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HAITI → Selbst Obama verhinderte bessere Löhne

KAPITEL 4/10

Faire Arbeitsbedingungen – wir reisen an einen Ort, der davon erzählt, was passiert, wenn sie fehlen.

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Der Ort befindet sich unmittelbar auf einer Landesgrenze. Wie ein Messer einen Kuchen in der Mitte durchschneidet, so halbiert diese Grenze eine Stadt. Auf der einen Seite der Grenzlinie liegt Dajabón, Dominikanische Republik. Hier wächst die Wirtschaft mit rosigen fünf Prozent pro Jahr, überall wird gebaut. Schöne Hotels finden sich neben schicken Restaurants, die mit gehobenen Wein- und Zigarrenkarten aufwarten; Swimmingpools, Billardclubs und Fitnesscenter empfangen gutsituierte Kunden. Auf den Parkplätzen stehen teure Autos, die Bürgersteige sind gekehrt, die Kinder drücken die Schulbank. In der Nähe eines Resorts erklingt sanfte Musik, meist Bossa Nova, aus Lautsprechern, die diskret im Gebüsch versteckt sind. Passend zur beschwingten Musik ist in den Strassen hin und wieder ein Pfau zu beobachten – die Tiere wurden hier ausgesetzt, um das öffentliche Leben zu verschönern.

Hier wohnen die Manager.

Auf der anderen Seite der Grenze, in Haiti, dem ärmsten Land La-
teinamerikas, befindet sich der Ort Ouanaminthe. Hier sind die Häuser aus Holz gebaut, aus Wellblech oder bröckelndem Beton. Schlaglöcher zieren die unbefestigten Strassen. Kinder streichen umher, auf der Suche nach Plastikflaschen, um sich ein paar Cents zu verdienen, auf der Suche nach Gelegenheiten, die Langeweile auszutricksen. Sechs, sieben junge Männer sitzen konspirativ im Kreis, in ihrer Mitte einige Motorräder. Oft modifizieren die Jungs hier Motor und Getriebe, um ihre Roller schneller zu machen, denn sie werden eingesetzt, um Haitianer illegal über die Grenze zu bringen. Es ist ein hartes Umfeld, welches keine Gnade kennt; Messerkämpfe gehören für diese Schleuser und Menschenhändler zum Berufsbild.

Andere junge Männer und junge Frauen gammeln matt im Schatten der Bäume. Sie warten auf bessere Zeiten, auf einen Job, auf eine Chance, doch noch am Leben teilzunehmen. Der Krieg, den schwer bewaffnete Banden in und um Port-au-Prince gegeneinander führen, hält zwar etwas Abstand. Bis zur Hauptstadt sind es knapp 200 Kilometer. Aber das politische Vakuum und der inexistente Rechtsstaat führen zu einer Epidemie sozialer Gewalt, zu Verzweiflung und Verbrechen, zu Betrug und Mord. Es gelten der Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre. Internet- und Telefonverbindungen sind immer wieder unterbrochen; die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln ist nicht gewährleistet. Plündernde Banden ziehen umher.

Hier wohnen die Arbeiter.

Mitten auf der Grenze, mitten zwischen diesen beiden gegensätzlichen Welten, liegt die Freihandelszone Codevi. Ein Industriepark, in dessen riesigen Hallen rund 18 000 Menschen arbeiten, die meisten an der Nähmaschine. Sie produzieren für Levi’s, Fruit of the Loom, GAP, Dockers, Calvin Klein, Carhartt, Hanes, Victoria’s Secret und zahlreiche andere Marken.

5 Prozent der Arbeiter stammen aus der Dominikanischen Republik, 95 Prozent aus Haiti. Der Firmensitz ist strategisch gewählt: Grupo M, das Textilunternehmen, das die Zone verwaltet, hat seinen juristischen Sitz in der Dominikanischen Republik – aber die Hallen stehen auf dem Boden des wirtschaftlich und politisch entgleisten Haiti, in einer sogenannten Freihandelszone. Diese spezifische geografische und wirtschaftspolitische Lage garantiert dem Unternehmen einerseits einen endlosen Zustrom an Arbeitern, die mangels Alternativen einen kümmerlichen Lohn und miserable Arbeitsbedingungen akzeptieren. Man sagt, länger als zwei Jahre halte es hier kaum jemand aus.

