
Wochen ohne Schlaf
Die Eltern unseres Redakteurs Dmitrij Gawrisch, die nach dem russischen Überfall aus der Ukraine fliehen mussten, statten ihrem Zuhause Kyjiw einen Besuch ab – zum denkbar falschen Zeitpunkt. In einem sehr persönlichen Bericht schildert Gawrischs Mutter, wie sie die schlimmsten Bombardements seit Kriegsbeginn erlebt hat.
Der Tag, an dem wir die polnisch-ukrainische Grenze überqueren, ist warm und sonnig. Am Strassenrand der westukrainischen Dörfer, die wir auf unserem Weg nach Kyjiw passieren, verkaufen die Bauern alles, was das Herz begehrt: Äpfel, Birnen, Zwetschgen, Tomaten, Kartoffeln, Karotten, Zucchini, Weiss- und Rotkohl, Rote Bete – die Ernte war besonders ergiebig dieses Jahr. Alles wirkt wie früher. Herrscht in diesem Land wirklich Krieg? Erst mit der Zeit fällt auf, dass auf den Strassen kaum junge Männer zu sehen sind, selbst an den Tankstellen, diesen Männerdomänen, überwiegen Frauen, sie füllen Benzin nach, kaufen Chips, trinken Kaffee.
Gegen Abend kommen wir zu Hause an. Und müssen erst mal einen freien Parkplatz finden: Der Hof unseres L-förmigen Wohnhauses unweit des Stadtzentrums ist voller Autos, teure, westliche Marken. Wieder dieser Gedanke: Ist wirklich Krieg? Und wieder erst auf den zweiten Blick fällt auf, wie verwahrlost unser Haus neuerdings wirkt, niemand hat irgendetwas renoviert, wie das früher jeden Sommer passierte. Viele Fensterscheiben sind kreuz und quer mit Klebeband beklebt, so soll das Glas dem Druck von Explosionen besser standhalten.
Wir steigen in den vierten Stock hinauf und schliessen unsere Wohnung auf. Sie riecht nach Staub, bis auf die Kakteen sind alle Pflanzen schon lange tot. Bevor wir in Deutschland aufgebrochen sind, habe ich die Luftalarm-App installiert, um wenigstens etwas Kontrolle über mein Leben zu haben. Werde ich sie brauchen? Alles kommt mir so friedlich vor, mein Mann und ich stehen auf unserem Balkon, trinken längst abgelaufenen Tee, den wir in den Vorratsschränken noch gefunden haben, und betrachten die Kinder, die unter einem warmen Abendhimmel unten auf dem Spielplatz schaukeln, schreien, streiten, weinen und wieder lachen. Ihre Mütter sitzen auf den Bänken unter himmelhohen Pappeln, unterhalten sich, teilen Pfirsiche und Gebäck. Der Lärm des Kinderspielplatzes wirkt beruhigend. Eine Nachbarin raucht auf dem Balkon, dabei schimpft sie mit dem Autofahrer, der unter ihrem Balkon parkt. Sie macht ihn auf das Schild an der Eingangstür aufmerksam, dass nah am Haus geparkte Autos die Evakuierung der Bewohner erschweren. Über ihrem Kopf hängt frisch gewaschene Bettwäsche.
Gegen Mitternacht ist es mit der Ruhe schlagartig vorbei. Die Sirenen heulen markdurchdringend auf, Luftalarm, gefolgt von eindringlichen Warnungen der Luftalarm-App, dass eine erhöhte Gefahr bestehe und man sich schnell in den Luftschutzkeller begeben solle. Ich gehe auf den Balkon hinaus, betrachte den Nachthimmel, sehe weder Drohnen noch Raketen, und es verlässt auch sonst keiner das Haus, deshalb bleiben auch wir in unserer Wohnung, setzen uns höchstens in den Flur, weil hier keine Fenster sind, ich zünde eine Kerze an, stelle eine Ikone auf und bete.
