True Story Award 2025

Die Jagd auf Superbakterien

Nominiert für den True Story Award 2025

Penicillin war eine der medizinischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Mittlerweile sterben wegen Antibiotikaresistenzen elf Millionen Menschen im Jahr. Wissenschaftler eines argentinischen Forschungsinstituts geben alles, um die nächste globale Gesundheitskrise zu verhindern.

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Der Auslöser für die Krise verbarg sich in einer Urinprobe. Es war ein unsichtbarer Organismus, tausendmal kleiner als ein Reiskorn. Ein mutiertes Bakterium, das Antibiotika überleben kann: Was die Wissenschaft als Superbakterium bezeichnet. Das Besorgniserregende war, dass es nicht nur eine Mutation aufwies, sondern zwei. Das machte es fast unmöglich, es zu entdecken. Es war Mai 2020, mitten im Coronavirus-Lockdown. Die Wissenschaftler waren überfordert und wechselten sich täglich im Labor ab, eine Gruppe von drei Personen, die die Arbeit von zwanzig erledigten. Obwohl das mutierte Bakterium ungewöhnlich erschien, hatten sie nicht genug Zeit, es eingehend zu untersuchen. Sie betrachteten es als Einzelfall. Vier Monate später tauchte es in einer anderen Probe auf. Im folgenden Monat in 35 weiteren. Fast ein Jahr später hatten sie 1200 im Labor. Die Proben stammten von Patienten, die an «gewöhnlichen» Krankheiten litten – Harnwegsinfektionen, Haut- oder Ohrenentzündungen, Lungenentzündung –, aber keine Behandlung anschlug. Viele von ihnen starben innerhalb weniger Tage.

Im Antimikrobiellen Dienst, einem Labor, in dem die Proben gesammelt wurden, hatte ein Team von Wissenschaftlern des Instituts Malbrán – einer öffentlichen Einrichtung in Argentinien, die das Verhalten von Infektionskrankheiten erforscht und nach Lösungen sucht – ein unheimliches Muster entdeckt: eine Pandemie innerhalb der Pandemie. Im April 2021, fast ein Jahr nach der Entdeckung der mutierten Bakterien, gaben sie eine Warnung an alle Krankenhäuser des Landes, wissenschaftliche Gesellschaften und globale Gesundheitsbehörden heraus. Ein zwölfseitiges Dokument mit dem Titel «Epidemiologischer Alarm» in roten Grossbuchstaben. Es war die erste einer Reihe von Warnungen, die in den folgenden Monaten von Uruguay, Ecuador, Paraguay, Belize, Chile und Guatemala herausgegeben wurden. «Die Entdeckung muss als hohes Risiko eingestuft werden», hiess es in einem Absatz. «Alle Mitglieder der Gesundheitsteams müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um eine schnelle Erkennung und Eindämmung des Mechanismus zu gewährleisten.» Die Worte «schnelle Erkennung» und «Eindämmung» waren in Grossbuchstaben geschrieben und unterstrichen. Hinter der Fachsprache verbarg sich eine apokalyptische Botschaft: Wir sind auf dem besten Weg, an Infektionen zu sterben, wie wir es seit dem Mittelalter nicht mehr gesehen haben.

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Das Institut Malbrán befindet sich in einem Block des Stadtteils Barracas, einem Industrieviertel im Süden von Buenos Aires. Das Hauptgebäude hat zwei Stockwerke mit hohen Decken und geometrischen Bodenfliesen. Beim Betreten blickt man auf eine Marmortreppe, die auch in Gatsbys Villa nicht fehl am Platz wäre. Alle Wände sind mit gerahmten Fotos von Nobelpreisträgern geschmückt. Das Malbrán wurde am 10. Juli 1916 gegründet und ist weltbekannt. Es entstand in Folge der schlimmsten Gelbfieber-Epidemie, die Buenos Aires Ende des 19. Jahrhunderts heimgesucht hatte und bei der 13 Millionen Menschen starben. Hinter dem Hauptgebäude eröffnet sich so etwas wie eine kleine Stadt in der Stadt. Zwischen mit Pflanzen gesäumten Gängen befinden sich Labore, ein Insektenhaus, eine Kindertagesstätte und ein 35 Meter hoher Turm, der ein halbes Jahrhundert lang als Wassertank diente. Vor 13 Jahren wurde der Turm renoviert und beherbergt heute drei Räume für die postgraduale Lehre und einen Konferenzraum. Vom obersten Stockwerk aus hat man einen Blick auf den Park, unter dem Tausende von Gelbfieberopfern begraben sind.

20. bis 22. Juni 2025, Bern

«Wenn ich noch einmal vor der Wahl stünde, würde ich mich wieder für diesen Ort entscheiden», erzählt uns Alejandra Corso, die Leiterin des Antimikrobiellen Dienstes, an einem Morgen im Mai. «Hier arbeiten wir daran, ein Gesundheitsproblem zu bekämpfen, das fast niemand auf der Welt kennt, das aber genauso gravierend ist wie der Klimawandel.»

Der Antimikrobielle Dienst hat seinen Sitz am Ende eines der vielen Gänge im Hauptgebäude, hinter einer Milchglastür. Es sind kleine Räumlichkeiten, die sich über zwei Etagen erstrecken. Im Erdgeschoss gibt es sechs Räume, deren Türen mit Stickern mit Slogans wie «Hör nie auf zu lernen» und «Teamarbeit ermöglicht gewöhnlichen Menschen aussergewöhnliche Ergebnisse» beklebt sind. In den Räumen stehen schwarze Granitarbeitsplatten mit Pipetten, Reagenzgläsern, Waagen, Mikroskopen und Dutzenden von Petrischalen: flache, runde Behälter, in denen Bakterien gezüchtet werden. An den Wänden stehen Elektroöfen, um die Vermehrung zu beschleunigen, und auf -70 Grad kalibrierte Gefrierschränke, in denen 20 000 Stämme gefrorener Bakterien lagern.

