Die kleine Frau S.
Eine Ostdeutsche fühlt sich fremd im Westen – wie vereint ist Deutschland 30 Jahre nach der Wende?
Dies ist eine kleine Geschichte über eine kleine Frau in einer grossen Stadt. Um zu verstehen, wie klein diese Geschichte ist, stellen wir uns am besten die Weltkugel vor, von ganz weit oben betrachtet. Dann zoomen wir langsam heran. Wir richten den Fokus auf Europa und zoomen noch näher heran. Wir sehen Deutschland. Der Fokus richtet sich auf den Süden. Da ist München, wir zoomen näher heran, noch näher, wir sehen die einzelnen Stadtbezirke, die Isar, wie sie sich von links unten nach rechts oben durch die Stadt schlängelt. Wir richten das Objektiv auf den Südwest-Rand der Stadt, Stadtteil Fürstenried, viele Hochhäuser, ein Wald. Wir können einzelne Strassen erkennen, Autos, klein wie Spielzeug. Wir zoomen weiter, sehen viele winzige Punkte durch die Strassen wuseln. Dann ein ruhiges Wohngebiet mit Neubaublöcken. Wir verengen den Bildausschnitt so sehr, dass wir eine einzelne Strasse sehen und in ihr einen einzelnen kleinen Punkt, der den Gehweg entlangläuft. Um den Punkt herum kreist ein noch kleinerer Punkt. Wir nähern uns bis auf wenige Meter. Nun erkennen wir, dass der grössere Punkt eine Frau ist, mit silbergrauem Pagenkopf, um die 60 Jahre alt. Der kleinere Punkt ist ein Hund, eine wuschelige Promenadenmischung, er hüpft mal hierhin, mal dorthin. Die Frau zieht eine dieser Einkaufstaschen für Rentner hinter sich her, einen Hackenporsche. Das ist die kleine Frau S. Sie ist die Heldin unserer Geschichte. Ein winziger Punkt auf einer riesigen Weltkugel.
Es ist Frühling 2015. Die Geräusche tauen langsam wieder auf: Vogelzwitschern, Kinderlachen, Geschrei. Die Welt um Frau S. wird wieder lauter, macht einfach so weiter. Ob das Frau S. nun gefällt oder nicht.
Frau S. läuft aus verschiedenen Gründen durch München. Erstens, weil sie gerne läuft, zweitens, weil sie sich schon mal an das Laufen gewöhnen will. Sie kann sich ihr Auto nicht mehr leisten und muss es bald verkaufen. Ausserdem lernt sie beim Laufen die Stadt kennen, in der sie nun seit ein paar Monaten wohnt. Heute wird Frau S. zwei Stunden laufen. Immer in Richtung Norden. Erst die Appenzeller Strasse entlang, dann die Forst-Kasten-Allee, danach durch den Fürstenrieder Wald, dann die Waldwiesenstrasse entlang, Silberdistelstrasse, Krokusstrasse, an Blumenau vorbei. Am Ende der zwei Stunden wird Frau S. in Pasing ankommen. Dort steht das Krankenhaus, in dem gerade ihr Mann stirbt.
Frau S. wurde 1952 in Erfurt geboren. Ihre Sprache ist noch immer ein wenig vom Thüringischen gefärbt, das so rund und weich klingt wie warme, dampfende Klösse. Frau S. kann zum Beispiel kein hartes «P» sprechen. Die Worte «Packpapier» und «Backpapier» stellen sie vor grosse Herausforderungen. Über die Jahre kam zu ihrer Sprache auch etwas Sächsisch hinzu, denn als Kind zog sie mit ihren Eltern nach Sachsen, weil der Vater dort Arbeit in einem Braunkohlewerk fand. Dass sie am Ende ihres Lebens noch einmal umziehen würde, und dann auch noch nach München, damit hat Frau S. nicht gerechnet. Dass sie eine weitere Ostdeutsche sein würde, die ihre Heimat verlässt. Eine von über drei Millionen, die seit der Wende in den Westen gegangen sind in einer regelrechten Völkerwanderung.
Frau S. ist zierlich, 1,68 Meter gross, ein ungeschminktes, gutmütiges Gesicht, Brille mit dünnem Goldrand. Sie läuft langsam, manchmal bleibt sie stehen, weil Amadeus, so heisst ihr Hund, an einem Schneeglöckchen schnuppern will. Sie gönnt es ihm. Seit ihr Mann im Sterben liegt, ist Amadeus sehr gestresst, manchmal dreht er plötzlich durch und bellt wie verrückt.
