Marcos Cux war gerade 14 Jahre alt geworden, als er sich an einem Donnerstagabend im Februar 2022 seinen gummierten grünen Arbeitsoverall anzog. Die dazu passende Jacke war für seine schmalen Schultern viel zu gross. Er packte ein Paar Gummistiefel mit Stahlkappen ein und zwei Paar Handschuhe, die er übereinander ziehen wollte, da schon kleinste Risse im Material zu chemischen Verbrennungen auf der Haut führen konnten. Während die anderen im Wohnwagen schliefen, fuhr sein Cousin ihn zur Putzschicht in einem Hühnerschlachthof im ländlichen Virginia. Er befindet sich an einer unscheinbaren Landstrasse und ist von Hecken und einem hohen Metallzaun abgeschirmt.
Das von Perdue Farms betriebene Werk verarbeitet pro Woche 1,5 Millionen Masthühner. Jeden Morgen vor Sonnenaufgang liefern Lkw die Vögel an, die so dicht an dicht in Stahlkäfige gestopft sind, dass sie sich nicht bewegen können. Möwen kreisen über dem Betrieb, sie werden von den Schlachtabfällen im Müll angelockt. In einem abgedunkelten Tötungsraum werden die Hühner von Arbeitern kopfüber an einem Förderband aufgehängt. Sie werden mit Stromstössen betäubt und fahren dann an scharfen Messern vorbei, die ihnen den Hals durchtrennen. Im Entfederungsraum werden sie vom Förderband in ein Heisswasserbad getaucht, anschliessend entfernen Maschinen ihnen Füsse, Kopf und Eingeweide. Den Rest zerlegen Arbeiter in abpackbare Hähnchenteile.
Wenn Marcos und die anderen aus der Putzkolonne nach Mitternacht im Schlachthof eintrafen, lag ein Geruch von Verwesung in der Luft. Sie wateten durch ein Gemisch aus Wasser, Fett und Blut, das in einen Kanal ablief. Marcos sammelte die Hähnchenteile auf, die von der Tagesschicht liegen gelassen worden waren. Dabei musste er sich beeilen, bis 5 Uhr morgens musste der Betrieb sauber sein. Er nahm die Abdeckgitter von dem Kanal und spritzte die Maschinen mit über 50 Grad heissem Wasser aus einem Hochdruckschlauch ab.
Marcos war einige Monate zuvor aus einem Dorf in Guatemala an die Ostküste von Virginia gekommen. Bevor er aus Guatemala wegging, hatte seine Familie, die unter den Nachwirkungen der Pandemie litt, Schwierigkeiten, die Stromrechnung zu bezahlen. Sie mussten auf Mahlzeiten verzichten und konnten sich kein Milchersatzpulver für seine Schwester leisten. Seine Eltern wurden immer verzweifelter. Sie wussten, dass man Erwachsene an der US-Grenze zurückschickt, unbegleiteten Minderjährigen die Einreise aber erlaubt wird.
Die Politik geht auf ein Gesetz aus dem Jahr 2008 zurück, das Kinder davor schützen sollte, dass ihnen in mexikanischen Grenzstädten etwas zustösst. Dieses Schlupfloch hat sich in anderthalb Jahrzehnten in Zentralamerika herumgesprochen. Marcosʼ Eltern entschieden also, dass er sich in den Norden aufmachen sollte, um einen Weg zu finden, Geld zu verdienen. Sie nahmen einen Kredit auf ihren Grundbesitz auf, um einen «Kojoten» zu bezahlen – eigentlich ein Schleuser, in diesem Fall aber eher eine Art Reisevermittler. Er sollte Marcos helfen, in die USA zu gelangen, ohne gekidnappt oder verletzt zu werden. Marcos schlug sich zu seiner Cousine in Parksley durch, einer Gemeinde mit 800 Einwohnern, die zwischen dem Perdue-Werk und einem anderen grossen Hühnermastbetrieb von Tyson Foods liegt.
