Keine Geschichte #14
Christian Schmidt über eine Inselgruppe, die Spielball internationaler Politik ist.
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber sie stirbt. Im aktuellen Fall am 17. Oktober 2013 um 16.34.
Meine letzte Aktion war ein Schreiben an die Schiffsagentur Amsco. Ich würde gerne eine Jacht chartern, mit Crew. Für einen Trip von den Malediven zum Chagos-Archipel, also in die Mitte des Indischen Ozeans. Drei Tage gab ich Amsco, um zu reagieren. Doch da kam nichts, nicht einmal eine Eingangsbestätigung.
Das war’s. Ich hatte genug. Die Idee mit der Jacht hatte ich vom Reiseschriftsteller Simon Winchester kopiert, der 1985 ebenfalls keine andere Möglichkeit mehr gesehen hatte, zum Chagos-Archipel zu gelangen. Er war dann für einige Tage im Gefängnis auf der Hauptinsel Diego Garcia gelandet. Schreibende waren bereits damals nicht besonders gerne gesehen in dieser Weltgegend.
Die Recherche über Chagos hatte vor dreizehn Jahren begonnen. «Lieber Hans, ich hätte eine Geschichte für Dich», teilte ich am 27. November 2000 meinem Ansprechpartner beim «Tages-Anzeiger» mit. Und meinte damit jene seltsamen Ereignisse, die der «Guardian» wenige Tage zuvor nachgezeichnet hatte: Mitten im Indischen Ozean besitzt die englische Krone eine Ansammlung von 55 Inseln, bezeichnet als Chagos-Archipel oder British Indian Ocean Territory. Die Inseln waren über lange Jahre Heimat ehemaliger Sklaven, zudem lebten hier die Nachfahren von Leprakranken, die von der Krone abgeschoben worden waren, insgesamt zweitausend Menschen. Chagos war ein Paradies, zumindest aus westlicher Sicht. Es gab nichts ausser ein paar Hütten im Schatten von Kokospalmen, davor weisse Strände.
Doch gebeutelt von den Nachwehen des Kalten Krieges, begannen die USA Mitte der sechziger Jahre einen geostrategisch gut gelegenen Stützpunkt im asiatischen Raum für ihre Navy und Air Force zu suchen. Die Wahl fiel auf die Hauptinsel des Archipels, Diego Garcia. Grossbritannien erklärte sich bereit, die Insel für 50 Jahre an den Allianzpartner zu verpachten. Allerdings störte sich Amerika an den Ureinwohnern und bestand darauf, dass der gesamte Archipel menschenleer sein müsse.
Am 27. April 1973 waren die Inseln «swept clean», wie sich England gegenüber der Grossmacht ausdrückte. Die Bewohner wurden nach Mauritius zwangsdeportiert und ihrem Schicksal überlassen. Das Schicksal hiess Alkohol und Prostitution.
Doch nicht alle ergaben sich der Verzweiflung. Eine kleine Gruppe probte den Widerstand und klagte mithilfe von Menschenrechtsorganisationen gegen die Verbannung. Mit Erfolg. Ende 2000 entschied ein britisches Gericht, dass die Chagossianer auf ihre Inseln zurückkehren dürfen.
Diese Rückkehr wollte ich begleiten. Die Ingredienzen versprachen eine Supergeschichte: Ehemalige Sklaven und Leprakranke zwingen England und Amerika in die Knie! Also flog ich nach Mauritius, um vor Ort die richtigen Kontakte zu knüpfen. Ich wollte alles vorbereiten, um eines Tages zusammen mit den Chagossianern zurück in ihre Heimat zu reisen.
Ich blieb zwei Wochen auf Mauritius, interviewte Deportierte und deren Anwälte, spielte mit Slumkindern Eile mit Weile – mit Kartonschnipseln als Würfel –, dann kehrte ich zurück. Und wartete auf den entscheidenden Anruf aus Mauritius.
Drei Jahre später wartete ich immer noch. Inzwischen waren die Türme des World Trade Centers kollabiert und die Angst vor Terrorismus ins Unermessliche gestiegen. Bomber mit Ziel Irak und Afghanistan hoben auf Diego Garcia ab. Der Archipel war zu einem Hotspot des amerikanischen Hegemonieanspruchs geworden, und die USA wollten sich dabei von niemandem auf die Finger schauen lassen, nicht einmal von halbnackten Fischern und deren Familien. Mit der Konsequenz, dass das Rückkehrrecht der Chagossianer widerrufen wurde.
Aber die ehemaligen Inselbewohner gaben nicht auf. Sie zogen erneut vor Gericht und erreichten, dass sie 2006 zumindest für einige Tage auf ihre Inseln zurückkehren durften.
Dank guten Kontakten erfuhr ich frühzeitig von den Plänen. Und setzte alle Hebel in Bewegung: Ich wollte unbedingt mit. Ich wollte sehen, wie die Chagossianer nach vierzig Jahren zum ersten Mal wieder ihr verlorenes Paradies betreten. Ein zweifellos bewegender Moment.