«Die Weltbevölkerung hat sich daran gewöhnt, Antibiotika wahllos einzunehmen. Die Folge davon ist, dass sie nicht mehr wirken», erklärt Corso. «Das bedeutet, dass viele durch Bakterien verursachte Infektionen nicht mehr geheilt werden können. Das ist, als würde man eine Bombe einsetzen, um eine Ameise zu töten.»

Die 54-jährige Alejandra Corso leitet seit 16 Jahren den Antimikrobiellen Dienst. Sie ist zierlich, hat grosse, strahlende Augen, die von einer auffälligen roten Brille umrahmt werden. Ihr blond gefärbtes Haar ist nach hinten gebunden, zwei lockere Strähnen fallen ihr ins Gesicht. Sie trägt einen weissen Kittel, Jeans und Turnschuhe. Der Weg zu ihrem Büro führt eine knarrende Holztreppe hinauf, durch zwei Räume und eine Küche. Es liegt versteckt in einer Ecke des Labors, wo es nur einen Tisch, einen Computer und ein Schwarz-Weiss-Foto eines leeren Parks gibt.

«Wenn ich wollte, hätte ich jeden Tag die Medien vor der Tür, aber das vermeide ich. Wir wollen keine Bomben zünden, ohne Lösungen anzubieten», sagt sie, während sie sich in einen Ledersessel mit zerfleddertem Bezug und hervorquellender Schaumstoffpolsterung fallen lässt. «Die Menschen, die hier arbeiten, leben in ständiger Angst, mit Bauchschmerzen und innerer Unruhe.»

Im Antimikrobiellen Dienst arbeiten 20 Personen: Biochemiker, Biotechnologen, Systemingenieure, Labortechniker und Studenten der Universität Buenos Aires, die hier ihr Praktikum absolvieren. Jeden Tag erhalten sie Hunderte von Proben mit Bakterien aus über 500 Krankenhäusern in Argentinien. Dabei handelt es sich um resistente Bakterien, die in Urin-, Sputum- oder Blutanalysen auftreten. Sie identifizieren sie, untersuchen, wie sie sich vermehren, entwerfen Protokolle, damit jedes Labor sie erkennen kann, und suchen nach Wirkstoffkombinationen, um sie zu bekämpfen. Corso verwendet für diese Aufgaben Militärsprache: «Überwachung durchführen», «Ziel angreifen», «Alarm auslösen» – dahinter verbirgt sich ein wachsendes Phänomen, dessen wissenschaftlicher Name ebenfalls eine kriegerische Konnotation hat: Antibiotikaresistenz. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist sie eine der grössten Bedrohungen für die globale Gesundheit. Sie prognostiziert, dass bis 2050 jährlich elf Millionen Menschen daran sterben werden. Das sind mehr als die Gesamtzahl der jährlichen Todesfälle durch Krebs.

«Im Grunde genommen ist dies ein kulturelles Problem. Die Menschen glauben, dass sie gut versorgt sind, wenn ihnen Antibiotika verschrieben werden», sagt Corso. «Sie behandeln sich sogar selbst. Das ist das Schwierigste, was wir ändern müssen. Wenn wir das nicht ändern, gibt es kein Licht am Ende des Tunnels.»

Der Antimikrobielle Dienst koordiniert seit 1986 die Überwachung der Antibiotikaresistenz des Landes. Seit 2000 hat er innerhalb der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO) über 800 Labore in Mexiko, Chile, Uruguay und 21 weiteren Ländern Lateinamerikas und der Karibik in der Identifizierung von Superbakterien geschult. Seit 2020 ist es das erste und einzige Labor in Lateinamerika, das von der WHO als «Kooperationszentrum für Resistenzüberwachung» ausgewiesen wurde. Die PAHO definiert es als hochmodernes Labor, das «von entscheidender Bedeutung für die Bekämpfung der Antibiotikaresistenz» ist und über die «höchsten Qualitätsstandards weltweit» verfügt.

Der Dienst identifizierte bislang die gefährlichsten Superbakterien, die der Menschheit bekannt sind. Im Jahr 2006 entdeckten sie Klebsiella Pneumoniae Carbapenemasa (KPC), ein Enzym, das sämtliche Antibiotika abwehren kann. Sieben Jahre später entdeckten sie, dass das Enzym New Delhi Metallo-β-Lactamase (NDM) Lateinamerika erreicht hatte, mit einem weiteren Enzym, das in Superbakterien lauert und sie fast unbesiegbar macht. Diese beiden Superbakterien tauchten in Argentinien durch Menschen auf, die ins Ausland gereist waren. Während der Coronavirus-Pandemie verschmolzen sie. Die Wissenschaftler bezeichneten sie als «Doppelproduzenten» und gaben eine weltweite Warnung heraus: Eine Bombe steht kurz vor der Explosion. «Während der Pandemie tauchten viel resistentere Bakterien auf, die wir noch nie zuvor gesehen hatten, weil unglaublich viele unnötige Antibiotika eingesetzt wurden. Die Zahl der Superbakterien in Krankenhäusern stieg um 50 Prozent. Was die WHO uns prophezeit hat, können wir nun bis 2037 erwarten. Es gibt keinen Spielraum. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.»

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Diese Geschichte hat ihren Ursprung vor fast 3,5 Milliarden Jahren. Sie begann, als es noch keinen Sauerstoff auf der Erde gab, die Ozeane grün waren und der Himmel orange. Als Wasser mit einer Temperatur von 400 Grad durch Risse in der Erdkruste floss, entstand die erste Lebensform: Einzeller, die sich alle 24 Minuten vermehrten. Die öde Landschaft wurde zur Heimat einer unsichtbaren Gemeinschaft von gigantischem Ausmass. Eine Milliarde Jahre später lebten sie in Wüsten, Ozeanen und an den Erdpolen sowie in Pflanzen, Reptilien und Dinosauriern. Sie überlebten Eiszeiten, den Zerfall von Kontinenten und Wellen von Massensterben der Arten. Im Mesozoikum, als ein Asteroid mit der Kraft von 10 Milliarden Atombomben auf die Erde traf und die Dinosaurier und fast alle Lebensformen auslöschte, waren die einzelligen Organismen immer noch da und vermehrten sich alle 24 Minuten.