Andererseits profitiert Grupo M dank der Freihandelszone von gesonderten Regeln, was Zölle, Steuern, Einwanderung, Investitionen und Aussenhandel betrifft. Das Gesetz kam hauptsächlich durch den Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der USA zustande. Um das Geschäft in Fahrt zu bringen, erhielt Grupo M finanzielle Unterstützung, unter anderem von einem Ableger der Weltbank.

Auch die tiefen Löhne sind das Resultat einer politischen Agenda, dirigiert von wirtschaftlicher Macht: Als die damalige haitianische Regierung 2009 den Mindestlohn der Arbeiter hatte erhöhen wollen, liefen amerikanische Unternehmen dagegen Sturm; schliesslich war es die Regierung unter Barack Obama, welche die Erhöhung des Mindestlohnes verhinderte. Er lag zuletzt bei einer 6-Tage-Woche bei umgerechnet fünf Dollar am Tag.

Arbeitslosigkeit, fehlende Alternativen und Verzweiflung treiben viele Menschen dazu, das kaum beachtete Arbeitsrecht, gewaltbereite Vorarbeiter, mangelhafte hygienische Bedingungen und erstickende Hitze zu akzeptieren. Für Tausende von Haitianern ist die Arbeit in den Maquilas, wie die Produktionshallen genannt werden, derzeit die einzige Hoffnung auf ein regelmässiges Einkommen, das wegen seit Jahren anhaltender, zweistelliger Inflationsraten aber kaum zum Überleben reicht. Eine Regierung, welche das Land in eine bessere Zukunft führen könnte, ist nicht in Sicht. Arbeit in der Landwirtschaft bleibt möglich, wer Land besitzt, arbeitet derzeit aber vor allem für den Eigenbedarf; Arbeitsplätze in der Landwirtschaft sind rar und prekär.

Ein ehemaliger Betriebsleiter, der anonym bleiben möchte, erzählt, wie schockiert er war, als er, da war er neu in Codevi, die Arbeitsbedingungen sah: «Nicht wenige der Arbeiter klagten über Magenschmerzen, manchmal wurde gar jemand ohnmächtig. So habe ich damit angefangen, Arbeiter, denen es nicht gut ging, in mein Büro zu holen, wo ich ihnen etwas zu essen gegeben habe. Das hat sich rasch herumgesprochen, und bald gab es im ganzen Betrieb eine Epidemie von Magenschmer-
zen. Und dies allein, weil die Leute ein Stück Brot oder einen Keks haben wollten.»

Dass an den Nähmaschinen von Codevi überhaupt noch gearbeitet wird, ist auch aus anderen Gründen keine Selbstverständlichkeit. Nach dem Mord an Präsident Jovenel Moïse im Jahr 2021 wurden die Maquilas in zahlreichen Städten Haitis geschlossen. Bewaffnete Banden plünderten und brandschatzten, kaperten Treibstoffdepots, die unentbehrlich für den Betrieb der Hallen sind.

Die Gefahr eines Überfalls ist auch in Codevi präsent, und die Manager der Unternehmen – so gut wie keiner unter ihnen stammt aus Haiti – investieren viel Geld in Wachpersonal, vergitterte Fenster und geschützte Fluchtwege. Es gibt gesicherte Räume, Bunker genannt. Pläne legen fest, welche leitenden Mitarbeiter und Chefs sich dort, falls Gewalt ausbricht, in Sicherheit bringen können. Die Bosse schützen sich mit diesen Massnahmen nicht nur vor Kriminellen, sondern auch vor den eigenen Arbeitern. Brechen Unruhen aus – oft provoziert durch ein gewalttätiges oder diskriminierendes Verhalten eines Aufsehers, es folgen manchmal Streiks, Brandstiftung und Revolten –, fliehen die Manager durch die Fenster ihrer Büros und gelangen, dank der geografisch vorteilhaften Lage, nach ein paar Dutzend Metern schon auf den Boden der Dominikanischen Republik, wo Polizei und Militär sie vor den wütenden Arbeitern beschützen.