Frau S. hat heute das erste Mal seit zwei Wochen keine Eile. «Schlecht stabil» haben die Ärzte den Zustand ihres Mannes genannt. Auch Frau S. fühlt sich heute das erste Mal seit Wochen wieder schlecht stabil. Da der Frühling einfach so gekommen ist, ohne sich um den inneren Zustand von Frau S. oder den äusseren Zustand ihres Mannes zu kümmern, hat sich Frau S. entschieden, die Welt schön zu finden. Sie war schon immer pragmatisch.
Der Mann von Frau S. hat Alzheimer. Daran stirbt man nicht. «Das ist wie bei HIV», hat Frau S. dem Bruder ihres Mannes erklärt. «Du hast Alzheimer, aber sterben tust du an etwas anderem.» Herr S. zum Beispiel stirbt an einer Lungenentzündung. Demente Menschen vergessen oft das Schlucken und atmen Teile ihres Essens ein.
Vor einem Dreivierteljahr hat Frau S. ihren Mann aus einer ostdeutschen Kleinstadt in ein Pflegeheim nach München gebracht. Danach hat sie eine Wohnung in München gesucht, um in seiner Nähe zu sein. Von einer Ostrente Westmiete bezahlen – das ist keine besonders gute Idee. Warum hat sie das gemacht? In Ostdeutschland hat sie kein Pflegeheim gefunden, das eine geschlossene Abteilung hat, wie sie für ihren Mann gebraucht wird. Sein Verfall schreitet rasend voran. «Turbo-Alzheimer» nennt das die Tochter von Frau S. Der Verfall geht mit Bewegungsdrang und Zerstörungswut einher. Frau S. kann ihren Mann nicht mehr zu Hause pflegen.
Der Sohn von Frau S. lebt in München. Er ist schon vor einigen Jahren hergezogen, er kam der Arbeit wegen, wie so viele Ostdeutsche. Nun hat er Frau und Kind, ein schönes Leben und einen grossen Freundeskreis. Frau S. möchte ihren Enkel aufwachsen sehen. Was soll sie allein in einer ostdeutschen Kleinstadt hocken, mit einem kranken Mann?
Also hat Frau S. alles aufgegeben, die Heimat, die Freunde, die Wurzeln. Sie läuft durch die grosse fremde Stadt, als könnte jeder ihrer Schritte Wurzeln schlagen. Aber der Münchner Boden ist noch gefroren.
Frau S. wohnt in einem Plattenbau in einer Einzimmerwohnung. Sie sagt «Ein-Raum-Wohnung», aber so nennt man das im Westen nicht, haben ihr die Kinder erklärt. «Zimmer» klingt eleganter. Frau S. ist sehr froh, eine Wohnung gefunden zu haben. Keiner wollte sie: Rentnerin mit Hund. Sozialfall.
Das Haus von Frau S. hat neun Etagen und acht Wohnungen in jeder Etage. 72 Klingelschilder hängen an der Eingangstür, auf ihnen stehen Familiennamen wie Maurer, Weissbrot, Baumfrisch, Liebe und Krafft. Sie lesen sich wie der Text eines deutschen Volksliedes.
Im Haus von Frau S. leben vor allem alleinstehende Rentner. Es riecht hier immer nach Essen. Immer kocht gerade jemand Mittagessen, oder es gab gerade Mittagessen, oder jemand kocht das Abendessen vor. Im Haus von Frau S. gibt es viele Regeln. Blumenkästen müssen am Balkongeländer nach innen aufgehängt werden, damit der Blütenstaub die Nachbarn nicht belästigt. Kinderwagen und Rollatoren dürfen nicht in den Gängen stehen, obwohl die drei Meter breit sind. «Und ich dachte, die DDR war spiessig!», sagt Frau S., wenn sie ihren alten Freunden am Telefon darüber berichtet, und dann müssen sie lachen.
Darauf, dass die Regeln eingehalten werden, achtet der Hausmeister, Herr M. Er ist immer grummelig und grüsst nie. Im Aufzug hängt ein Schild, auf dem der Name des zuständigen Hausmeisters eingetragen wird. Dort hat jemand bei Hauswart «Arsch» und bei Vertretung «Loch» reingeritzt. «Der Hausmeister hat etwas gegen alleinstehende Frauen», sagt Frau S. «Das hat mir eine Nachbarin erzählt.» Im Haus von Frau S. gibt es viele alleinstehende Frauen. Die Männer sterben früher als die Frauen.
Im Haus von Frau S. liegen manche Nachbarn miteinander im Streit. Die Ungarin von gegenüber beispielsweise befindet sich im Kampf mit der Nachbarin zwei Türen weiter. Sie haben sich gegenseitig bei der Hausverwaltung angezeigt. Die Ungarin hat zu Frau S. gesagt: «Die Nachbarin, das ist eine ganz unmögliche Frau! Kein Wunder, die kommt aus der DDR.» Da hat Frau S. gesagt: «Aber ich komme doch auch aus der DDR.» Da hat die Ungarin gesagt: «Ja, aber Sie sind eine Ausnahme!»
