Keine Geschichte

Das Beispiel Boyan Slat und sein Projekt zur Reinigung der Ozeane zeigt, dass große Geschichten nicht immer halten was sie versprechen.

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Als ich zum ersten Mal von Boyan Slat höre, gibt er gerade einen TEDx-Talk. Er ist 18, seine Stimme bricht ab und zu, Wuschelhaar und Hundeaugen bestätigen das Kind in ihm. Doch dieser Grünschnabel verspricht, ein Problem zu lösen, an das sich bis anhin niemand gewagt hat. Diese Geschichte will ich.

In den Niederlanden geboren und Student der Raumfahrttechnik, geht Boyan Slat in den Ferien tauchen. Anstatt inmitten von Fischen schwimmt er inmitten von Plastik. Worauf er sich die Frage stellt: «Warum können wir das nicht aufräumen?» Und beginnt mit teenagerhaftem Elan, nach einer Lösung zu suchen. Im Visier hat er nicht die Strände seiner Ferieninsel. Slat, selbstsicher, will gleich mit dem Great Pacific Garbage Patch beginnen, einem Feld aus Plastikmüll zwischen Kalifornien und Hawaii, dreimal so gross wie Frankreich.

Slat macht sich an die Arbeit. Er denkt über schwimmende Müllsauger nach, merkt aber, dass er eine ganze Flotte benötigen würde, was zu teuer ist und zu viele Abgase produziert.

Er denkt weiter und entwickelt ein System aus Rechen. Mehrere hundert Meter lang und U-förmig gebogen, sollen sie frei im Meer treiben und das Plastik mithilfe der natürlichen Strömung sammeln, ohne Zufuhr von Energie, ohne Umweltbelastung. Sind die Rechen voll, braucht man sie nur noch zu leeren, den Müll an Land zu bringen und zu rezyklieren. Genial. 2012 sind Slat und sein Konzept so bekannt, dass er zu jenem TEDx-Talk eingeladen wird.

Der Talk geht viral. Durch das Video kommt genug Geld zusammen, um ein Team von 65 Leuten zu engagieren, einen Hochseeschlepper und ein grosses Transportflugzeug mit «The Ocean Cleanup» zu beschriften, Prototypen zu bauen und Prognosen abzugeben. Alle fünf Jahre, erklärt Slat, werde er den auf 80 000 Tonnen geschätzten Garbage Patch um 50 Prozent reduzieren. Wow!

Als Slat für den September 2018 den ersten Test im Pazifik ankündigt, melde ich mich. Begeistert von Idee und Engagement, will ich live sehen, wie zum ersten Mal ein Meer in grossem Massstab gesäubert wird. Slat und ich würden tagelang an der Reling stehen und nichts tun, ausser fasziniert den Rechen zuzuschauen; gleichzeitig würde

der Jüngling mir Bewegendes ins Mikrofon diktieren. Tolle Story.

Slats PR-Leute sehen das anders. Ein paar hundert weitere Medienmenschen wollen dasselbe, unter ihnen grosse TV-Stationen und das National Geographic, wie man nebenbei einfliessen lässt. Ich könne für einen Tag nach San Francisco kommen und zuschauen. Vom Land aus.

Das ist mir zu wenig. Und damit ist die Geschichte gestorben. Sogar mehr als das. Ich beginne mir Boyan und sein Projekt genauer anzuschauen – etwas, das ich in der allgemeinen Begeisterung vergessen habe.

Tatsächlich finde ich gewichtige Kritik. Die Rechen würden in Wind und Wogen auseinanderbrechen. Der Müll werde sie verstopfen. Es bestehe die Gefahr, dass Meeresschildkröten hineingeraten und sterben würden, ebenso die direkt unter der Oberfläche lebenden Organismen, das sogenannte Neuston. Zudem werde alles Plastik in mehr als drei Metern Tiefe nicht erfasst; dort treibe die Mehrheit. Und der gewichtigste Vorwurf: Mit seiner zu wenig durchdachten, super finanzierten Idee nehme Slat anderen Projekten den Wind aus den Segeln – obwohl diese weit besser und umweltkompatibler seien.

Nun sehe ich das Wunderkind mit anderen Augen.

Und die Kritiker haben recht. Drei Monate nach Beginn des Tests ist klar, dass der Rechen nicht funktioniert. Der Plastikmüll verfängt sich zwar darin, aber die Wogen tragen die Flaschen, Flip-Flops, Kanister und Netze wieder darüber hinaus. Reinigungseffekt: null. Kurz nach Weihnachten 2018 kommt es zum endgültigen Aus für den Prototyp. Er zerbricht in zwei Teile. Slat muss zurück auf Feld 1.

Im Sommer 2019 lanciert Slat einen weiteren Testlauf, diesmal ohne grosses Trara. Der neue Prototyp funktioniert zwar, und Videos zeigen, wie erste Big Bags mit Plastikmüll aus dem Meer gezogen werden, jedoch ist die Ernte winzig. Die Kamera zoomt auf die Waage: Gut 20 Kilo enthält ein Bag. Ich beginne zu rechnen. Auch beim geplanten Vollausbau des Systems wird Slat jährlich so kaum 2000 Tonnen aus dem Wasser ziehen. Eine quasi homöopathische Dosis. Mit anderen Worten: Damit der Garbage Patch um die erwähnten 50 Prozent kleiner wird, braucht Slat nicht, wie behauptet, fünf Jahre, sondern viermal mehr. Das ist entschieden zu lange. Das Müllfeld im Pazifik ist nur eines von vielen, und jedes Jahr spülen die Flüsse zusätzliche acht Millionen Tonnen Plastik in die Meere.

Dass «The Ocean Cleanup» nicht wirklich funktioniert, haben inzwischen auch die anderen Medien gemerkt. Um Slat ist es erstaunlich ruhig geworden; die Kollegen bleiben auf ihrem Material sitzen, weshalb von den grossen Videodokumentationen nichts zu sehen ist.

Freut es mich? Ehrlich gesagt: Ja. Dass ich beim ersten Test nicht aufs Schiff durfte, hat mich in meinem journalistischen Selbstverständnis getroffen. Ich, der bereits für eine bessere Umwelt schrieb, als Slat noch nicht einmal geboren war, musste draussen bleiben. Autsch!

Aber die Schadenfreude ist glücklicherweise nur oberflächlich – abgesehen davon, dass sie absolut unprofessionell und ein Verstoss gegen alle journalistischen Regeln ist. Tatsächlich habe ich immer noch einen Funken Glauben an Slat. Während an den vielen Universitäten endlos nachgedacht wird, fährt er hinaus in die Wogen und packt an. Und wenn sein Team angesichts des ersten aus dem Müllstrudel gezogenen Plastiks mit den Tränen kämpft, glaube ich diesen Emotionen nicht nur, ich spüre sie ebenfalls.

Boyan hat gute Chancen, dass er das eines Tages hinkriegen wird. Er ist einer jener Macher, an denen es dieser Erde so sehr mangelt. Zudem hat er noch Zeit. Was hatte ich mit 18 Jahren vorzuweisen? Nichts ausser schlechten Noten und einem frisierten Motorrad.