Im Zuhause seiner erwachsenen Cousine Antonia de Calmo war es bereits sehr eng. Sie lebte mit ihrem Mann und vier Kindern in einem Trailerpark namens Dreamland, war aber bereit, Marcos aufzunehmen, nachdem seine Mutter ihr am Telefon unter Tränen erklärte, dass es für ihre Familie keine andere Möglichkeit mehr gab. Laut US-Bundesrecht dürfen Minderjährige wegen der hohen Verletzungsgefahr nicht als Reinigungskräfte in Schlachthöfen arbeiten, aber mithilfe eines Klassenkameraden, der bereits im Werk arbeitete, besorgte Marcos sich falsche Dokumente, die ihn unter falschem Namen als einen Mann in seinen Zwanzigern auswiesen. Arbeiter erzählten mir, dass ein Drittel des nächtlichen Reinigungstrupps des Perdue-Werks aus Kindern bestand, als Marcos eingestellt wurde. Die Arbeit war anstrengender, als Marcos gedacht hatte, aber er wurde auch besser bezahlt, als er es sich je hätte träumen lassen – er bekam 100 Dollar für jede Sechs-Stunden-Schicht. Das war mehr, als er zu Hause in einem Monat verdienen konnte.
Nachdem Marcos die Maschinen abgespritzt hatte, schrubbte er Blut und Fett von den Stahlteilen. Dazu werden Chemikalien verwendet, die bei Hautkontakt Blasen hervorrufen, die erst nach Monaten wieder abheilen. Gegen 2 Uhr 30 nachts meinte Marcos im Entbeinungsbereich den Fetzen eines Gummihandschuhs im Förderband zu sehen und griff hinein. Plötzlich erwachte die Maschine zum Leben. Ein Kollege auf der anderen Seite der Fabrik hatte sie eingeschaltet. Er hatte nicht gesehen, dass Marcos an der Produktionslinie kniete und den linken Arm weit hineingesteckt hatte.
Das Förderband riss den Ärmel von Marcosʼ viel zu weiter Jacke mit sich und schleifte ihn über den Boden. Plastikzähne bohrten sich durch seine Muskeln und rissen seinen Unterarm bis auf die Knochen auf. Nachdem man seine Schreie gehört und den Strom abgeschaltet hatte, hing sein Arm nur noch schlaff an ihm herunter, ein tiefer, dreieckiger Schnitt klaffte auf seiner gesamten Länge. Zwischen Ellbogen und Handgelenk hing ein Strang aus weissen Sehnen heraus, der Marcosʼ Kollegen in Schrecken versetzte. An ihren Gesichtern konnte er ablesen, dass etwas Schreckliches geschehen war, aber er spürte keinerlei Schmerz, als das Blut aus der Wunde zu schiessen begann und er das Bewusstsein verlor. Eine Vorgesetzte rief beim Notruf an, um den Unfall zu melden. «Wir wissen nicht, was wir tun sollen», sagte sie mit panischer Stimme. «Er verblutet.» Der Mann in der Leitstelle ging einen Katalog von Fragen zum Zustand des Patienten durch.
«Wie alt ist die verletzte Person?»
Die Vorgesetzte antwortete nicht.
«Was würden Sie denn schätzen?» Keine Antwort.
«So in den Zwanzigern, Dreissigern?», fragte er. «Ähem …», machte die Vorgesetzte mit zitternder Stimme und legte auf.
Als die Sanitäter eintrafen, wurde ein «massiver Blutverlust» gemeldet und Marcos für eine Not-OP in die Unfallchirurgie nach Baltimore geflogen. Er verbrachte zwei Wochen im Krankenhaus, in denen sich das Klinikpersonal wunderte, warum die Papiere des Jungen ihn als erwachsenen Mann namens Francisco auswiesen.
Am Morgen nach Marcosʼ Unfall fingen die Arbeiter in Dreamland an, darüber zu reden, dass einem Kind im Werk fast der Arm abgerissen worden war. Die Nachricht verbreitete sich in der ganzen Siedlung. Es hatte seine Gründe, warum Schichtleiter, Lehrer, Bundeskontrolleure und sogar Polizeibeamte wegen der im Schlachthof arbeitenden Kinder jahrelang nichts gesagt hatten. Jedem war klar, dass sie unter extremem Druck standen, Geld zu verdienen, um ihre Reiseschulden abzubezahlen und ihre Familien in der Heimat zu unterstützen. Aber jetzt, da ein Achtklässler im Krankenhaus lag, fragten sich viele, ob es falsch gewesen war, so lange stillzuhalten.