Frau S. nimmt immer alle Pakete an. Dafür bringt der Postbote ihr manchmal eine Blume mit. Im Flur ihrer kleinen Wohnung stapeln sich die Pakete. So hat sie innerhalb kurzer Zeit viele ihrer Nachbarn kennengelernt. Bei ihr läuft fast immer das Radio. So ganz still – das mag sie nicht. Da fühlt sie sich allein, und ausserdem hört sie dann ihren Tinnitus. Neuerdings funktioniert bei ihrer kleinen Stereoanlage der rechte Lautsprecher nicht. «Der Kontakt ist kaputt, muss ich löten», sagt Frau S. In der DDR war sie «Facharbeiterin für Betriebs-, Mess-, Steuer- und Regeltechnik». Sie hat Zählwerke und Manometer repariert. Frau S. ist eine patente Frau, sie kennt sich auch im Internet aus. «Ich bin eine Touch-Handy-Oma», sagt sie. Das WLAN hat ihr aber der Sohn eingerichtet. Es heisst «Heeme», also «zu Hause». So wie es auch schon in der kleinen Stadt hiess, aus der sie kommt. Die Heimat ist mit ihr mitgereist, zumindest in Form des WLAN-Namens. Doch München ist noch kein Zuhause für Frau S. geworden.
Auch ihre Schrankwand ist mit ihr mitgereist, darin Porzellanväschen mit den Milchzähnen der Kinder, Modellautos ihres Mannes und kleine bunte Glastierchen. Im Wohnzimmer sieht es aus wie früher. Die Eckcouch steht da, wo sie in der kleinen Stadt stand, der Couchtisch auch, gegenüber der Schrankwand mit dem Fernseher. Die Weingläser stehen, wo sie immer standen, die Familienfotos auch. Eine fast perfekte Matrix. Wenn Frau S. auf dem Sofa sitzt, könnte sie denken, sie sei nicht in München. Alles ist da, aber irgendwie auch nicht. Es rieche auch anders in der Wohnung, sagt sie, aber sie kann nicht beschreiben, was genau der Unterschied ist.
Frau S. hat kein Ehebett mehr. Neben der Schrankwand steht ein Einzelbett, über das sie jeden Morgen eine Tagesdecke breitet. «Es ist sehr gross, einen Meter breit. Das reicht für mich», sagt Frau S. Amadeus darf hineinspringen und liegt nachts auf ihren Füssen.
Seit Frau S. ihren Mann ins Pflegeheim hier in München gebracht hat, rastet Amadeus regelmässig aus. Er kläfft beim kleinsten Anlass, zieht an der Leine wie ein Verrückter. Niemand kann ihn dann beruhigen. Frau S. war mit ihm bei einer Tierpsychologin. Die sagt, Amadeus denke, er müsse Frau S. beschützen, jetzt, da der Mann weg ist und sie immer so traurig und verloren sei. Die Tierpsychologin sagt, dass Amadeus strenger geführt werden und dass Frau S. mehr Souveränität ausstrahlen und Kontrolle übernehmen müsse.
Aber Frau S. hat leider rein gar nichts unter Kontrolle. Sie braucht ihre Kraft für andere Dinge. Die Tierpsychologin heisst Meissner. «Meissner – mit Eszett, wie das Meissner Porzellan?», fragt Frau S. «In Bayern sagt man ‹scharfes S› und nicht ‹Eszett›, sagt die Tierpsychologin. Frau S. schaut bedröppelt. Wieder einmal hat man sie als Migrantin entlarvt. «Sie sind wohl auch nicht von hier?», fragt da plötzlich die Tierpsychologin. Sie kommt aus Sachsen-Anhalt.
Wenn sich zwei Ossis im Westen treffen, ist da manchmal ganz plötzlich eine gewisse Verbundenheit, ob man das nun will oder nicht. Weil man dem anderen nicht so viel erklären muss.
Der Sohn von Frau S. lebt seit zehn Jahren in München. «In der Weihnachtszeit erkennt man die Ost-Wohnungen daran, dass sie die meiste Beleuchtung am Balkon haben», sagt er. Es gibt hier viele Balkons mit Ost-Beleuchtung. München ist voller ostdeutscher Gastarbeiter. Die U-Bahnfahrer sächseln, die Klempner berlinern, der Bäcker redet thüringisch.