Die Wissenschaft beschrieb sie erstmals 1676: Der niederländische Wissenschaftler Anton van Leeuwenhoek, der Erfinder des Mikroskops, beobachtete sie zum ersten Mal und nannte sie «Tierchen». Aufgrund ihrer Länge gab ihnen der deutsche Botaniker Christian Ehrenberg 1828 einen Namen, der im Griechischen «kleine Stäbchen» bedeutet und unter dem sie weltweit bekannt wurden. Er nannte sie Bakterien.

Die Anzahl der Bakterien, die in unserem Körper leben, ist unvorstellbar gross, sie hätte 30 Nullen und ist nur mit der Anzahl der Sterne in der Milchstrasse vergleichbar. Die meisten leben im Verdauungssystem und auf der Haut. Sie nehmen auf, was wir essen, stärken die Abwehrkräfte unseres Immunsystems und regulieren Emotionen. Es gibt jedoch Organe wie das Gehirn, die Lunge und die Leber, in denen Bakterien giftig werden. Wenn sie über eine Wunde, die Luft oder die Nahrung in diese Organe eindringen, ernähren sie sich von ihnen. Der erste, der dies erkannte, war der deutsche Arzt Robert Koch, der im Jahr 1888 nachwies, dass Bakterien die älteste der Menschheit bekannte Krankheit verursachen: die Tuberkulose, die bis heute weltweit die zweithäufigste Todesursache ist. Sechs Jahre später entdeckte ein schweizerisch-französischer Arzt namens Alexander Yersin, dass das später nach ihm benannte Bakterium Yersinia pestis für die «schlimmste biologische Katastrophe der Geschichte» verantwortlich war, eine Epidemie, die im Mittelalter in Asien, Afrika und Europa über 200 Millionen Menschen das Leben kostete: die Pest.

Bakterien, die Menschen infizierten und töteten, waren unmöglich zu bekämpfen. Das war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, als ein schottischer Wissenschaftler namens Alexander Fleming einen Urlaub machte, der den Lauf der Menschheitsgeschichte verändern sollte.

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Alejandra Corso beschloss im Alter von sieben Jahren, Biochemikerin zu werden. Eines Nachts verspürte sie starke Schmerzen in der rechten Bauchseite. Sie hatte eine Blinddarmentzündung und musste notoperiert werden. Das Schlimmste für sie kam jedoch, bevor sie überhaupt in den Operationssaal kam: Eine Krankenschwester wollte ihr Blut abnehmen. Sie sah die Nadel und weinte vor Angst. Aber sie spürte den Stich nicht. «Wenn ich gross bin, will ich so sein wie sie», dachte sie. Am Ende der Grundschule bat sie ihre Eltern – einen Geschäftsmann und eine Hausfrau –, sie auf eine technische Schule mit Schwerpunkt Chemie zu schicken. Sie lehnten ab. Die Aufnahmeprüfung war sehr schwer und sie konnten sich keinen Nachhilfelehrer leisten. Ausserdem waren das «Jungenschulen». 

Die 12-jährige Alejandra blieb hartnäckig: «Ich will jetzt Chemie machen, ich will nicht tausend Jahre warten.» Sie beschloss, sich selbst auf die Prüfungen vorzubereiten: samstags übte sie Mathematik und bat einen Cousin, der Philosophie studierte, ihr Logik beizubringen. Sie bestand die Prüfung. Sie war die einzige Schülerin in einem Kurs mit 30 Jungen. Nach dem Abitur arbeitete sie als Technikerin in einem klinischen Analyselabor und schrieb sich an der Fakultät für Pharmazie und Biochemie der Universität von Buenos Aires ein. 1987 schloss sie ihr Studium ab und bekam ein Praktikum an dem Ort, den sie als Mekka ihres Berufsstandes betrachtete: dem Institut Malbrán.

«Als ich anfing, habe ich umsonst gearbeitet», erinnert sie sich in ihrem Büro. «Das war hier für alle so. Weil wir unsere Arbeit lieben, macht es Spass. Heute arbeite ich immer noch teilweise umsonst, aber freiwillig. Samstags, sonntags, wann immer wir Arbeit mit nach Hause nehmen. Dieses Wochenende muss ich zum Beispiel eine Präsentation für die WHO vorbereiten. Zum Glück hat mein Mann Verständnis dafür, sonst gäbe es Ärger.»

Als sie ihr Praktikum absolvierte, hiess die Einrichtung noch «Antibiogramm-Dienst». Der Name bezog sich auf den grundlegenden Labortest, mit dem Bakterien auf Resistenzen untersucht wurden. In den 1990er Jahren wurde sie in «Antimikrobieller Dienst» umbenannt, da sie zu einem Labor geworden war, das das Auftreten von Superbakterien in argentinischen Krankenhäusern überwachte und nach Kombinationen von Antibiotika zu ihrer Bekämpfung suchte. In diesen Jahren entwickelte sich die Antibiotikaresistenz zu einem globalen Problem. Die meisten Länder richteten Labore innerhalb des öffentlichen Gesundheitswesens ein, um resistente Bakterien zu erkennen. Die weltweit wichtigsten Labore entstanden in den USA, Grossbritannien, Spanien und Schweden.

Alejandra erhielt ein Stipendium für eine Ausbildung am Mikrobiologielabor der Rockefeller University in New York, einem medizinischen Forschungszentrum von Weltklasse. Nach ihrer Rückkehr bat die PAHO, den Dienst zur Überwachung von Superbakterien in ganz Lateinamerika aufzubauen. Ab dem Jahr 2000 reiste Alejandra durch Lateinamerika, um andere Labore zu schulen: Eine Woche war sie in El Salvador, die nächste in Peru, dann in Bolivien. Ein Abenteuer, das einen wissenschaftlichen Höhepunkt markierte, während ihr Privatleben zerbrach.

