Reportagen: In den westlichen Medien liest oder hört man nicht besonders viel von dem bewaffneten Konflikt in Jemen; manche Stimmen sprechen gar von einem «stillen Krieg». Warum ist das so?
Francesca Mannocchi: Es ist schwierig, überhaupt als Reporterin oder Reporter in Jemen reinzukommen. Die offizielle jemenitische Regierung sitzt im Süden des Landes, in Aden, aber die humanitäre Kata-strophe spielt sich vor allem im Norden ab, wo die Huthi-Rebellen sitzen – natürlich hat die Regierung kein grosses Interesse daran, Visa auszustellen, so dass man dann aus feindlichem Gebiet berichtet. Ein anderer Grund: Jemen ist – ähnlich wie der Irak, Syrien oder momentan Libyen – Schauplatz eines internationalen Stellvertreterkrieges geworden. Ausländische Kräfte dominieren den Konflikt. Europäische Länder vertreten verschiedene Interessen in der gesamten Region, es fehlt eine gemeinsame Position. Die Unübersichtlichkeit führt zu medialem Desinteresse.
Wie sehr spielt der innenpolitische Konflikt in Jemen eine Rolle in diesem Stellvertreterkrieg? Das Land war jahrelang in einen Süden und einen Norden geteilt, 1990 folgte die Wiedervereinigung, Jemen hat es aber nie geschafft, sich demokratisch zu stabilisieren.
Die Menschen im Norden des Landes haben sich jahrelang nach Vergeltung gegenüber der Führung im Süden gesehnt; ganz ähnlich war die Situation beispielsweise mit der Sunni-Gemeinschaft im Irak nach dem Ende des Regimes von Saddam Hussein oder nach dem Ende Ghadhafis 2011 in Libyen. Sie haben hier also eine Bevölkerungsgruppe, in der seit Jahren der Wunsch nach Vergeltung schwelte, die von der zentralen Regierung stigmatisiert wurde. Nach einem innerpolitischen Bürgerkrieg fühlte diese Bevölkerungsgruppe ein Vakuum – welches die Huthi-Rebellen im Norden gefüllt haben, nachdem es 2011 auch in Jemen den Versuch gegeben hatte, auf die Protestwelle des Arabischen Frühlings aufzuspringen und das Land zu demokratisieren. Die Menschen wollten die damalige Regierung nicht mehr, die schon zu dieser Zeit unter saudischem Einfluss stand. Im Norden des Landes leben zudem 75 bis 80 Prozent der Gesamtbevölkerung Jemens, was es für die Huthi-Rebellen einfacher gemacht hat, die Menschen zu mobilisieren.
Aber auch schon vor Kriegsbeginn 2015 ging es den Menschen nicht besonders gut, oder?
Nein. Jemen ist das ärmste Land in der Golfregion.
Warum sind die Saudi so sehr involviert? Gerade wenn man bedenkt, dass der Konflikt noch immer anhält und für den saudischen Kronprinzen mittlerweile eher zu einer nervenden Angelegenheit als zu einer Demonstration seiner Macht geworden ist.
Wenn man sich eine Karte der Region anschaut, kann man sehen, dass Jemen strategisch sehr günstig liegt: Es gibt den grossen Hafen Aden im Süden und Hodeida im Norden. Über diese Häfen wird auch der Handel mit Öl, Gas und Benzin abgewickelt. Anders gesagt: Wer Jemen regiert oder starken Einfluss auf das Land hat, hat auch Macht über diese in wirtschaftlicher Hinsicht strategisch wichtigen Orte.
Also geht es letztlich mehr ums grosse Geld als um die Frage, wer die religiös-politische Vormachtstellung im Land und in der Region hat?
Es geht um beides. Es ist sehr einfach, ein armes Land zu kontrollieren. Viele Menschen im Norden, die in der Grenzregion zu Saudi-arabien leben, arbeiteten für die Saudi, was sie jetzt nicht mehr können. Das wiederum führte zu einer riesigen Welle der Arbeits-losigkeit – und damit zu noch mehr Frust. Gleichzeitig gibt es diese grosse religiös–politische Konfliktlinie in der Region: Sunniten versus Schiiten. Iran versucht, seinen schiitischen Islam auf den gesamten mittelarabischen Raum auszuweiten – auf der anderen Seite steht der ultraorthodoxe sunnitische Islam der Saudi.
In den vergangenen Wochen kamen noch die jüngsten Entwicklungen im Konflikt der USA mit Iran hinzu; wie wird sich die Tötung des iranischen Generals Soleimani auf Jemen auswirken?
Ich denke, das ist wirklich Teil eines Worst–Case-Szenarios. Iran ist nach der Tötung Soleimanis in einer Position, in der das Land einfach Vergeltung üben muss. Weil die Kränkung, hervorgerufen durch diesen Angriff, schlicht zu gross ist. Ich gehe davon aus, dass es nicht einen einzigen Vergeltungsschlag, sondern eine Serie mehrerer militärischer Attacken geben wird. Es könnte passieren, dass Iran eine Aktion gegen die USA über die Huthi in Jemen durchführt.