Die Erfindung von Chicken-Nuggets hat Folgen
Den grössten Teil des letzten Jahrhunderts über war Parksley eine fast ausschliesslich weisse Gemeinde gewesen. Wanderarbeiter kamen und gingen im Rhythmus des Tomaten- und Maisanbaus. Das begann sich zu ändern, als in den 1970ern die beiden Geflügelbetriebe aufmachten. Damals entwickelten die amerikanischen Verbraucher einen wachsenden Appetit auf haut- und knochenlose Hähnchen in Form von Nuggets. Für die steigende Zahl der Verarbeitungsschritte wurden mehr Arbeiter benötigt, und so entwickelten sich die Unternehmen, die heute jedes dritte Pfund Geflügelfleisch produzieren, das in den USA verzehrt wird, zu den grössten Arbeitgebern der Region. Es war eine gefährliche, zermürbende Arbeit. Jedes Jahr kündigte die Hälfte der Belegschaft. Um der Fluktuation etwas entgegenzusetzen, fingen die Führungskräfte an, migrantische Saisonarbeiter zu umwerben, die sich in Parksley und seinen Nachbarstädten in Accomack County niederliessen und das ganze Jahr über im Werk arbeiteten.
In den letzten Jahren hat sich die Armut in Mittelamerika verschlimmert, und so hat sich die Belegschaft in den Betrieben erneut verändert. Seit 2021 kamen mehr als 300 000 minderjährige Migranten auf eigene Faust in die USA. Die meisten von ihnen haben Vollzeitstellen gefunden, was zu einem Wiederaufleben der Kinderarbeit geführt hat, wie sie seit einem Jahrhundert nicht mehr vorgekommen ist. In den Schlachthöfen suchen nicht mehr nur spanischsprachige Erwachsene nach Arbeit, sondern auch Kinder, die meisten davon aus Guatemala, einem der ärmsten Länder der Region.
Die Pandemie hat das landwirtschaftlich geprägte Hochland hart getroffen. Marcosʼ Familie hat dort auf einem kleinen Stück Land Vieh gezüchtet. Mit den Lockdowns sind die Gelegenheitsjobs zunehmend verschwunden, mit denen sie sich über Wasser hielt, die Lebensmittelpreise stiegen rasant, und dann wurde auch noch der Vater krank. Als seine Eltern ihm sagten, er solle in die USA gehen, um zu arbeiten, war er anfangs begeistert. Er stellte sich ein Land vor, in dem es vor allem Wolkenkratzer und Einkaufszentren gab.
Nach seinem Grenzübertritt verbrachte Marcos einige Wochen in einer Flüchtlingsunterkunft. Die Behörde teilt den Kindern erwachsenes Betreuungspersonal zu, das sie beschützen soll, während ihr Fall von den Einwanderungsbehörden bearbeitet wird – ein Prozess, der Jahre dauert. Zu Beginn der Regierungszeit von Joe Biden kamen so viele Kinder über die Grenze, dass die Unterkünfte aus allen Nähten platzten und Kinder manchmal in gefängnisähnlichen Einrichtungen untergebracht werden mussten, die von der Zoll- und Grenzschutzbehörde betrieben wurden. Das Ministerium für Gesundheitspflege und soziale Dienste drängte die Mitarbeiter in den Unterkünften deshalb, die Kinder schnell zu sogenannten Sponsoren zu schicken, die sie bei sich aufnehmen und für sie sorgen.
In der Regel haben Kinder, die in die USA kommen, eine Vorstellung davon, bei wem sie unterkommen können, sei es bei einem Eltern- oder Geschwisterteil oder wie in etwa der Hälfte der Fälle bei entfernten Verwandten oder Freunden der Familie. Während Eltern und Geschwister die Kinder meist unterstützen, nehmen andere Erwachsene sie häufig nur unter der Bedingung auf, dass sie arbeiten gehen und Miete zahlen.
