Der Morgen ist die schrecklichste Zeit des Tages. Du wachst auf – und greifst, noch bevor du die Augen geöffnet hast, zum Telefon. Du suchst nach Nachrichten über die Folgen der nächtlichen Luftangriffe. Du betrachtest Fotos von brennenden Häusern und hoffst, dass es auch dieses Mal nicht dein Zuhause getroffen hat. Das ist fürchterlich. Solange du weisst, dass das Haus, in dem du gelebt hast, noch steht, bleibt die Illusion, dass die Welt nicht vollständig zerstört ist. Dabei haben wir unser Zuhause – und vor allem unser gewohntes Leben – am 24. Februar verloren, an diesem ersten schrecklichen Morgen, als Explosionen das ganze Land aufweckten noch vor Sonnenaufgang.
Mein Mann, mein 6-jähriger Sohn und ich haben Kyjiw am Vortag verlassen. Wir nahmen nur wenige Dinge mit, weil wir hofften, dass unser Vorhaben bloss eine nutzlose Vorsichtsmassnahme wäre. Wir stellten uns vor, wie wir eine Woche später nach Hause zurückkehren und über all das mit Freunden lachen würden, die unsere Entscheidung als Panikmache abtaten. Nachdem ich die Wohnung besonders gründlich geputzt hatte, was die Anspannung wohl ausgleichen sollte, trank ich Tee in unserer Küche und war voller Liebe zu diesem Ort, unserem Zuhause. Ich dachte daran, wie sehr ich die Aussicht aus dem Fenster liebe: Wir blicken auf eine der schönsten Kirchen in Kyjiw, die St.-Andreas-Kirche. Ich liebe die Blumen auf der Fensterbank, die schon die ersten Wärmestrahlen gespürt haben und wieder wachsen. Ich liebe diese Tischdecke und die Tasse, aus der ich Tee trinke. Ich liebe jedes einzelne Foto, das mit Magneten am Kühlschrank befestigt ist, und die Erinnerungen, die in ihnen stecken. Auf diesen Fotos sind wir glücklich. In den Bergen, beim Rafting oder einfach daheim. Mein Mann Serhiy (er hat sein Zuhause 2014 zum ersten Mal verloren, als Russland Luhansk besetzte) erzählte mir kürzlich, dass er sich erst in dieser Wohnung, unserer ersten gemeinsamen, endlich nicht mehr wie ein Geflüchteter fühlte, sondern wieder ein Zuhause hatte.
Jetzt tun diese Erinnerungen weh. Ebenso wie Gedanken an die Zukunft. In den ersten Kriegstagen konnten wir höchstens eine Stunde im Voraus planen. Inzwischen ist der Planungshorizont ein bisschen länger: ein Tag. Weiter als an den nächsten Tag denken wir nicht.
Wir leben zusammen mit mehreren Kollegen im Lwiwer Büro unserer Redaktion. Wir schlafen in Schlafsäcken auf dem Boden. Unser Essen bereiten wir alle gemeinsam auf dem Gaskocher zu. Zum Glück haben wir eine Dusche und einen grossen Keller, falls russische Raketen im Zentrum von Lwiw einschlagen sollten. In der ersten Nacht hier, als wir uns einen Schlafplatz einrichteten, konnten wir lange nicht bestimmen, wo der sicherste Ort ist, möglichst weit weg von den Fensterscheiben, die von der Druckwelle splittern könnten. Mein Mann und ich bewegten unsere Isomatten hierhin und dorthin, bis wir irgendwann endlich damit aufhörten. Kaum hatten wir uns hingelegt und begonnen, mit dem Sohn Harry Potter zu lesen, richtete er den Blick nach oben und sagte ganz beiläufig, auf Erwachsenenart: «Mama, wir haben das Glas im Radiogerät über uns nicht bemerkt. Wenn es in der Nähe explodiert, wird uns dieses Glas töten.» Das ist kein Gedanke für meinen sechsjährigen Sohn. Aber so sieht unser neuer Alltag aus.
Wir leben in unserem Büro-Schutzraum, und hier arbeiten wir auch. Krieg verändert den Beruf, denn wenn der Feind dein Land zerreisst, kannst du nicht mehr neutral bleiben. Wir kämpfen an der Informationsfront. Unser Fokus liegt auf menschlichen Schicksalen. Wir erzählen vom Krieg, gravieren in Texte und Bilder die Tiefe der Tragödien und des Heldenmuts einzelner Menschen. Wir wollen verhindern, dass sie zu Statistiken werden.