«Es war eine der schlimmsten Erfahrungen meines Lebens. Es fiel mit der Geburt meiner ersten Tochter Catalina zusammen. Sie war vier Monate alt. Es war das reinste Chaos. Immer wenn ich auf Reisen war, bekam sie eine Ohrenentzündung. Und dann steckte sich mein Mann auch noch an. Aber ich musste es tun, denn zu dieser Zeit gab es niemanden, der in diesem Bereich besser ausgebildet war als ich. Es war ein Quantensprung für uns. Wir konnten uns als das Referenzlabor für Lateinamerika positionieren.”

Eine Frau mit schwarzen Locken und ernster Stimme kommt ins Büro, um einige Unterlagen abzugeben. Sie heisst Paula Gagetti. Sie studierte Biochemie bei Alejandra und kam 1999 als Praktikantin zum Dienst. In den ersten sechs Jahren, musste sie zusätzlich abends in einem Krankenhaus arbeiten, um sich über Wasser zu halten. Dann wurde eine bezahlte Stelle für sie frei. Sie ist spezialisiert auf die Erforschung von zwei Bakterien – Pneumokokken und Meningokokken –, die in Krankenhäusern in ganz Argentinien Lungenentzündungen, Ohrenentzündungen und Meningitis auslösen. Ausserdem überwacht sie die Methoden, mit denen Labore in Lateinamerika Superbakterien nachweisen.

«Hier hat niemand aus familiären oder finanziellen Gründen aufgehört zu arbeiten», sagt Paula. «Die Berufung steht an erster Stelle. Als Alejandra durch Lateinamerika reiste, habe ich mich um ihre Tochter Catalina gekümmert und sie in die Kindertagesstätte gebracht. Sie nennt mich immer noch Tante. Alle, die hier arbeiten, sind Paten der Kinder der anderen. Wir nutzen jede Gelegenheit, um gemeinsam zu essen, sogar wenn jemand umzieht. Wir sind fast wie eine Familie geworden.»

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Am 28. September 1928 fuhr Alexander Fleming in Urlaub und liess versehentlich eine Schale eines Bakteriums namens Staphylococcus aureus auf seinem Schreibtisch stehen. Als er einen Monat später in sein Labor im Keller des St. Mary’s Hospital in London zurückkehrte, entdeckte er, dass sich um die Bakterien herum Schimmel gebildet hatte, der sie wie eine Gewitterwolke umhüllte. Während des Ersten Weltkriegs hatte Fleming im Royal Army Medical Corps an der Westfront in Frankreich gedient. In den Schützengräben hatte er festgestellt, dass die meisten Soldaten nicht durch Kugeln oder Bomben getötet wurden. Sie starben, weil sie mit Staphylococcus aureus infiziert waren. Dieselben Bakterien, die in seinem Labor von einem Schimmelpilz besiedelt waren, der auf altem Brot wuchs: Penicillium notatum. Während er wuchs, schied er eine Substanz aus, die die Bakterien abtötete. Im Juni 1929 veröffentlichte Fleming seine Ergebnisse im British Journal of Experimental Pathology. Er hatte Penicillin entdeckt: eine organische Verbindung, die durch Bakterien verursachte Infektionen beseitigte. Das erste Antibiotikum der Welt.

Gegen Ende des Jahres 1945 wurde Penicillin als «das Medikament, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat» angepriesen. Es rettete über sechs Millionen Soldaten der Alliierten das Leben. Im selben Jahr erhielt Fleming den Nobelpreis für Medizin. Am 10. Dezember 1945 hielt der Wissenschaftler, gekleidet in einen eleganten Anzug mit Fliege, bei der Preisverleihung in Stockholm eine beunruhigende Rede: «Es könnte eine Zeit kommen, in der Penicillin von jedermann in Geschäften gekauft werden kann. Dann besteht die Gefahr, dass Unwissende sich leicht unterdosieren und ihre Mikroben durch die Einwirkung nicht tödlicher Mengen des Medikaments resistent machen.» Was sie nicht tötet, macht sie stärker.

75 Jahre nach diesem Vortrag, im Laufe des Jahres 2020, trugen die Proben mit den mutierten Superbakterien, die sich im Antimikrobiellen Dienst des Instituts Malbrán ansammelten, eine erschreckende Botschaft: Flemings Prophezeiung hatte sich bewahrheitet.

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Weltweit werden jedes Jahr über 100 Tonnen Antibiotika produziert: das entspricht zwei Mal der Titanic voller Medikamente. Zwei Drittel dieser Produktion sind jedoch für die Verbesserung der Nutztierhaltung bestimmt. Millionen und Abermillionen von Schweinen, Kühen, Puten und Hühnern werden gespritzt, um ihr Wachstum zu beschleunigen, damit sie schneller in die Schlachtereien gelangen. Nur ein Drittel der Antibiotika wird im menschlichen Gesundheitswesen verwendet. Und die Hälfte davon wird zur Behandlung von Erkältungen und Grippe eingesetzt: Krankheiten, die nicht durch Bakterien verursacht werden. Laut PAHO geschieht dies, weil «die Selbstmedikation mit Antibiotika eine tief verwurzelte Gewohnheit ist, die immer weiter zunimmt und manchmal sogar den Arztbesuch ersetzt». Der Organisation zufolge «ist der Verkauf von Antibiotika ohne Rezept zwar verboten, aber in bis zu 80 Prozent der Fälle ist es möglich, Antibiotika in Apotheken ohne Rezept zu erwerben. 