Dieser erste Luftalarm, den ich seit unserer Heimkehr erlebe, dauert etwa zwölf Stunden. Beim Frühstück am Küchentisch hören wir eine laute Explosion in der Nähe, unser Altbauhaus wackelt. Ein sehr unangenehmes Gefühl, aber mein Mann und ich wollen einander keine Angst einjagen. Wenn ich leide, muss normalerweise die ganze Welt mitleiden, aber nun spüre ich, dass es besser ist, ruhig zu bleiben und einfach zu schweigen, den Kopf einzuziehen und darauf zu warten, dass der Beschuss vorbei ist. Obwohl man während des Luftalarms eigentlich drinnen bleiben sollte, geht mein Mann hinaus, um Besorgungen zu machen, und ich beschliesse, die Wohnung zu putzen. Ich wische Staub, besprühe die Holzmöbel mit Politur, und als ich die Tür öffne, um den Müll hinunterzutragen, kommt mir der Nachbar von oben entgegen, mit dem wir lose befreundet sind. Die starke Explosion sei gar nicht in der Nähe gewesen, sondern weit weg von uns, beruhigt er. (Wie laut wird es dann, wenn es in der Nähe explodiert, frage ich mich, oder wenn es gar nicht mehr aufhört zu explodieren, wie in den umkämpften Frontstädten des Donbas.) Und dass solche Explosionen eigentlich ein gutes Zeichen seien, denn sie bedeuteten, dass eine Drohne oder Rakete durch die Luftabwehr abgeschossen worden sei, bevor sie einschlagen konnte.
Gegen Mittag ist der Luftalarm endlich vorbei. Die Stadt erwacht, reckt und streckt sich, die Menschen strömen durch die Ausgänge und fahren zur Arbeit. Niemand denkt auch nur daran, zu Mittag zu essen, alle versuchen in die «Ruhepause» möglichst viel reinzuquetschen. Dieses Wort hat in der Ukraine eine ganz andere Bedeutung bekommen, Ruhepause ist die Zeit, in der man ungestört arbeiten, lernen oder einkaufen kann. Und ich, die ich nur zu Besuch in unserem Zuhause bin, um eben mal kurz nach dem Rechten zu sehen, gehe spazieren. Vorsichtshalber bewege ich mich in der Nähe der U-Bahn-Stationen. Und habe die empfohlene Notfalltasche mit Wasser und warmer Jacke dabei, was ein wenig lächerlich wirkt bei über 30 Grad im Schatten.
Die Menschen, die mir entgegenkommen, wirken auf mich emotionslos, sachlich, konzentriert, ein bisschen roboterhaft, selbst die Kinder – was nicht typisch ukrainisch ist. Früher hat man einander immer mit an Penetranz grenzender Neugier gemustert, in dieser Hinsicht machte Kyjiw einen beinahe dörflichen Eindruck. Unterwegs sehe ich ein zerstörtes Rüstungswerk, ein zerstörtes Bürogebäude, daneben ein grosses Wohnhaus mit zerborstenen Fensterscheiben und einigen abgerissenen Balkonen. Ich zücke mein Handy, um die Szenerie zu fotografieren. Da bemerke ich, wie einige Leute mich empört anschauen. Schnell stecke ich das Telefon weg und gehe weiter. Ein blau-gelbes Fähnchenmeer am zentralen Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan Nezalezhnosti, jedes Fähnchen steht für einen gefallenen ukrainischen Soldaten. Ich lasse das Telefon in der Tasche.
Der Bruder meines Mannes, auch er hat nach dem Ausbruch des Krieges Schutz in Deutschland gefunden, schreibt aufgeregt: «Wie habt ihr die grausame Nacht überstanden?» Insgesamt 236 Drohnen und Raketen soll Russland auf die Ukraine abgefeuert haben. Aber wie sich herausstellt, war das nur der Anfang. In jeder Nacht gibt es Luftalarme. Und Explosionen näher und ferner, von denen das Herz zu stolpern beginnt. Nach zwei schlaflosen Nächten frage ich mich: Wie lange kann ein erwachsener, mehr oder weniger gesunder Mensch ohne Schlaf auskommen? Wie ist es bei alten oder kranken Menschen? Und Kindern?
Anfang September beginnt in der Ukraine das neue Schuljahr. In der Nacht davor erwachen wir von starken Explosionen, das ganze Haus wackelt, die Fenster klirren. Ich halte es nicht mehr aus und überrede meinen Mann, in unseren Luftschutzkeller hinunterzusteigen. Er hat ziemlich viele Räume, aber nur zwei Stühle und eine Couch. Vor dem Krieg war hier eine Änderungsschneiderei. An den Wänden hängen bunte Bilder. Auf der Couch schlafen zwei oder drei Wohnungslose. Es riecht ein bisschen nach Urin. Aber wenigstens hört man nicht, was draussen geschieht. Von unseren Nachbarn ist auch in dieser Nacht niemand gekommen.