Wir erzählen von Natalia, einer Schauspielerin und Sängerin, die zusammen mit ihren Kollegen im Theater eine Unterkunft für diejenigen organisiert hat, die aus vom Krieg betroffenen Orten nach Lwiw kommen. Die Betten sind aus Theaterpodesten gebaut und stehen einfach auf der Bühne. In den Tagen, als Natalia ihre Herberge für Kriegszeiten aufbaute, war ihre Familie in Charkiw – gerade als der Feind die zweitgrösste ukrainische Stadt aus der Luft bombardierte und versuchte, sie zu zerstören. Während sie Unterwäsche, Handtücher und Kleidung sortierte, die die Bewohner von Lwiw für Bedürftige gesammelt hatten, schaute sie ständig aufs Telefon, um sich zu vergewissern, dass ihre Verwandten online – und damit am Leben waren.
Wir erzählen von Rettungskräften und Kämpfern, Männern und Frauen, die unser Land verteidigen. Eines der Bilder zeigt einen Mann mit grauem Bart, Bluttropfen im Gesicht. In seinen Augen schimmern Kraft und Schmerz zugleich. Vasyl mit dem Rufnamen «Leshij», Waldmensch, hat den Kampf gegen die Angreifer gewonnen. Und er hat gerade erfahren, dass sein Sohn gefallen ist.
Wir erzählen von Menschen, die ein Wunder vor dem Tod gerettet hat, während sie aus Irpin, einer Kyjiwer Vorstadt, evakuiert wurden. Vor ein paar Wochen war Irpin noch ein kleines Paradies. Neue Wohnsiedlungen mitten im Wald zogen Menschen an, die der geschäftigen Hauptstadt überdrüssig waren. In nur wenigen Tagen verwandelte Russland das Städtchen in eine Hölle – ganze Viertel wurden dem Erdboden gleichgemacht. Gezielt feuerte die russische Armee auf Menschen, die versuchten zu fliehen.
All diese Geschichten sind persönlich. Während unsere Journalistin in der Nähe der gesprengten Brücke aus Irpin arbeitete, unter deren Überresten Hunderte von Menschen Schutz vor dem Beschuss suchten, versuchte in etwa derselben Gegend meine Schwiegermutter irgendwie zu überleben und sich durchzuschlagen.
Wir alle nehmen an diesem Krieg teil. Unsere Reporterin aus Cherson (der grossen Stadt im Süden der Ukraine, der einzigen, die die Besatzungsmächte eingenommen haben) riskiert ihr Leben und schreibt über mutige Bürger, die jeden Tag mit ukrainischen Fahnen demonstrieren und im Angesicht bewaffneter russischer Soldaten skandieren: «Cherson ist Ukraine!» Unsere Reporterin aus Charkiw versteckte sich mit ihrem 5-jährigen Kind vor den Bombardierungen in der U-Bahn und im Keller, bis sie beschloss, aus der belagerten Stadt zu fliehen, auch wenn sie in ihrem Auto dadurch zu einer lebenden Zielscheibe für den Feind wurde. Unser Redakteur bleibt in Kyjiw und entlädt Tag und Nacht Waggons mit Hilfsgütern, die aus dem Hinterland oder aus dem Ausland kommen.
Wir müssen keine Geschichten mehr für unsere Reportagen suchen. Jetzt sind wir selbst ihre Protagonisten. Wir wissen nicht mehr, welches Datum gerade ist oder welcher Wochentag, aber wir wissen genau, welchen Kriegstag wir schreiben. Heute ist der 25.
Jede Nacht schlafen wir angsterfüllt ein. Angsterfüllt springen wir fast jede Nacht bei Sirenengeheul aus unseren improvisierten Betten. Das geschieht normalerweise um 3, 4 Uhr morgens. Sobald wir die Augen öffnen, greifen wir angsterfüllt nach unseren Telefonen, in der Hoffnung, keine neuen Wunden am Körper des Landes zu sehen, sondern die Nachricht von einer weiteren Niederlage des Feindes und unserem Sieg. Der Morgen wurde zur schrecklichsten und gleichzeitig zur ermutigendsten Zeit des Tages.
Marichka Paplauskaite
Marichka Paplauskaite ist Chefredakteurin der Kyjiwer Zeitschrift Reporters. Übersetzt aus dem Ukrainischen von Dmitrij Gawrisch.