«Was mir auffällt, ist, dass die Leute einander hier viel mehr direkt in die Augen sehen auf der Strasse», sagt Frau S. «Die sind viel selbstbewusster und senken nicht den Blick wie die Ostdeutschen.» Ausserdem rieche die Luft besser, und die Supermarkt-Milch schmecke frischer. Die Menschen sähen auch insgesamt sehr gesund aus hier in München, sagt Frau S.
Aber es passieren auch Dinge, die ihr nicht gefallen. Bei der ersten Untersuchung ihres Mannes im Pflegeheim war sie dabei. Ihr Mann musste sich aufrecht hinstellen, und dann rief der Arzt: «Jetzt mal Kopf hoch und geradeaus gucken!» Der Mann von Frau S. verstand ihn nicht sofort. Erstens, weil er Alzheimer hat, und zweitens, weil der Arzt bayerisch redete. Da rief der Arzt: «Was ist denn los mit Ihnen? Strammstehen mussten Sie doch früher im Osten auch!» Dann lachte der Arzt. Von Ostdeutschen wird im Westen Selbstironie verlangt, das muss Frau S. noch lernen.
Ihr eigener Arzt hat Frau S. Tabletten verschrieben, damit ihre Laune besser wird. «Aber die schluck’ ich nicht», sagt sie. Sie würde gern mal zu einer Kur fahren, um zur Ruhe zu kommen und gesünder zu werden. Aber das bewilligt die Rentenversicherung nicht. Kuren gibt es nur für Leute, die danach dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung stehen. Eine solche Investition in Frau S. wäre Geldverschwendung.
Also richtet Frau S. sich in der neuen Wohnung und in ihrem neuen Leben in der Altersarmut ein.
Die Miete frisst die Rente auf. Für das gleiche Geld würde sie in ihrer alten Heimatstadt eine Fünfzimmerwohnung bekommen. Bald ist es so weit, und sie muss ihr Auto verkaufen. Fährt sie eben mit Bus und Bahn zum Einkaufen. Ihre Bewegungsfreiheit wird immer weiter eingeschränkt. Frau S. muss auch sonst ziemlich viele Abstriche machen. Kinobesuche oder eine Theaterkarte sind ein Luxus, den sie sich schon lange nicht mehr leisten kann. Der Dank bleibt aus am Ende eines harten Lebens voller Arbeit. Frau S. habe eine «diskontinuierliche Erwerbsbiografie mit langen Phasen der Arbeitslosigkeit», heisst es in ihrer Akte vom Arbeitsamt.
Manchmal denkt sie an den Schrebergarten, den sie in der kleinen Stadt hatten. Die Kinder konnten immer draussen spielen, selbstgezogene Kartoffeln essen und im Sommerregen mit riesigen Rhabarberblättern als Regenschirmen durch die Pampe patschen. In dem Garten stand ein kleines Haus, das ihr Mann über Jahre hinweg nach der Arbeit gebaut hatte, eine hölzerne Brücke führte über einen kleinen Teich. Die ganze Familie sass an einem selbstgezimmerten Tisch unter wildem Wein. Der neue Pächter hat als Erstes die Ranken abgerissen.
Frau S. hält sich wacker: «schlecht stabil». Sie versucht, das Positive zu sehen. Andere haben noch viel weniger. Die sieht man zwar nicht unbedingt in München, aber es geht ja ums Prinzip. Frau S. sieht in München vor allem Menschen, denen es gut geht. Frauen in ihrem Alter, die an der Isar oder im Englischen Garten spazieren gehen, in Designerjeans und glänzenden Lederstiefeln, mit teuren Steppjacken und Filzhüten. Die glatten blondierten Haare zum Zopf gebunden, Goldschmuck oder Perlen, ein seidenes Halstüchlein in den Kragen gesteckt. Sie sehen alle aus, als würden sie gleich zur Fuchsjagd reiten.
Manchmal geht sie auch zur Maximilianstrasse, dann denkt sie sich jedes Mal, dass Geld allein auch nicht glücklich macht. Sie schaut sich die Menschen an, die mit ihren Einkaufstüten von Chanel und Versace über die Prachtstrasse flanieren. Manche sind ganz verwittert vom Geld, bis zur Unkenntlichkeit reich. Die Männer tragen riesige Sonnenbrillen und Daunenjacken, die aussehen, als seien sie mit Geldscheinen gestopft. Die Frauen halten behutsam strassbesetzte Telefone in ihren Händen wie Täubchen. Alle machen ständig Selfies, als müssten sie sich versichern, dass ihre Gesichter sich noch nicht aufgelöst haben. Frau S. staunt wie ein Kind über die Maximilianstrasse.