Doch aus London kam ein entschiedenes «No». Man sah im Chagos-Archipel, das mit Atomwaffen und Lauschanlagen vollgepackt war, keine Destination für Medien.
Wieder nichts. Und aus dem Nichts wurde noch weniger, als die Chagossianer in der Folge sämtliche juristischen Grabenkämpfe verloren. Sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied gegen die Deportierten. Man sei nicht zuständig für Ereignisse in des British Indian Ocean Territory – obwohl die Inseln zu England gehören und England unter die Jurisdiktion dieses Gerichts fällt.
2010 tauchte der nächste Hoffnungsschimmer auf. Die Adlaten der Queen hatten eine auf den ersten Blick überzeugende Idee geboren: Sie beabsichtigten, den gesamten Archipel zum Meerespark zu erklären, und zwar zum grössten weltweit. Das hiess, Forscher mussten die Voraussetzungen dafür abklären, natürlich vor Ort. Und ich mit ihnen! Schon bald stand ich in Kontakt mit dem Leiter. Es sah gut aus. Insbesondere gefiel mir, dass die Wissenschafter die Erlaubnis erhielten, mit einer Maschine der US Air Force auf dem Stützpunkt Diego Garcia zu landen, also dort, wo ich ebenso sehr hin wollte wie auf die verlassenen Inseln. Von Diego Garcia aus, das war der Plan, würde ich zusammen mit den Fachleuten an Bord eines Patrouillenschiffes zwischen den Inseln kreuzen.
Um es kurz zu machen: Auch dieser Versuch scheiterte. «Dear Mr. Schmidt. Thank you for your further email», antwortete die Verwalterin des British Indian Ocean Territory auf mein Drängen. «I am afraid we cannot agree to your inclusion on a scientific research visit.»
Das war der zweitletzte Versuch gewesen. Der letzte folgte am 14. Oktober 2013 mit der E-Mail an die Schiffsagentur Amsco. Den Anstoss, um das Thema nochmals aufzugreifen, hatte ich durch Wikileaks erhalten. In den Files fand sich eine Depesche des britischen Foreign Office, die den wahren Beweggrund hinter der Idee des Marine Heritage aufdeckte. Primäres Ziel war es nicht, die Wasserwelt des Chagos-Archipels zu schützen. Vielmehr liess sich in die Schutzklauseln ein absolutes Fischereiverbot für die Region integrieren, gleichbedeutend mit dem definitiven Ende weiterer Rückkehrversuche der Chagossianer: Sie sind Fischer. Das Meer ist ihre Hauptnahrung.
Das passte bestens in die Art und Weise, wie England und die USA mit den Ureinwohnern seit bald fünfzig Jahren umspringen. Die Insulaner sind einer der vielen Kollateralschäden der Weltpolitik, zudem sind sie auch noch Opfer eines geschickten PR-Schachzugs geworden. Indem England den Meerespark lancierte, gelang es, militärische Absichten hinter dem publikumswirksamen Ziel des Umweltschutzes zu verstecken und damit in der Öffentlichkeit weit mehr Goodwill zu erzielen, als es den Chagossianern je gelingen würde.
Für mich war Chagos damit aber mehr Thema denn je; ich musste dorthin. Also erinnerte ich mich an Simon Winchester und seine Bootsreise. Winchester war 1985 im Schutz der Dunkelheit in die Lagune von Diego Garcia eingedrungen, hatte zwischen Kriegsschiffen angelegt und den Hafen als «Port of Refuge» deklariert – als Notanlaufstelle, wie es das Recht jedes Seefahrers ist. Das Ziel war erreicht. Dass er im Gefängnis landete, nahm er in Kauf.
Mit der Absicht, Winchester nachzuahmen, bedachte ich jedoch zu wenig, dass die Welt sich seit 1985 dramatisch verändert hat. Wer heute in die Sperrzone rund um Diego Garcia eindringt, landet nicht mehr in einem einigermassen erträglichen Inselgefängnis, sondern setzt sich automatisch dem Verdacht aus, ein potenzieller Attentäter zu sein – und läuft damit Gefahr, in einer Art lokalem Guantánamo zu landen. Verschiedene Quellen lassen vermuten, dass die USA im Umfeld von Diego Garcia sogenannte Black Sites unterhalten: geheime Gefängnisse für tatsächliche oder angebliche Terroristen.
Mit einem solchen Risiko spielt man nicht, auch wenn es für einen reformierten Journalisten mit Schweizer Pass kleiner sein mag als für andere. Ich war zu naiv gewesen, die Gefahr zu erahnen. Die Leute von Amsco jedoch hatten erkannt, wie der Trip nach Chagos schlimmstenfalls hätte ausgehen können. Die ausbleibende Antwort war die bestmögliche Antwort.