Marcos gab in der Flüchtlingsunterkunft die Telefonnummer von seiner Cousine Antonia an. Die Behörde meldete sich bei ihr und schickte eine Liste von Anforderungen, die an Sponsoren gestellt wurden. Ganz oben stand, dass sie Marcos Kost und Logis bieten musste. Ausserdem sollte sie ihn zur Schule schicken. Beinahe ganz am Ende der Liste wurde von ihr auch verlangt, zu garantieren, dass er nicht arbeiten würde. Antonia stimmte zu, hatte aber nicht die Absicht, ihn vom Arbeiten abzuhalten. Sie wusste genau, dass er nur deshalb gekommen war. Sie selbst, ihr Mann, ihre älteste Tochter und die meisten anderen, die sie kannte, arbeiteten für die Hühnerbetriebe, und wahrscheinlich würde auch Marcos dort Arbeit finden.
Nach Marcosʼ Ankunft in Virginia war nie jemand von den Behörden gekommen, um nach ihm zu sehen. Dennoch wurde er für alle Fälle in der Schule angemeldet. Marcos besuchte eine achte Klasse im Schuldistrikt Accomack. Von Antonia lieh er sich 800 Dollar, um in einem benachbarten Wohnwagen einen falschen Ausweis zu kaufen, und mit 13 wurde er für die nächtliche Reinigungsschicht eingestellt. Antonia holte ihn jeden Morgen um 6 Uhr 30 am Werk ab, 20 Minuten später wartete er vor dem Trailerpark auf den Schulbus.
Überall in Amerika arbeiten Teenager auf legale Weise. Die Arbeit, der Marcos nachging, ist für Jugendliche dagegen streng verboten. Das US-Bundesrecht untersagt es 14-Jährigen, nachts oder an Schultagen länger als drei Stunden zu arbeiten. Ältere Teenager dürfen länger arbeiten, aber von den gefährlichsten Arbeitsaufgaben sind Minderjährige kategorisch ausgeschlossen. Dazu zählen das Ausheben von Gräben, das Reparieren von Dächern und das Reinigen von Schlachthöfen. Aber je mehr Kinder in die USA kommen, um ihren Familien zu helfen, desto mehr landen in solchen Betrieben. In vielen der von einzelnen Unternehmen dominierten Werkssiedlungen im «Broiler-Gürtel», der sich von Delaware bis Texas erstreckt, zeigen sich die brutalen Folgen. So starb im Juli 2023 ein Achtklässler aus Guatemala während einer Reinigungsschicht in einem Geflügelschlachthof von Mar-Jac in Mississippi. In Ohio wurde einem 17-Jährigen bei Reinigungsarbeiten das Bein unterhalb des Knies abgerissen. In Michigan verlor ein Kind seine Hand bei einem Unfall mit einem Fleischwolf.
Früher war das Reinigungspersonal in Accomack direkt bei den Schlachthöfen angestellt, aber seit einigen Jahren vergeben die Betriebe diese Arbeiten an externe Dienstleister, die weniger zahlen und es den Fleischverarbeitern erlauben, die Verantwortung abzuwälzen. Auf der Website des grössten derartigen Dienstleisters in den USA, Packers Sanitation Services Inc., heisst es, man könne dem Kunden «die Haftung und die Risiken abnehmen». Die Biden-Regierung hat zugesichert, mit Geldstrafen gegen Betriebe vorzugehen, die gegen Kinderarbeitsgesetze verstossen, hat diese Strafen aber lange nur Subunternehmern auferlegt. (Anm. d. Red.: Im August 2024 hat Mar-Jac einem Vergleich mit dem US-Arbeitsministerium zugestimmt, der das Unternehmen im Zusammenhang mit dem Tod des minderjährigen Arbeiters zur Zahlung eines Bussgeldes in Höhe von 164 000 Dollar verpflichtet.)