Aber sie hat nicht viel Zeit für Spaziergänge. Jeden Tag ist etwas zu tun. Arzttermine, Bürgeramt, Enkel hüten. Neuerdings geht sie nun jeden Tag ins Krankenhaus. Kaum Zeit, sich ihrem Innenleben zu widmen. Kaum Zeit, aufzuarbeiten, was vor und nach ihrem Umzug passiert ist.
Frau S. hat ihre Erinnerungen in eine innere Umzugskiste gepackt und vorläufig unters Bett geschoben. Sie will sie später eventuell hervorholen, wenn sie stark genug ist. Vielleicht wird sie es auch nie tun.
Könnte man in diese Kiste hineinschauen, würde man da folgende Bilder finden:
Frau S., wie sie zwei Drittel ihres Hausstandes wegschmeissen und verschenken muss. «Das sind nur Gegenstände», wiederholt ihre Tochter wie ein Mantra immer dann, wenn wieder die Tränen kommen. Frau S. versteht, dass die Tochter recht hat. Aber an ein paar wenigen Dingen hängt ihr Herz doch. Die hebt sie anfänglich noch auf. Aber Frau S. wird mit der Zeit immer radikaler. Je näher der Umzug rückt, desto weniger Platz bleibt für Sentimentalität. Irgendwann schmeisst sie nur noch weg. Am Ende schmeisst sie auch das meiste Geschirr weg bis auf eine Tasse, aus der sie noch am letzten Tag ihren Kaffee trinkt. Dann schmeisst sie auch diese Tasse weg.
Im Internet schaut Frau S. sich an, wo ihre neue Wohnung liegen wird. Die hat ihr Sohn ausgesucht. Sie selbst wird die Wohnung erst bei ihrem Einzug sehen.
Die letzten Abende in ihrem alten Zuhause sind eine Dauerparty. Montag kommen die Nachbarn von oben mit Bier, am Dienstag kommt die beste Freundin mit Wein, am Donnerstag die ehemaligen Arbeitskollegen mit Eierlikör. Schliesslich stehen noch Schwager und Schwägerin mit einer Flasche Rotkäppchensekt in der Tür.
Der Nachbar unkt: «Anfangs werden wir noch ab und an telefonieren, und dann geht das so langsam auseinander.»
Den Fernseher lässt Frau S. so lange in der leeren Wohnung laufen, bis er eingepackt werden muss. Sie nimmt die Lampen ab. Zappenduster ist es jetzt nachts, und jeder Schritt schallt auf dem Laminat. Frau S. leuchtet sich den Weg zur Toilette mit ihrem Handy.
Am letzten Abend liegt sie auf einer Luftmatratze im Wohnzimmer und trinkt Rotwein aus der letzten Tasse, die sie dann wegschmeissen wird.
Am nächsten Morgen schliesst sie die Wohnungstür ab und löst die Schlüssel vom Schlüsselbund.
Dann fährt sie ein letztes Mal durch die Stadt.
Sie meidet die Strasse, in der der Schrebergarten ist. «Das fühlt sich an wie Enteignung», sagt sie später zu ihrer Tochter. Sie fährt vorbei an der Parkbank, auf der sie von ihrem Mann an einem Tanzabend den ersten Kuss bekam, fährt an dem Haus vorbei, in dem sie die erste gemeinsame Wohnung hatten. Ob sich das Leben wohl in den Steinen abspeichert, über die man Tausende Male gelaufen ist, um die Kinder in den Kindergarten zu bringen, um einkaufen zu gehen oder zur Post?
Sie fährt an der Frauenklinik vorbei, in der sie ihre Kinder geboren hat, 1981 die Tochter, 1983 den Sohn. Der Sohn ist Chemiker geworden, die Tochter Journalistin. Frau S. hat einen Zehnte-Klasse-Schulabschluss. Nach der Wende war sie arbeitslos, hat Toiletten geputzt. Der Mann war LKW-Fahrer. Dass die Kinder von zwei Arbeitern studieren, ist nicht normal in Deutschland. Erst recht nicht, wenn man aus dem Ausland oder aus dem Osten kommt. Frau S. denkt daran, wie viel Kraft das die Familie gekostet hat.
Diese Bilder und Erinnerungen würde man sehen, wenn Frau S. einen in den inneren Umzugskarton blicken liesse, den sie unters Bett geschoben hat.
Aber dafür ist jetzt keine Zeit.
Sie kommt soeben im Krankenhaus an, in dem ihr Mann stirbt. Sie geht in sein Zimmer. Sein Gesicht sieht aus wie eine Totenmaske, geöffneter Mund, wallendes weisses Haar, geschlossene Augen. Im Hintergrund leise Krankenhausgeräusche, rhythmisches Surren, Piepen, Pumpen.
