Was seither geschah

Gift und Gegengift (#72)

In Kenya werden jedes Jahr Tausende Menschen von Schlangen gebissen. Da die importierten Gegengifte kaum gegen das Venom der einheimischen Schlangen wirken, arbeitet ein Forscherteam fieberhaft an einem lokalen Antiserum. … was seither geschah

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Ganz im Süden der kenyanischen Hauptstadt Nairobi wird die Strasse zu einer Schotterpiste, die in den Regenwald hineinführt. Hier, verborgen unter den Lianen mit ihren herumschwingenden, ohrenbetäubend laut kreischenden Affen, befindet sich das Kenya Snakebite Research and Intervention Center. In dem Steingebäude mit Wellblechdach arbeiten Herpetologen, Labortechniker und Mediziner daran, Schlangenbissopfer in ganz Kenya zu retten: Seit über hundert Jahren ist ein Verfahren bekannt, um Gegengift herzustellen. Doch die Produktion ist teuer und aufwendig, weshalb die Medikamente überall fehlen. Und nicht jedes Antiserum hilft gegen jedes Gift. Viele Schlangenbissopfer verlieren ihre Gliedmassen, ihr Augenlicht, sterben qualvoll. Hier wollen sie deshalb ein eigenes Gegengift herstellen.

Aber an diesem Morgen liegt der lange Flur des Schlangenbissinstituts verlassen da. Nur Ezekiel, der Sekretär, hält hinter seinem Schreibtisch die Stellung. «In einem Jahr haben wir ein Antivenom», verkündet er. So optimistisch hat bei meinem letzten Besuch vor zwei Jahren keiner geklungen. Ich rufe George an, den Institutsleiter. Er ist gerade in Genf, mit anderen Schlangenbissexperten aus Asien, Afrika und Lateinamerika diskutiert er darüber, wie ihr ehrgeiziges Ziel umzusetzen ist: die Zahl der Schlangenbisstoten weltweit bis 2030 halbieren. Er klingt etwas vorsichtiger als Ezekiel. Aber auch George sagt, dass eine kenyanische Antivenomproduktionsstätte in Sichtweite sei: Das Gesundheitsministerium habe zugesagt, mitzufinanzieren. Endlich! Das sei der grosse Durchbruch, auf den er und sein ganzes Team seit Jahren hingearbeitet hätten.

Um die ohnehin nicht sonderlich üppig gefüllten staatlichen Geldtöpfe konkurrieren Schlangenbisse nämlich mit Krankheiten wie HIV, Denguefieber oder Lepra. Lange Zeit fehlten verlässliche Zahlen zu Schlangenbissopfern. Weil viele von ihnen es nie in ein Krankenhaus und damit in keine Statistik schaffen. Dabei sind sie die Währung, um das Leid der Menschen zu quantifizieren und die Dringlichkeit zu betonen, einheimische Antivenome herzustellen. Deshalb reist Cecilia schon seit Jahren durchs Land. Sie ist Krankenpflegerin, Gesundheitswissenschaftlerin, alleinerziehende Mutter, trägt Gelnägel mit Strasssteinchen und bunte Braids. Sie werde bald ganz Kenya gesehen haben, erzählt Cecilia stolz. In stark betroffenen Gebieten geht sie von Haustür zu Haustür, befragt Gemeindemitglieder, wie viele Menschen in den letzten Jahren von Schlangen gebissen und wie sie behandelt wurden. Es fehlten nur noch die Provinzen Marsabit und Garissa, sagt Cecilia mit Abenteuerlust in der Stimme.

Und dann ist da noch Geoffrey mit seinen Greifarmen und den tarnfarbenen Schienbein- und Fussschonern, die ihn vor Bissen schützen sollen. Geoffrey, der «Snake Man», vor dem sich manche abergläubischen Kenyaner ekeln und ihm nicht mehr die Hand schütteln wollen. Auch er ist nach wie vor ganz in seinem Element: unterwegs, um eine Schlange einzufangen, eine braune Speikobra diesmal, die ausgerechnet, schreibt er mir, in ein Gesundheitszentrum gekrochen sei. Als ich ein paar Tage später wieder seine Nummer wähle, antwortet er mit einem Foto von einer Schlange in einer durchsichtigen Plastikkiste und dem Satz: «Spiele gerade mit einer Mamba!» 

«Wir haben unsere Schlangensammlung weiter vergrössert», sagt Geoffrey, als ich ihn endlich treffe. «Seit du vor zwei Jahren da warst, sind über hundert Schlangen dazugekommen!» Wenn er eine Schlange fängt, kommt sie in Quarantäne, er untersucht sie auf Mundfäule und Erkältungen. 178 Schlangen aller in Kenya heimischen Arten füttert, pflegt – und melkt Geoffrey. Ihr Gift wird gebraucht, um es Kamelen zu injizieren, zunächst in kleinen, dann immer grösseren Dosen. So bilden die Tiere Antikörper, die aus ihrem Blut gefiltert und Menschen nach einem Schlangenbiss als Gegengift verabreicht werden.

Ganz fasziniert erzählt mir Geoffrey von einem anderen «Snake Man», der sich selbst Hunderte Male von Schlangen hat beissen lassen und jetzt immun sei. In England wollten sie nun Antivenome aus seinem Blut herstellen. «Sehr riskant», sagt Geoffrey, und damit Geoffrey etwas riskant findet, muss es wirklich gefährlich sein. Dann wird er wieder gerufen. Er steigt in den weissen Jeep mit dem roten Sticker, auf dem eine zusammengerollte Schlange in Form des afrikanischen Kontinents gerade noch zu erkennen ist – und das Motto des Schlangenbissinstituts: «Saving lives and limbs», Leben und Gliedmassen retten.