Eine Studie der Washington State University von 2022 hat festgestellt, dass viele erwachsene Arbeitskräfte bereit wären, Jobs in der fleischverarbeitenden Industrie anzunehmen, wenn diese nur etwas besser bezahlt wären – um die 2 Dollar 85 zusätzlich pro Stunde. Aber die Einzigen, die in Parksley bereit waren, die Nachtschichten zu übernehmen, waren Migrantinnen, die für ihre Kinder da sein wollten, wenn sie nach der Schule nach Hause kamen. Als nach und nach Kinder wie Marcos eintrafen und unter Druck standen, Geld zu verdienen, deckten sich die Bedürfnisse der Betriebe perfekt mit den Bedürfnissen der Neuankömmlinge.
«Sie müssen arbeiten», sagt Miguel Cobo, stellvertretender Leiter der Putzschicht bei Perdue. Und die Betriebe brauchen Leute, die putzen. «Wenn solche Unternehmen zu genau darauf achten würden, wer für sie arbeitet, könnte keines von ihnen so weitermachen wie bisher.» Cobo und die anderen Schichtleiter hatten sich geeinigt, die Kinder früher gehen zu lassen, damit sie rechtzeitig in der Schule eintrafen. «Es ist ein Kreislauf: Sie helfen uns, wir helfen ihnen.»
Als Marcos wieder zu Bewusstsein kam, fand er sich allein in einem Krankenhauszimmer zwischen Infusionsschläuchen und piepsenden Maschinen wieder. Er machte sich Sorgen, was seine Eltern tun würden, wenn er nicht wieder gesund werden würde. Sie waren noch immer mit 6000 Dollar verschuldet. Also glaubte er, er müsse sich erholen und seine Chefs überreden, ihn wieder einzustellen. Die Ärzte konnten Marcosʼ Arm retten, und nach zwei weiteren Operationen und sechs Monaten Physiotherapie konnte er ihn langsam wieder bewegen. Aber weil man ihm Haut von seinem Oberschenkel auf den Unterarm transplantiert hatte, sah er ein wenig wie eine Steppdecke aus. Fayette Industrial, eine in Tennessee ansässige Reinigungsfirma, die für Perdue tätig war, übernahm seine Behandlungskosten.
Die zwei unterschiedlichen Kindheiten von Dreamland
An einem Nachmittag im September 2022, einige Wochen nach seiner dritten Operation, stand Marcos mit Antonia auf der Veranda, schaute auf Dreamland und fragte sich, wie alles so schieflaufen konnte. «Es ist überhaupt nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte», sagte er. Der Trailerpark ist praktisch die Werkssiedlung der Schlachthofarbeiter. Hier wird ausschliesslich Spanisch gesprochen. Die grünen Jacken der Reinigungsteams hängen auf Wäscheleinen, vor den Türen liegen Schutzhelme mit dem Logo der Reinigungsfirma. Die Betriebe in Accomack County sind nicht nur die wichtigsten Arbeitgeber der Region, sondern auch wichtige Stützen der Gemeinschaft. Die Kinder gehen mit von Perdue gespendeten Schultaschen in den Unterricht. Tyson verteilt Tausende Pfund Hähnchen und Trockenwaren an Ersthelfer und Tafeln, auf die Familien angewiesen sind, weil fast jedes dritte Kind in der Region in Armut lebt. Perdue kauft Fahrzeuge für die freiwillige Feuerwehr und steuert Hähnchenfleisch für Spenden-Barbecues bei. Das Herzstück der im Sommer 2023 eröffneten Bibliothek von Parksley bildet der Perdue Childrenʼs Room.
Fast alle Familien in Dreamland stammen ursprünglich aus Mexiko oder Mittelamerika, dennoch kann man im Trailerpark zwei ganz unterschiedliche Kindheiten verbringen. Manche Kinder beeilen sich, nach der Schule nach Hause zu kommen, ein schnelles Abendessen einzunehmen und so früh wie möglich schlafen zu gehen, damit sie für ihre Arbeit aufstehen können. Andere Kinder, meist solche, die bei ihren Eltern wohnen, verbringen die Zeit nach der Schule damit, vor dem Wohnwagen rumzuhängen. Viele haben Teilzeitjobs, mähen Rasen oder babysitten, aber sie arbeiten nicht, um Schulden abzuzahlen oder ihren Teil zur Miete beizutragen. Darum kümmern sich ihre Eltern, die sie ermahnen, ihre Hausaufgaben zu erledigen, damit sie nicht bei Tyson oder Perdue landen.