Die Welt ist überschwemmt mit Antibiotika, die Bakterien nicht bekämpfen, sondern sie resistenter machen. Bereits 2019 schätzte eine in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte Studie, dass jedes Jahr über 1,2 Millionen Menschen an Krankheiten sterben, die durch Superbakterien verursacht werden. «Wenn Bakterien einem Antibiotikum ausgesetzt sind, mutieren sie innerhalb von maximal fünf Jahren und passen sich an», erklärt der Wissenschaftler Alejandro Vila mit ruhiger, nasaler Stimme. «Der Mensch braucht dagegen 15 Jahre, um ein neues Antibiotikum zu entwickeln. Wir können den Wettlauf gegen die Bakterien unmöglich gewinnen.» Vila spricht am Telefon vom internationalen Flughafen Ezeiza in Buenos Aires. Er steht kurz vor dem Abflug nach Italien. 

In L’Aquila, einer mittelalterlichen Stadt zwei Stunden von Rom entfernt, wird er einen Vortrag mit dem Titel «Die Evolution von NDM-Varianten: Eine Reise vom Reagenzglas zum bakteriellen Periplasma» einem internationalen Kongress halten, der sich mit Fortschritten auf dem Gebiet der Antibiotikaresistenz befasst. Vila ist Forscher am Institut für Molekular- und Zellbiologie von Rosario, das zum Nationalen Rat für wissenschaftliche und technische Forschung gehört, der grössten wissenschaftlichen Organisation Argentiniens. Seine Forschung zielt darauf ab, ein Medikament zu entwickeln, das Lactamasen neutralisiert: Proteine, die in bestimmten Bakterien vorkommen und Antibiotika zerstören.

«Die meisten resistenten Bakterien kommen aus Krankenhäusern. Von der Aufnahme eines Patienten mit einer Infektion bis zum Nachweis der Bakterien vergehen etwa 24 bis 48 Stunden», sagt der Wissenschaftler. «In dieser Zeit verabreichen die Ärzte sogenannte Breitbandantibiotika. Das ist das Hauptproblem.»

Breitbandantibiotika können die meisten bakteriellen Infektionen heilen. Laut Vila sollten Ärzte, sobald sie die Bakterien identifiziert haben, die die Infektion verursacht haben, den Einsatz dieser Antibiotika einstellen und die Behandlung auf diese eine Bakterienart konzentrieren. Während der ersten Covid-19-Welle, als noch nichts über die Krankheit bekannt war, erhielten 70 Prozent der infizierten Patienten weltweit Breitbandantibiotika, obwohl die meisten diese nicht benötigten. Die Auswirkungen waren verheerend. Allein in Argentinien stieg der Anteil der hospitalisierten und mit Superbakterien infizierten Patienten von 20 Prozent im Jahr 2019 auf fast das Doppelte im Jahr 2021. Superbakterien traten mit neuen Mutationen auf, wie beispielsweise die «Doppelproduzenten», die vom Antimikrobiellen Dienst entdeckt und nach Ausrufung der globalen Alarmstufe in Uruguay, Ecuador, Paraguay, Belize, Chile und Guatemala gefunden wurden. In den folgenden Monaten gaben diese Länder dann ihre eigenen Warnungen heraus. Die PAHO veröffentlichte im Oktober 2021 einen Bericht, in dem sie warnte, dass «das Risiko einer Ausbreitung dieser Resistenzmechanismen sehr hoch ist», wenn keine Massnahmen ergriffen werden.

«Wir sind dabei, wieder in die Prä-Antibiotika-Ära einzutreten. Diese Prognose ist besorgniserregend. Die Öffentlichkeit muss durch Händewaschen zur Bekämpfung von Superbakterien beitragen. Wir müssen mit der Verabreichung von Antibiotika vorsichtiger umgehen», warnt Vila. «Sie dürfen nicht mehr ohne ärztliche Verschreibung verkauft werden, und wenn wir mit der Einnahme von Antibiotika beginnen, muss die Behandlung vollständig abgeschlossen werden. Aber mehr noch als die Aufklärung der Öffentlichkeit brauchen wir Sensibilisierungskampagnen auf Länderebene. Wir brauchen einen globalen Plan.”

Im Mai 2015 hat die WHO einen globalen Aktionsplan gegen Antibiotikaresistenzen namens «One Health» ins Leben gerufen. Dabei wurden Ziele für die nächsten zehn Jahre festgelegt, darunter die «Verstärkung der Überwachung und der Forschung», die «Prävention von Infektionen durch Hygienemassnahmen» in Krankenhäusern und, als Highlight, die «Aufstockung der Investitionen in neue Medikamente». Ein Plan, dessen Umsetzung für Südamerika vom Antimikrobiellen Dienst koordiniert wurde.

«Für die grossen Pharmaunternehmen ist es nicht mehr rentabel, Antibiotika herzustellen, die fast automatisch Resistenzen hervorrufen und ihre Wirkung verlieren. Deshalb hat es im 21. Jahrhundert bisher nur eine einzige neue Art von Antibiotika gegeben. Mit Medikamenten für chronische Krankheiten, neurodegenerative Erkrankungen, Krebs oder erektile Dysfunktion lässt sich mehr Gewinn erzielen. Die Regierungen müssen eine andere Gesundheits- und Wissenschaftspolitik betreiben, um neue Antibiotika zu entwickeln», mahnt Vila. «Und sie müssen die Rolle von Referenzlaboren stärken, die feststellen, welche Superbakterien Patienten befallen und was sie resistent gemacht hat, damit wir die richtige Behandlung verabreichen können.» 

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Eine graue Wolke von der Grösse eines kleinen Fingernagels wächst in der Mitte einer grünen Oberfläche. Was wir vor uns in einer Petrischale sehen, ist Pseudomonas aeruginosa, ein Bakterium, das gegen sämtliche Antibiotika resistent ist. Es verursacht tödliche Infektionen im Blut, in der Lunge, in den Harnwegen und in Operationswunden. Die neueste Liste der «Bakterien, die eine kritische Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellen», die 2017 von der WHO veröffentlicht wurde, führt sie unter den gefährlichsten auf.