Sie zieht einen Stuhl an sein Bett und setzt sich neben ihn. Mit einem überdimensionalen Wattestäbchen wischt sie ihm den Schleim aus den Mundwinkeln. Das Fenster ist offen, die Sonne scheint. «Die Vögel draussen feiern schon Hochzeit», flüstert sie. «Hörst du? Die zwitschern wie verrückt!» Sie streichelt seine Hand, reibt seine wunde Haut mit Crème ein, versucht, ihn ein wenig zu bewegen, massiert seine Füsse.
Zweimal am Tag kommt eine Krankenschwester und saugt Schleim mit einer Art Mini-Staubsauger von seinen Atemwegen ab. Das ist extrem unangenehm für ihn und bereitet ihm Schmerzen. Aber es geht nicht anders, er ist zu schwach zum Husten. Die Krankenschwester kommt aus der Nähe von Dresden. «Da können sie sagen, was sie wollen», raunt sie Frau S. zu, «die Pfleger und Schwestern aus dem Osten sind viel herzlicher.»
Die Tochter von Frau S. wohnt als Einzige der Familie noch im Osten. Sie ist vor ein paar Tagen angereist. Der Sohn, die Tochter und Frau S. sitzen um das Krankenbett, sie weinen viel, manchmal lachen sie, wenn sie sich Geschichten von früher über den Vater erzählen. Einmal schluchzt der Sohn: «Vati sollte seine Rente im Garten verbringen und nicht hier sterben. Er soll nicht in fremder Erde liegen.»
Die drei reden mit einem Mann, der sich «Sterbebegleiter» nennt. Er sagt ihnen, dass dies eine Sterbesituation sei und sie lieber zu einem Bestattungsinstitut gehen sollten. Die Bestatterin nimmt sich viel Zeit und ist sehr freundlich. Mit ruhiger Stimme erklärt sie, dass selbst die billigste Bestattung, die sogenannte «Discountbestattung» oder «Hartz-IV-Bestattung» 5000 Euro kosten werde. Der Tod ist teuer in München. Frau S. hätte sich zum Sterben kaum eine teurere Stadt in Deutschland aussuchen können.
Sie fahren auf den Friedhof und schauen sich an, welche Beerdigungsplätze in ihrem Budget liegen. Das ist wie bei der Wohnungssuche: Man kommt mit bestimmten Erwartungen und macht dann immer mehr Abstriche. Frau S. ist es egal, ob jemand ihr Grab und das ihres Mannes jemals finden können wird. Es ist ihr egal, weil das hier nicht ihre Heimat ist. «Wir werden ja in fremder Erde liegen. Da wird niemand von den Nachbarn oder alten Bekannten vorbeigehen und sagen: Schau mal, dort ist das Grab von Herrn und Frau S. Wenn es nach mir geht, können wir auf der grünen Wiese bestattet werden.» Aber der Sohn besteht auf einen Platz mit Grabstein, den er später mit seinen Kindern besuchen kann. Die Tochter beschliesst, einen Eimer Lausitzer Erde nach München mitzubringen. Dann ist ihrem Vater die Erde vielleicht nicht ganz so fremd.
Aber Herr S. will noch nicht unter die Erde. Tage und Wochen vergehen. Die Tochter von Frau S. ist mittlerweile seit zwei Monaten in München. Sie reden viel über den Vater. Während sie an seinem Bett sitzen, erwischt sich Frau S. manchmal bei dem Gedanken: «Ich wünsche mir, dass es vorbei ist.» Dann fühlt sie sich schrecklich. Sie würde ihn gern wachküssen wie im Märchen. Aber sie kommt nicht zu ihm durch. Und überhaupt: Wohin würde er denn eigentlich aufwachen? Er würde in den Alzheimer hinein aufwachen.
Frau S. wacht jeden Tag in einer fremden Welt auf, die einfach keine Heimat werden will. Vielleicht kann die fremde Welt das auch nicht, solange Herr S. da ist. In 40 Jahren Ehe ist er ein Teil von Frau S. geworden. Ein Teil, der hier niemals heimisch werden wird, der ihr kein Gefährte im Neuen sein kann. Sie hat die Vergangenheit mitgenommen nach München. Herr S. ist ein Fremdling, bei ihm bleibt es Winter, da kommt kein Frühling mehr. Frau S. ist so weit, ihn gehen zu lassen.
Eines Tages öffnet Herr S. die Augen und flüstert: «Hunger.»
Ab da geht es mit ihm bergauf. Zuerst fahren sie ihn im Rollstuhl herum, dann lernt er wieder laufen. Sie füttern ihn mit Suppe aus einer Schnabeltasse, dann lernt er wieder, eine Gabel zu halten.
