzen. Der toten Grossmutter hat er aus der Ukraine ein Bild vom heiligen Nikolaus, dem Schutzpatron der Seemänner, mitgebracht. Es steht jetzt neben dem Jesus am Kreuz auf der alten Küchenvitrine. Bjørn hat Gott schon lange abgeschworen.
Die Uniform zieht Bjørn am nächsten Tag noch ein letztes Mal an. Mit dem Auto, das er sich von seiner Mutter geliehen hat, fahren wir nach Tórshavn. Einen der grossen Rucksäcke und einen Kapuzenpulli in Tarnfarbe mit Stickereien in ukrainischem Blau-Gelb bringt er seinem Sohn mit. Das ganze letzte Jahr haben die beiden nur per Facebook miteinander gesprochen. Wenn man das Sprechen nennen will. Max ist jetzt 14, ihm fehlt seit der Geburt der halbe linke Unterarm, und vor etwas über einem Jahr haben die Ärzte auch bei ihm eine Kombination aus ADHS und Autismus diagnostiziert. Seit Beginn der Pubertät hält Max kaum noch Augenkontakt, zeigt so gut wie keine Mimik, kaum Gefühlsregungen, spricht wenig. Soziale Interaktion fällt ihm immer schwerer, in die Schule geht er selten, und wenn doch, dann kann er danach vor lauter Stress zwei Tage lang nicht schlafen. Früher ist Max ein richtig guter Schwimmer gewesen, trotz seiner fehlenden Hand, hat viele Medaillen gewonnen, die jetzt alle bei ihm über der Gardinenstange hängen. Sie sind der einzige Schmuck im Zimmer, in dem ansonsten nur eine Schlafcouch und ein grosser Computertisch stehen. Max zockt Minecraft, in der Welt aus Klötzchen und schemenhaften Figuren ohne Gesicht kommt er wunderbar zurecht.
Dass Bjørn in den Krieg gezogen ist, obwohl er zu Hause ein Kind hat, das ihn braucht, haben ihm hier viele übelgenommen. Auch Anja, Maxʼ Mutter, war zuerst sauer. Bjørn und sie hatten in den vergangenen Jahren ein schwieriges Verhältnis, haben sogar vor Gericht um das Umgangsrecht für den Jungen gestritten. Erst als Bjørn im Krieg war, hat sich ihr Verhältnis wieder entspannt. Er habe erkannt, dass es sich nicht lohnt, nachtragend zu sein, erklärt Bjørn mir grossmütig. Er zahle Unterhalt für Max und habe immer sichergestellt, dass sein Sohn weiss: Der Papa liebt ihn. Deshalb sei es egal, wo er gerade ist, in Eiði, auf See oder in der Ukraine. Und das sei doch mehr, als viele andere Väter über sich sagen können. Jetzt steht Bjørn vor der Tür und klingelt – hier in der Hauptstadt stehen die Türen nicht immer offen. Auch Max weiss noch nicht, dass Papa zurück ist. Ich frage mich kurz, ob ein Überraschungsbesuch bei einem autistischen Jungen eine gute Idee ist, aber da öffnet sich schon die Haustür. Max steht da, in Jogginghose und T-Shirt, blass, braune, kurze Haare und Harry-Potter-Brille. Bjørn lächelt, es ist das erste Mal, dass ich ihn so weich erlebe. «Der Papa ist zurück», sagt er auf Färöisch, geht auf Max zu und schliesst ihn ein bisschen unbeholfen in seine Arme. Guckt ihn an, streicht ihm übers Kinn, witzelt über den ersten leichten Flaum im Gesicht seines Jungen, umarmt ihn noch einmal. Und Max: lächelt. Auch Anja lächelt, sie beobachtet die beiden vom Flur aus, ihr Mann und Maxʼ Halbgeschwister schauen vom Türrahmen des Wohnzimmers aus zu. Bjørn ist heute zum ersten Mal reingekommen ins Haus, sonst hat er seinen Jungen immer