«Schau mal, wie schön das ist», sagt Alejandra Corso und zeigt mir ihr Handy, auf dem sie Bilder der «attraktivsten» Bakterien gespeichert hat, mit denen sie arbeitet. Es ist ein Morgen im Juni, die Sonne scheint durch das Fenster des Labors im Erdgeschoss der Abteilung für Antibiotika. Im Hintergrund läuft auf einem Computer eine Version des Songs «Killing Me Softly» von Ed Sheeran und Miley Cyrus. Im Nebenraum ertönt das ständige Piepen einer Maschine, die Bakterien innerhalb von Sekunden identifizieren kann. Celeste Lucero, eine der Biochemikerinnen des Antimikrobiellen Dienstes, stellt ein Dutzend Petrischalen auf den Labortisch.

«Wir sind hier im Grunde genommen Sadisten», sagt Lucero, die Jeans, einen weissen Kittel und eine Makramee-Halskette trägt. «Was für die Patienten richtig schlimm ist, gibt uns Adrenalin.» Celeste Lucero ist 50 Jahre alt und arbeitet seit 1998 in der Abteilung. Sie ist für die Durchführung von Antibiogrammen zuständig: Laboruntersuchungen, die zeigen, ob Bakterien gegen Antibiotika resistent sind. Jeden Tag züchtet sie Bakterienkolonien in Petrischalen, die «Agar» enthalten, eine Gelatine mit Nährstoffen, die das Wachstum fördert. Sie hantiert mit einem «bakteriologischen Griff», einem langen Metallwerkzeug, das wie eine Seifenblasenring aussieht. Auf die Schale mit den Bakterien legt sie kleine Papierkreise, die mit 15 verschiedenen Antibiotika getränkt sind. Die Schale kommt für 24 Stunden in den «Ofen» – eine Maschine, die auf 37 Grad gehalten wird und wie ein Elektroherd aussieht. Am nächsten Tag analysiert sie die «Halo-Effekte»: die grauen Wolken, die sich um die Antibiotika-Kreise bilden. Je grösser der Halo-Effekt, desto resistenter sind die Bakterien.

«Das ist die Bibel!», sagt Lucero und zeigt auf eine ringgebundene Fotokopie, die auf dem Labortisch liegt. Darin sind die internationalen Standards zur Bestimmung der Antibiotikaresistenzen von Bakterien festgelegt. Da die Zahl der Superbakterien ständig zunimmt, wird der Leitfaden jedes Jahr aktualisiert. «Die Wahrheit ist, dass alle, die hier arbeiten, die Daumen drücken, dass sie nicht im Krankenhaus landen. Wir oder unsere Familien. Dann sitzt man wie auf Nadeln, weil man weiss, dass irgendwann, im Krankenhaus … Meiner Mutter ist das passiert.»

Vor zwei Jahren wurde Luceros Mutter nach einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Dort erkrankte sie an einer Lungenentzündung und wurde auf die Intensivstation verlegt. Nach einigen Tagen bekam sie eine Harnwegsinfektion. Lucero versuchte, ihre Mutter zu beruhigen, aber innerlich quälte sie der Gedanke, dass sie sich vielleicht mit einem Superkeim angesteckt hatte. Laut WHO kommt es zu Ansteckungen meist unter Intensivpatienten, die invasiven Eingriffen unterzogen werden.

«Ich habe das Krankenhauslabor angefleht, mir ihren Urintest zu geben, damit ich ihn hierherbringen und schnell diagnostizieren kann. Wenn sie einen resistenten Keim hat, würde ich es herausfinden können. Am Samstag gaben sie mir endlich die Probe.» Lucero schloss sich über Nacht im Labor ein, um das Antibiogramm durchzuführen. Sie liess die Schale im Ofen stehen und am nächsten Tag hielt sie die schlimmste Nachricht in ihren Händen. Ihre Mutter hatte einen Superkeim namens Proteus. Die WHO stuft ihn als «besonders gefährlich» ein und gibt an, dass er «tödliche Infektionen verursacht».

«Wenn man etwas mehr weiss wie der behandelnde Arzt, wie soll man das dann ansprechen? Ich habe ihm subtil zu verstehen gegeben, welches Antibiotikum er ihr verschreiben soll. Zum Glück für meine Mutter haben sie ihr das verschrieben, was ich vorgeschlagen hatte. Und meine Mutter hat überlebt.»

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«Wenn ich einen interessanten Fachartikel sehe, speichere ich ihn, damit ich ihn zu Hause in Ruhe lesen kann. Das ist wie wissenschaftliche Seelenpflege. Ich lese ihn auf meinem Tablet, bevor ich ins Bett gehe. So kann ich ihn in Ruhe geniessen. Hier ist es chaotisch, weil ständig Leute herumlaufen.» Fernando Pasterán ist Biochemiker und stellvertretender Direktor des Antimikrobiellen Dienstes. Ein Mann mit ruhigem Gesicht und schwarzem Bart, der einen Teil seiner Wangen bedeckt. Er sitzt in einem der Labore neben zwei Assistenzärzten und ist gerade dabei, die Wirksamkeit eines Antibiotikums namens Cefiderocol zu bewerten, das gerade auf den Markt gebracht wurde, um Pseudomonas aeruginosa zu bekämpfen.

«Wir wollen so schnell wie möglich wissen, ob Cefiderocol wirkt», sagt Pasterán. «Kürzlich wurde in Chile ein Antibiotikum gegen einen Superkeim auf den Markt gebracht, der bereits resistent war. Als es herauskam, war das Antibiotikum bereits veraltet.»