Um wenigstens ein wenig Schlaf zu kriegen, fangen wir in den nächsten Tagen an, schon um 20 Uhr ins Bett zu gehen. Dabei ist gerade das die Zeit, wenn das Licht wieder angeht. Nicht nur die ständigen Luftalarme, auch die täglichen Stromausfälle und ‑abschaltungen erfordern Anpassungen des Tagesablaufs. In den vier bis sechs Stunden pro Tag, in denen wir Strom haben, versuchen wir den ganzen Haushalt zu erledigen, am Computer zu arbeiten, alle Geräte aufzuladen und auch mal in den Spiegel zu schauen. Zum Glück ist unser Altbau nur fünf Stockwerke hoch und ans Gasnetz angeschlossen; wenn kein Strom da ist, können wir immer noch kochen und bei Kerzenschein essen. Aber was ist mit den vielen Neubauten, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten wie Pilze aus dem Boden der Hauptstadt geschossen sind, mit 20 Stockwerken und mehr, den Menschen dort und ihren vor dem Krieg als «modern» gepriesenen Elektroherden? Wie kommen sie zurecht, ohne warmes Essen, ohne Lift?
Aber auch ich falle auf einen dieser «Zivilisationsvorteile» herein. Ich kaufe gerade in einem riesigen Supermarkt ein. Die Regale sind prallvoll, ich staune, wie gut die Hauptstädterinnen und Hauptstädter selbst in Kriegszeiten versorgt werden, wie viel regionales Obst und Gemüse es zu kaufen gibt, wie gross die Auswahl an frischen Fischprodukten ist. Selbst Kaviar gibt es auf Schritt und Tritt – auch wenn mir nicht ganz klar ist, wer sich all diese Produkte leisten kann angesichts der Teuerung, der erhöhten Abgaben für Armee und Soziales, der steten Abwertung der einheimischen Hrywnja. Plötzlich wird es stockdunkel. Stromabschaltung. Ich erstarre, aber die Menschen um mich herum holen ungerührt ihre Taschenlampen heraus (mit dem Handy geht man sparsam um und benutzt es für wichtigere Dinge als Beleuchtung) und kaufen weiter ein, als wäre nichts. Wenn sie fertig sind, stellen sie sich an und warten geduldig, bis die Stromgeneratoren endlich anlaufen und die Kasse wieder funktioniert. So auch ich. Da ruft die Kassiererin aus, dass es keine Verbindung zur Bank gebe und Einkäufe nur bar bezahlt werden könnten. Alle anderen, die mit Karte zahlen wollen, müssten warten. Das bin, wie ich merke, nur ich, denn der Rest der Schlange scheint Bargeld zu haben, die Leute überholen mich, packen ihre Einkäufe ein und verlassen das Geschäft. Da die Verbindung mit der Bank in der nächsten halben Stunde nicht wiederhergestellt werden kann, stelle ich die Waren in die Regale zurück und verlasse mit leeren Händen, aber um eine Erfahrung klüger das Geschäft: Nie mehr gehe ich aus dem Haus ohne die vermeintlich überholten Geldscheine und Münzen.
Das ist auch neu: Früher hätte ich in einem solchen Fall den Einkaufswagen wutschäumend im Supermarkt stehen lassen und das Zurückbringen der Einkäufe dem Personal überlassen. Aber die Stimmung ist eine andere, man ist solidarischer geworden, versucht instinktiv, einander unnötige Handgriffe zu ersparen, schliesslich sitzen alle im selben Boot, alle haben Angst, sind übernächtigt, manche traumatisiert, und man weiss nie, was das Gegenüber gerade belastet: Ist der Ehemann der Kassiererin womöglich im Krieg gefallen? Kämpft der Sohn gerade an der Front? Der junge Wachmann am Eingang hat anstelle des rechten Arms eine Prothese. Klar, er könnte ihn irgendwo verloren haben, bei einem Motorradunfall etwa, schon vor vielen Jahren. Oder aber …
Bevor wir wieder fahren, unternehmen mein Mann und ich noch einen letzten Spaziergang durch die Stadt. Wenn gerade keine Raketen im Anflug sind, tummeln sich junge Menschen auf den Strassen, in Cafés, auf den Sportplätzen, Strassenmusik ertönt, Kino- und Theatervorstellungen sind immer ausverkauft. Geschäfte verschwinden und an ihrer Stelle tauchen neue auf, und die Behörden arbeiten aufgrund des Personalmangels so unbürokratisch wie noch nie. Man schätzt jede Sekunde, in der die unheilverkündenden Luftalarmsirenen schweigen. 2021, am Vorabend des russischen Überfalls, ist die moderne Ukraine 30 Jahre alt geworden. In den letzten drei Jahren haben meine Landsleute gefühlt mehr gelernt und erfahren als in den drei Jahrzehnten davor. Mir erging es so in den zwei Wochen meines Besuchs zu Hause.