an der Haustür abgeholt. Wir alle, Bjørn, Max, Anja, ihr Mann und die beiden kleinen Kinder sitzen am Küchentisch. Bjørn packt wieder eine seiner Frontgeschichten aus, und Max sortiert die drei Patches von Bjørns Uniform, die jetzt vor ihm auf dem Tisch liegen, schiebt sie hin und her, verändert fortwährend die Reihenfolge: Ukraine – Färöer – Wikinger, Färöer – Wikinger – Ukraine. Bjørn sitzt neben ihm, streichelt ihm beim Erzählen immer wieder über die Wange, drückt ihm von der Seite einen Kuss auf, was Max leicht lächelnd hinnimmt, obwohl es ihm offensichtlich ein bisschen peinlich ist. Anja sieht müde aus. Dass Björns Entschluss, in den Krieg zu ziehen, ganz spontan gewesen sein soll, nimmt sie ihm nicht ab, erzählt sie mir leise. Aber was sollte sie machen? Eine Viertelstunde später brechen wir auf. Bjørn glaubt, dass es für Max jetzt erstmal genug Aufregung war, und Anja stimmt nickend zu. Draussen wirkt Björn erleichtert. Das ist doch gut gelaufen, besser als bei seiner Mutter zum Glück.
Zurück im Haus der Grossmutter kocht sich Bjørn Kaffee, schmiert sich ein Nutella-Brot, und alle Anspannung scheint von ihm abzufallen. Er hat seine Rückkehr gerade offiziell auf Facebook verkündet. Der Post zeigt ein Foto, das Sjúrður Skaale bei seiner Ankunft geschossen hat: Bjørn in der Uniform der Internationalen Legion, Militärkappe, Frontgepäck, Grinsen im Gesicht, gelbe Netto-Tüte. Jetzt ist er endlich bereit, diese Uniform, die ihm zur zweiten Haut geworden ist, abzulegen. Eine halbe Stunde später sitzt er frisch geduscht wieder vor mir und sieht aus wie alle hier: blaue Jeans, schwarzes Langarm-Shirt. Er hält mir sein Handy hin, die ersten Likes und Kommentare sind da, viele Herzen, Smileys, kleine Grüsse. 356 Likes und 75 Kommentare werden es am Ende des Tages sein, so viel bekommt er sonst nie. «Schön, dass du zurück bist», schreiben seine Freunde und Follower. Bjørn ist zufrieden.
Fragil nennt Sjúrður ihn, als wir uns drei Tage nach Bjørns Rückkehr noch einmal treffen. Der Sinn dieses Treffens ist, glaube ich, weder dem Stand-up-Comedian noch mir wirklich klar. Aber Bjørn ist es wichtig. Wir sprechen über die Politik, die Färöer und ihr Verhältnis zu Russland. Und immer, wenn Bjørn rauchen ist oder gerade nicht hinhört, sprechen wir über ihn. Fragil ist ein Wort, das mir im Zusammenhang mit dem Wikinger in all den Tagen nicht in den Sinn gekommen ist. Aber es könnte stimmen. Und einiges zusammenfassen: das schwierige Kind, den aufmüpfigen Teenager, den fast ertrunkenen Fischer, den notorischen Single-oder-nicht-Single, den Autisten, den grossspurigen Kriegsgeschichtenerzähler, den Mann mit dem klemmenden Schloss im unfertigen Haus mit nur einem bewohnbaren Zimmer.
Was er ausser mir noch niemandem erzählt hat: In ein paar Monaten, spätestens Ende Oktober, wenn der heisse ukrainische Sommer vorbei ist, will Bjørn wieder zurück in den Krieg. Nicht mehr an die Front, in die Bunker und Schützengräben, auch um Maxʼ willen nicht, aber irgendwo helfen, wo er von Nutzen sein kann, im Hinterland andere Soldaten ausbilden zum Beispiel. Und auch seine Iryna will er wiedersehen. Das Maschinengewehr und die Frau.