Jeden Tag überwacht Pasterán Antibiotika, testet ihre Kombinationen zur Bekämpfung von Superbakterien-Infektionen, sucht nach neuen Wegen, diese zu erkennen, und erstellt Protokolle, damit diese Methoden in Krankenhäusern angewendet werden können. In die Dokumente, die er für Gesundheitsorganisationen auf der ganzen Welt vorbereitet, fügt er Zeichnungen von Zombies, Gräbern und Krähen ein. Er hat Grafikdesign studiert, damit das Aufklärungsmaterial besser aussieht. Als der Dienst 2006 KPC entdeckte – eines der beiden Enzyme, aus denen die während der Pandemie entdeckten «Doppelproduzenten»-Superbakterien bestehen –, enthielt Pasteráns Protokoll die Zeichnung eines Obelisken – das Wahrzeichen von Buenos Aires –, der in zwei Teile geteilt war. Darunter stand in roten Buchstaben das Wort «apocaliKPCsis».

«Das war ein Wendepunkt für den Dienst», sagt er und streicht sich über den Bart. Die Methode, mit der sie KPC entdecken konnten, entstand aus einer seltsamen Idee von Pasterán. Der Dienst erhielt eine Probe von einer Frau, die eine Nierentransplantation hinter sich hatte. Sie war seit mehreren Monaten im Krankenhaus, weil ihre Operationswunde nicht heilte. Vor vielen Jahren hatte Pasterán einen wissenschaftlichen Artikel über die möglichen antibiotischen Eigenschaften von Borsäure gelesen, die als Pestizid eingesetzt wird. In der Petrischale, in der die Probe inkubiert wurde, bildete sich um die Säure herum der mit Spannung erwartete graue Hof.

«Die Säure ermöglichte es uns, KPC nachzuweisen», sagt Pasterán. «Das war ungewöhnlich, unerwartet und hat die Laborpraxis weltweit verändert.» Sechs Monate später veröffentlichte er seine Entdeckung in einem Artikel in der Fachzeitschrift des Centers for Disease Control (CDC), der wichtigsten Einrichtung für Krankheitsprävention in den USA. Das Pharmaunternehmen Melinta mit Sitz in New Jersey entwickelte ein wirksames Antibiotikum auf Basis von Borsäure. Zu Ehren des Antimikrobiellen Dienstes wurde die Studie, in der die Wirksamkeit dieses Medikaments untersucht wurde, «Tango» genannt.

«Die Mitarbeiter des Instituts Malbrán haben eine lange Tradition darin, die Testverfahren zum Nachweis von Superbakterien anzupassen. Das beste Beispiel ist die Verwendung von Borsäure zur Identifizierung von KPC», sagt Pilar Ramón-Pardo in einem Videoanruf aus Washington. Sie ist Spezialistin für Antibiotikaresistenzen bei der PAHO. «Der Dienst kennt die Probleme, mit denen Krankenhäuser täglich konfrontiert sind, und sucht nach Lösungen, die weltweit anwendbar sind. So können auch diejenigen Länder Superbakterien bekämpfen, denen es eigentlich an Ressourcen dafür fehlt. Die Aussichten sind düster. Wenn wir nicht gemeinsam etwas unternehmen, wird sich der Trend mit steigenden Resistenzen nicht umkehren. Was in einem Land passiert, wird sich auf andere Länder auswirken. Was an einem Ort entdeckt wird, wird an anderen Ort auftauchen. Superbakterien müssen weltweit in Laboren überwacht werden, um Ausbrüche eindämmen zu können.»

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Als Jorge Trgovcic erfuhr, dass seine Mutter sich mit dem Bakterium Klebsiella pneumoniae infiziert hatte, musste er an den Film «Slumdog Millionaire» denken. Die Geschichte eines Waisenkindes aus den Slums von Mumbai, das die Quizshow «Wer wird Millionär?» gewinnt, wurde zu einem weltweiten Phänomen und gewann 2009 den Oscar für den besten Film.

«Der Protagonist wusste alle Antworten aufgrund seiner eigenen Erfahrungen. In meinem Leben war es genauso», sagt Trgovcic. Er ist 53 Jahre alt, hat graues, mit Gel frisiertes Haar, wir treffen uns an einem Sonntagmorgen in einem Café in San Telmo, einem Viertel voller alter Bars im Süden von Buenos Aires. «Ich war mir dieses Namens, Klebsiella, immer bewusst. Ich habe ihn in den Fluren meiner Arbeit gehört. Was für ein seltsamer Name, dachte ich, aber ich hätte nie gedacht, dass er mein Leben ruinieren würde.»

Jorge Trgovcic arbeitet seit 31 Jahren als Techniker in der Parasitologie am Institut Malbrán, einem Labor, das nur einen Flur vom Antimikrobiellen Dienst entfernt liegt. Im Jahr 2017 erkältete sich seine Mutter Rosa. Als sie einen Arzt aufsuchte, stellte sich heraus, dass es sich um eine fortgeschrittene Lungenentzündung handelte. Sie wurde ins Krankenhaus eingeliefert und an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Man stellte eine Candida-Infektion fest. Kein Antibiotikum half gegen ihre Symptome. Jorge klopfte an die Tür der Abteilung für Antibiotika und erzählte Alejandra Corso seine Geschichte. Sie setzte sich mit den Ärzten in Verbindung, die seine Mutter behandelten, und bat sie um eine Probe für die Abteilung. Der Antibiogramm-Test ergab genau den Superkeim, der Jorge schon lange aufgefallen war: Klebsiella pneumoniae.

«Das ist ein verdammt gefährlicher Superkeim. Man denkt, wenn etwas mit Antibiotika behandelt wird, ist es geheilt, aber weit gefehlt. Meine Mutter wurde mit vier Antibiotika behandelt, aber nichts hat geholfen. Der Dienst schlug eine andere Kombination vor, aber es war zu spät. Meine Mutter ist gestorben.»