Sie kennen sich sehr gut aus in der Region, weil Sie als Kriegsreporterin nicht nur in Jemen unterwegs waren, sondern auch schon in Libyen, Afghanistan oder im Irak beispielsweise – was zieht Sie immer wieder in den Krieg? Warum tun Sie sich das an, als Journalistin, als Mutter?
Ich verstehe viele Dinge nicht. Aber ich will diese Dinge verstehen, mit meinen eigenen Augen sehen. Das ist wohl mein stärkster Antrieb. Was mich all die Jahre der Kriegsberichterstattung gelehrt haben: Ich muss nicht nach Antworten suchen, sondern die richtigen Fragen stellen. Ich für mich als Mensch und Mutter fühle die Verantwortung, etwas zu verändern, in eine positive Richtung. Und mein einziges Instrument als Journalistin besteht darin, Kriege zu humanisieren. Krieg ist immer auch eine Erzählung über das Leben ganz gewöhnlicher Menschen. Aber das bedeutet für mich nicht nur, die Geschichte Einzelner zu erzählen. Sondern diese auch in den grösseren Kontext einzubetten. Mein Sohn ist erst dreieinhalb Jahre alt. Aber eines Tages, wenn er alt genug ist, um zu verstehen, will ich ihm erklären können, dass wir in Europa allein durch Zufall hier geboren wurden – so wie die Kinder des Krieges ebenfalls allein aus Zufall dort geboren wurden.
Ist es in der heutigen Zeit schwieriger geworden, als Kriegsreporterin zu arbeiten? Stichwort Fake News, Propaganda via Social Media.
Ich denke, die erste Pflicht für uns als Kriegsreporter besteht darin, den Lesern mitzuteilen, unter welchen Bedingungen wir arbeiten und von welcher Seite wir unsere Informationen beziehen. Diese Art der Transparenz ist in Zeiten von Fake News absolut essenziell. Es ist schwieriger geworden für Kriegsreporter, aber auch für Fachleute, Informationen, die wir erhalten, auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: 2018 stoppte das World Food Programme eine Zeitlang seine Essenslieferungen an die bedürftige jemenitische Bevölkerung, weil die Huthi-Rebellen sich den Zugang zu den Nahrungsmitteln verschafft hatten und nur jenen Teil der Bevölkerung damit versorgten, der die Rebellen unterstützte. Alle anderen liessen sie hungern. Nun stellen Sie sich das vor: Eine Uno-Organisation, die dafür zuständig ist, die Hungernden mit Nahrungsmitteln zu versorgen, war gezwungen, genau damit aufzuhören! An diesem Beispiel kann man gut die Komplexität der Situation erkennen, der Journalisten und Uno-Mitarbeiter in Jemen ausgesetzt sind.
In Ihrem Text schreiben Sie, dass Sie auf Einladung der Huthi nach Jemen reisten – warum haben Sie das gemacht? Ein Kritiker könnte immer sagen, Sie hätten Ihre Objektivität schon an diesem Punkt an den Nagel gehängt.
Mein Dilemma als Journalistin startete tatsächlich schon an diesem Punkt. Weil da schon klar war, ich würde nicht neutral berichten können. Aber ich wollte mir selbst ein Bild machen. Mir war schon klar, dass ich auch durch einen Besuch vor Ort nicht alle Informationen bekommen würde, aus denen sich dieser Krieg zusammensetzt, aber ich würde in der Lage sein, meine Zweifel zu formulieren und zu äussern. Meine eigene Schlagzeile lautete nicht: Die Menschen verhungern. Sondern: Ich bin Teil der Propaganda. Meine Frage war: Bin ich Teil des Hungers? Weil die Huthi mich eingeladen hatten und mir den Hunger der Menschen als ihre Legitimation quasi zeigen mussten.
Wie hat sich das für Sie angefühlt?
Das erste Mal kehrte ich aus einem Krieg mit einem Gefühl der Schuld zurück. Das erste Dilemma nach meiner Rückkehr bestand in der Darstellung des Hungers: Auf der einen Seite haben die Leser ein Recht, davon zu erfahren, und ich die Pflicht, darüber zu berichten – gleichzeitig stellte ich mir die Frage: Wenn ich den Hunger abbilden würde, würde ich dann nicht das Spiel der Huthi mitspielen?
Was ja schon zur nächsten Frage führt: Gibt es in der Kriegsberichterstattung überhaupt so etwas wie Objektivität?
Nein, jeder nimmt eine Position ein. Aber meiner Meinung nach besteht meine Pflicht nicht darin, neutral zu sein – sondern ehrlich. Und das bedeutet für mich, transparent zu sein. Wir leben heute in sehr komplexen Zusammenhängen, daran muss auch der Journalismus sich anpassen.
Wenn es keine Objektivität gibt im Krieg, gibt es dann so etwas wie Wahrheit?
Ich denke, die Wahrheit ist immer sach-bezogen, orientiert sich an dem, was ich sehe. Was ich in Jemen gesehen habe, sind diese hungernden Menschen. Was ich getan habe, ist, zu fragen, wer das verantwortet. Und was ich bekomme habe, sind zwei entgegengesetzte Antworten von zwei verschiedenen Seiten. Das ist meine Vorstellung von Wahrheit.