Irgendwann muss die Tochter zurück nach Berlin. Am letzten Tag gibt es Weisswurst mit Bautzner Senf. Frau S. und ihre Tochter beschliessen, dass das als Ost-West-Dialog durchgeht. Frau S. fragt sich, ob ihr sprachlicher Einfluss gut für den Enkel ist: «Ich sag Vesper, hier heisst es Brotzeit, ich sag Strassenbahn, hier heisst es Tram.» Die beiden kommen überein, dass er dann eben zweisprachig aufwächst.
«Wird das hier nun deine Heimat werden?», fragt die Tochter am Zug. «Heimatgefühl – ich glaube, das kommt nicht mehr», antwortet Frau S. «Ich fühle mich hier immer wie im Urlaub.» Sie blickt an der Tochter vorbei ins Leere. «Dann verbringe ich eben die letzten Jahre meines Lebens im Urlaub. Ist doch auch was Schönes.»
Die beiden weinen, als sie sich verabschieden. Ein Riss geht durch Deutschland, da, wo früher die Grenze war. Dieser Riss geht auch durch Familien. Kann man Menschen transplantieren wie Organe? Wachsen sie automatisch im fremden Gewebe wieder an?
Es wird Sommer. Der Mann von Frau S. kommt immer weiter zu Kräften. Auch Frau S. wird wieder kräftiger und gesünder. Zustand stabil.
Frau S. geht allein in den Park. Sie geht allein in den Biergarten. Sie geht allein ein Stück Kuchen essen.
Einmal geht sie ins Schwimmbad. Sie streift die Träger vom Badeanzug herunter, damit ihre Schultern braun werden. Ein älterer Herr kommt zu ihr und fragt: «Sie sind aus dem Osten, oder? Da hattet ihr doch FKK.»
Frau S. fährt für zehn Tage in den Urlaub zu Verwandten an die Ostsee. Irgendwann mitten im Urlaub stellt sie fest, dass sie zwei Tage lang nicht an ihren Mann gedacht hat. Bekommt ihr Herz etwa Alzheimer? Sie trägt ihr Haar jetzt sehr kurz, noch kürzer als sonst. Ist das eine Trennungsfrisur? Auch Amadeus trägt das Fell mittlerweile sehr kurz, damit er nicht so schwitzt. Beide sehen ganz anders aus als im Frühjahr.
Frau S. benutzt jetzt ab und an wieder Lippenstift und tuscht ein wenig die Wimpern. «Ich hatte plötzlich wieder Lust dazu», sagt sie zu der Therapeutin, zu der sie neuerdings geht. Und doch hängt an jedem Genuss, an jedem bisschen Freude, das sie sich gönnt, das schlechte Gewissen. Darf sie denn einfach so weiterleben, fröhlich und frei? Die Therapeutin sagt: «Frau S., das ist Ihr gutes Recht! Das da im Pflegeheim, das ist nicht mehr Ihr Mann, er ist jetzt jemand anders.» Frau S. entscheidet sich, nun doch die Tabletten zu nehmen, die ihr der Arzt für die bessere Laune verschrieben hat.
Sie geht trotzdem noch jeden Tag zu ihrem Mann ins Pflegeheim. Die Liebe hört auch in Zeiten des Alzheimers nicht auf. «Er fehlt mir so», sagt sie. «Wir waren immer intensiv zusammen.»
Im Sommer verkauft sie ihr Auto. Sie läuft viel. Immer weiter und weiter. Sie erläuft sich München. Abends schaut sie auf dem Stadtplan nach, wo sie überall war.
Eines Tages hat sie einen Zusammenprall mit einem bayerischen Grantler. Die Kinder hatten sie gewarnt, dass es hier sowas gibt. Er fährt sie fast mit dem Fahrrad um und brüllt: «Man müsste immer die Knarre dabeihaben!» Sie brüllt etwas zurück. Als er ihren Dialekt hört, ruft er: «Du Depperte … kommst wohl ausm Osten?»
Frau S. fühlt sich manchmal wie eine Migrantin. Eine Migrantin, der man es nicht ansieht, weil sie so weiss ist wie die anderen. Aber sie spricht ja nicht einmal die korrekte Sprache. Und wer genau hinschaut, kann erkennen, dass ihre Schuhe und ihre Kleidung viel zu billig sind, um nach München zu gehören.
Frau S. lebt in einer Parallelwelt. Sie schaut andere Fernsehprogramme (MDR), blättert durch andere Zeitschriften (Super Illu), hört andere Musik (Ostschlager). Wie es in New York ein Chinatown und Little Italy gibt, so scheinen in grossen Städten wie München auch Little Cottbus, Little Chemnitz, Little Hoyerswerda zu existieren. Das sind keine festen Orte. Es sind Freundeskreise, die sich finden, Paare, die sich binden, Menschen, die unter ihresgleichen bleiben. Die Gründe dafür liegen auf beiden Seiten des Risses.