Sieben Monate nach seinem Unfall war Marcos etwas geworden, was in der Community selten ist: ein 14-Jähriger, der weit weg von seinen Eltern lebt, aber nicht arbeitet. «Wegen des Unfalls wollen sie mich bei der Reinigungsfirma nicht wieder anstellen», erzählte er. Seinen Arm konnte er noch immer nicht gut heben. Meist hing er schlaff an ihm herunter. Obwohl es über 30 Grad warm war, trug er Shirts mit langen Ärmeln, um seine Narben zu verbergen.
Durch den Unfall hatte Marcos einen Monat in der achten Klasse verpasst. Die Schüler, die mit ihm in der Schicht gearbeitet hatten, hatten den Lehrern erzählt, was geschehen war, aber als sich ein Beratungslehrer bei Antonia meldete, erzählte sie ihm am Telefon, Marcos wäre zu Hause hingefallen. «Ich traute mich nicht, mehr zu sagen – wegen seines Alters», meinte sie. Sie weigerte sich, der Schulleitung Marcosʼ Krankenakte vorzulegen. Diese lief auf einen falschen Namen.
Marcos dachte darüber nach, nach Hause zurückzukehren. «Ich bin nur gekommen, weil die Dinge so schlecht standen», erzählt er. Aber wenn er zurück gehen würde, hätte seine Familie keine Chance, ihre Schulden je abzuzahlen, und würde ihren Grundbesitz verlieren. Also ging er zur Schule. Er begann, dem Unterricht mehr Aufmerksamkeit zu schenken und nachts Englisch zu lernen. Viele Kinder aus Dreamland brechen die Schule nach der Mittelstufe ab, aber zu seiner eigenen Überraschung fand Marcos sich plötzlich in der neunten Klasse wieder – der ersten an der Highschool.
Er fühlte sich schuldig, aber Antonia verstand, in welcher misslichen Lage er steckte: «Er wollte seiner Mutter und seinem Vater helfen, aber im Moment kann er nichts tun. Wenn man einmal hierhergekommen ist, kann man wegen der Schulden nicht mehr zurück.» Marcos und Antonia blickten auf den sorgfältig gestrichenen Wohnwagen, in dem Cobo, der stellvertretende Schichtleiter bei Perdue, lebte. Zwei Nächte zuvor hatte er Dienst, als eine junge Frau ihr Bein unter einem Palettenhubwagen einklemmte und mit dem Krankenwagen abtransportiert werden musste. Cobo arbeitete auch in der Nacht, als Marcos sich verletzte, und hatte ein Foto vom zerfetzten Arm des Jungen gemacht, um es in anderen Schichten als warnendes Beispiel zu zeigen. Wenn er Marcos heute sah, hatte er Mitleid. Seinen Chefs hatte er von Marcosʼ wahrem Alter nichts gesagt, weil er den anderen jungen Mitarbeitern keine Probleme bereiten wollte.
Das Schlimmste ist das Einatmen der Säuredämpfe
Der Priester der katholischen Kirche bei Dreamland liess nach dem Unfall eine Kollekte für Marcos durchführen. Er wusste, dass viele Kinder der Gemeinde nachts arbeiteten, sah für sich aber nur die Rolle eines Beobachters. Ein Polizeibeamter, der Softball-Coach an der Highschool war, sprach mit einem Lehrer über den Unfall, mischte sich aber nicht ein. Es schien ihm kein Fall für die Strafverfolgungsbehörden zu sein. Sofern also niemand beim Arbeitsministerium anrief und den Beamten einen Tipp gab, würde die Behörde nicht erfahren, was geschehen war. Sie beschäftigt 750 Beamte, die für die Durchsetzung gerechter Arbeitsrichtlinien an etwa 11 Millionen Arbeitsstätten, darunter 3000 Schlachthöfen, zuständig sind.