Jorge’s Geschichte ist für den Dienst eine Ausnahme: Sie wissen in der Regel nicht, welcher Mensch sich hinter den Proben verbirgt, die sie analysieren. 15 Jahre bevor Jorge ihnen das für seine Mutter tödliche Bakterium brachte, wurde der Antimikrobielle Dienst von einem Mann besucht, der an einer maxillären Osteomyelitis litt, einer Knocheninfektion, die den Oberkiefer betrifft. Sie wird durch das Superbakterium Staphylococcus aureus verursacht. Er konnte durch die von den Wissenschaftlern vorgeschlagene Kombination von Antibiotika gerettet werden und wollte sich bedanken. Während er seine Geschichte erzählte, hörten sie schweigend zu, mit Tränen in den Augen.

«Wir verbinden keine Gesichter mit den Proben. Für uns sind es nur Bakterien», sagt Alejandra Corso. «Man versucht, sich nicht emotional zu involvieren, weil man sonst nicht arbeiten könnte. Jeder Fall, der hier hereinkommt, ist ein schwerer Fall. Wir können nicht jedes Mal trauern, wenn wir eine Seite umblättern.»

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Der Chefarzt des Antimikrobiellen Dienstes, ein schlanker Mann in blauem Anzug und Ohrringen, kommt an den Labortüren vorbei und ruft: «Lasst uns essen!» Jeden Freitag versammeln sich die Mitarbeiter des Antimikrobiellen Dienstes in der Küche, um Mittag zu essen und Fernet zu trinken, einen Kräuterlikör gemischt mit Coca-Cola. Das machen sie seit Beginn der Corona-Pandemie, als sie sich in Dreiergruppen abwechselten. In diesen dunklen und anstrengenden Tagen tranken sie, um die Arbeit zu bewältigen.

«Anfangs wollten wir das Coronavirus nicht mit Superbakterien in Verbindung bringen», erinnert sich die Biochemikerin Celeste Lucero in der Küche. «Wir waren so etwas wie Leugner. Aber wir wussten, dass es uns auf die schlimmste Weise treffen würde. Denn bei all den überfüllten Notaufnahmen war klar, dass die Krankenhausinfektionen zunehmen würden. Superresistente Bakterien mussten einfach auftauchen.» Auf dem langen, weissen Holztisch stehen Teller mit Brot und geschnittenem Schweinefleisch. Es gibt Mayonnaise-Tütchen, Besteck und Plastikbecher mit der Aufschrift «Cubicin. Daptomycin zur Infusion». Das Medikament dient zur Behandlung von Infektionen, die durch Staphylococcus aureus verursacht werden, ein normalerweise harmloses Bakterium, das aber tödlich sein kann, wenn es über Wunden in den Körper eintritt. 

«Hey, ist die Cola im Kühlraum?», fragt der Chefarzt. Er geht ins Erdgeschoss, öffnet einen Kühlschrank voller Petrischalen mit Bakterien, schnappt sich die Softdrinks aus der Ecke und bringt sie zurück in die Küche. An den Wänden hängen bunte Wimpel, an einem Fenster sind zwei ausgedruckte Blätter mit Klebeband befestigt. Auf dem einen steht: «Protokoll für die sichere Nutzung des Speisesaals», es enthält Empfehlungen wie «Waschen Sie sich vor dem Verzehr von Speisen die Hände», begleitet von entsprechenden Bildern. Das andere Blatt trägt den Titel «Die vier Tolteken-Vereinbarungen» (die Tolteken sind eine indigene Gruppe aus Mexiko): «1) Sei makellos in deinen Worten, 2) gib immer dein Bestes, 3) mache keine Annahmen, 4) nimm nichts persönlich.»

«Wir haben letzten Freitag beim Mittagessen darüber gesprochen und gesagt, dass wir die Weisheiten an die Wände kleben sollten», sagt die Biochemikerin Paula Gagetti. «Die erste ist die beste. Die zweite versuchen wir alle hier zu befolgen. Die dritte ist schwer umsetzbar. Die vierte ist im Grunde unmöglich, denn hier drehen wir uns alle um und sagen: ‚Meinst du mich?!‘ Den Spruch sollten wir mehr in die Praxis umsetzen.»

Beim Mittagessen sprechen sie über ihre Kleiderordnung, tauschen Aufkleber für ihre Handys aus und diskutieren über beliebte Serien und Filme. «Hat jemand den neuen Geldschein?», fragt Gagetti. «Ich habe noch keinen bekommen.» Im Mai 2023 hat Argentinien einen 2.000-Peso-Geldschein in Umlauf gebracht. Es ist der Geldschein mit dem höchsten Wert im Land. Auf einer Seite ist in Dunkelgrau und Rosa eine Zeichnung des Instituts Malbrán zu sehen. 

Die argentinische Zentralbank hatte zuvor beschlossen, es «als Hommage an die argentinische Wissenschaft und das öffentliche Gesundheitswesen» abzubilden. «Hier, ich lasse dich mal gucken, aber nur kurz! Diesen hier haben sie mir neulich am Kiosk gegeben und ich habe ihn aufgehoben», sagt der Chefarzt. Nach dem Mittagessen machen sie ein gemeinsames Selfie und gehen zurück an die Arbeit. In einer Ecke der Küche sitzt Fernando Pasterán und beantwortet E-Mails auf einem Laptop.

«Man geht davon aus, dass die Erfindung von Antibiotika die weltweite Lebenserwartung um 22 Jahre erhöht hat. Mittlerweile können wir wieder an einer Augen-, Ohren- oder Halsentzündung sterben, alles kann uns umbringen», sagt er, sein Gesicht ist vom Schein des Bildschirms angestrahlt. «Haben Sie den Film Cast Away gesehen? Da gibt es eine Szene, in der Tom Hanks sich mithilfe einer Schlittschuhkufe einen entzündeten Zahn zieht, weil er keine Antibiotika hat, um die lokale Infektion zu behandeln. Nun, genau darauf steuern wir zu. Auf ein Zeitalter ohne Antibiotika, um eine einfache Mundinfektion zu heilen. Wir entfernen infizierte Teile unseres Körpers dann wieder mit einer Klinge.”

Übersetzung: Ruth Clark
Redaktion: Christoph Dorner