Frau S. wurde in einem Land geboren, das es nicht mehr gibt. Andere Zugewanderte können im Urlaub in die alte Heimat fahren. Die DDR ist verschwunden. Nur die Landschaften stehen noch. Wenn Frau S. sagen würde, dass die DDR ihre Heimat gewesen sei und ihr manchmal fehle, dann würden viele sie als Jammerossi bezeichnen. Eine Ewiggestrige, die durch ihr Heimweh nach früher auch automatisch das Schlimme leugnet, das in diesem Früher mit drinsteckt. Also spricht sie so gut wie nie über ihre migrantischen Gefühle. Sie traut sich nicht. Sie sagt «alles gut», wenn sie gefragt wird, wie es ihr geht. Die Mutter von Frau S. wurde in Ostpreussen geboren und flüchtete nach Erfurt. Frau S. wurde in Erfurt geboren und ging nach München. Vielleicht besteht das Leben einfach aus gewollten und ungewollten Wanderungen.
Manchmal träumt Frau S. von früher. In ihren Träumen ist ihr Mann gesund, und sie sitzen im Garten. Wenn sie nach solchen Träumen aufwacht, weiss sie nicht, wo sie ist.
Sie läuft weiter durch München, Wochen, Monate. Eines Tages im Herbst läuft sie ihren üblichen Weg mit Amadeus. Da kommt ihr eine Frau entgegen, ebenfalls um die sechzig, dunkles Haar zum Pagenkopf geschnitten, freundliches Lächeln. Sie hat einen Hund dabei, der aussieht, als könnte er der Bruder von Amadeus sein. Die Hunde beschnüffeln einander und wedeln mit den Schwänzen. Die Frauen fangen an, sich zu unterhalten. Die Frau heisst Resi, eine waschechte Bayerin. Sie wohnt nur fünf Minuten von Frau S. entfernt. Die beiden verabreden sich, hin und wieder gemeinsam mit den Hunden spazieren zu gehen. Über die Zeit freunden sie sich an. Resi ist oft allein, ihr Mann muss beruflich viel reisen. Der andere Hund heisst Tico. Sie hat ihn aus einem Tierheim. Tico humpelt. Sein Rücken ist kaputt, das Leben war nicht gut zu ihm, bevor er zu Resi gekommen ist. Er hat Schmerzen, wenn er längere Strecken läuft. Frau S. und Resi probieren Schritt für Schritt, längere Strecken mit ihm zu gehen. Amadeus hüpft um Tico herum, als wolle er ihm helfen, wieder laufen zu lernen. Tico humpelt mit der Zeit etwas weniger. Aber man sieht ihm seine Verletzung noch an.
Resi sieht man ihre Verletzung nicht an. Erst als Frau S. mit zu ihr nach Hause kommt, erfährt sie, was passiert ist. In Resis Wohnzimmer stehen Fotos ihrer Tochter, ihrem einzigen Kind. Die Tochter ist vor 13 Jahren beim Segeln ertrunken, da war sie 20. Sie wäre jetzt so alt wie die Tochter von Frau S.
Resi glaubt nicht an Zufälle. Sie glaubt daran, dass Gleiches Gleiches anzieht. So werden aus einer Frau und einem Hund plötzlich zwei Frauen und zwei Hunde. Frau S., die ihren Mann verliert. Resi, die ihre Tochter verlor. Amadeus, der sein Herrchen vermisst. Tico, der mit zerschlagenen Knochen ins Hundeheim kam. Zwei aus dem Osten und zwei aus dem Westen. Jede und jeder mit seiner eigenen Verletzung. Jetzt laufen sie gemeinsam durch München. Eines Abends, als die vier ihre Gassi-Runde beendet haben, sagt Frau S. zu Amadeus: «Komm, es wird dunkel! Wir gehen nach Hause!»
Nach Hause.
Unsere Geschichte über die kleine Frau S. in der grossen Stadt München endet hier. Lassen wir die vier nun allein ihren Weg weitergehen. Wir zoomen langsam heraus aus dem Bild. Die zwei Frauen und die zwei Hunde werden zu vier kleinen Punkten. Wir sehen die Münchner Strassen sich entfernen, sehen hunderte, tausende winzige Punkte, jeder Punkt eine kleine Heldin, ein kleiner Held. Wir zoomen noch weiter heraus, sehen Deutschland, Europa, schliesslich die ganze Welt. Eine Welt voller humpelnder Heldinnen und Helden. Mit gebrochenen Herzen, angeknacksten Erinnerungen, verstauchten Gefühlen. Sie laufen trotzdem weiter.