Weil Marcos ins Spital eingeliefert worden war, musste die von Perdue beauftragte Putzfirma den Unfall der Arbeitssicherheitsbehörde melden. Die Bundesbeamten gaben die Meldung zur Untersuchung an das Büro in Virginia weiter. Dort wurde sie einem Compliance-Beamten zugewiesen, der sich auf seinem Linkedin-Profil rühmte, schon mit 14 Jahren den ersten Job gehabt zu haben. Er liess das Unternehmen eine Selbstkontrolle durchführen. Ein paar Tage später schickte der Sicherheitsbeauftragte von Fayette die meisten Daten und Informationen, die der Beamte angefordert hatte. Nur ein Detail liess er weg: das Alter des verletzten Arbeiters. Als Grund für den Unfall gab er eine «mangelhafte Arbeitsunterweisung» an. Weniger als zwei Wochen nach Marcosʼ Unfall schloss der Beamte den Fall ab, ohne jemanden vorzuladen oder auch nur in die Nähe des Werks zu kommen.
Die Arbeiter in der Nachtschicht bei Perdue machten sich Sorgen, dass ihre Chefs nach Marcosʼ Unfall anfangen würden, Kinder und andere, die falsche Namen nutzen, zu feuern. Aber der Betrieb lief weiter wie bisher, nur liessen die Vorgesetzten die Schüler jetzt nicht mehr früher gehen, um den Schulbus zu erwischen. Das schien ihnen ein stillschweigendes Eingeständnis zu sein, dass viele Minderjährige in der Schicht arbeiteten. Bei der Reinigungsfirma gab es immer offene Stellen. Neue Arbeiterinnen und Arbeiter mussten eine mehrere Nächte dauernde Einarbeitung durchlaufen. Im Rahmen des Sicherheitsprotokolls des Werks erhalten sie ein Vorhängeschloss, um die Maschinen, die sie gerade reinigen, gegen ein Wiedereinschalten zu sichern. Auch der 14-jährige Emilio Ortiz erhielt diese Einweisung. Emilio war vor kurzem aus dem mexikanischen Chiapas nach Virginia gekommen. Er stiess zu seinen beiden älteren Brüdern hinzu, die bereits ein halbes Jahr Erfahrung in Nachtschichten gesammelt hatten. Sie waren 2021 mit Einverständnis des Ministeriums für Gesundheitspflege und soziale Dienste bei einer Tante gelandet. Damals waren sie 15 und 16 Jahre alt. Innerhalb weniger Monate hatten sie genug verdient, um sich ihren eigenen Wohnwagen zu kaufen. Jetzt, da auch Emilio arbeitete, schickten sie Geld an ihre Eltern.
Emilio ging nicht zur Schule. Er arbeitete jeden Tag bis um 17 Uhr in der Landwirtschaft, schnappte sich dann einen Mitarbeiterausweis mit Perdue-Logo und fuhr mit seinen Brüdern im Auto zum Schlachthof. In Mexiko war er bereits seit einigen Jahren nicht mehr zur Schule gegangen. Die Idee, sich in der achten Klasse anzumelden, schien angesichts des vielen Geldes, das er verdienen konnte, eine Zeitverschwendung zu sein. Eines Nachts im Frühjahr 2023 überquerte er vor Schichtbeginn den Parkplatz. Er trug seine zu grosse grüne Arbeitsuniform unter dem Arm und musste fast schon rennen, um mit seinem älteren Bruder Schritt zu halten. Einige der minderjährigen Arbeiter waren dem Tötungsraum zugeteilt worden, andere verbrachten die Schicht auf Leitern, um die grossen Maschinenanlagen zu reinigen. Emilio hatte man eine der Produktionslinien zugewiesen, an denen auch Marcos gearbeitet hatte.
Der Ablauf war jede Nacht genau derselbe. Er und seine Brüder spritzten Blut und Fleischreste mit Hochdruckschläuchen ab, die vom Rückstoss gegen ihre Schultern und ihre Brust gedrückt wurden. Gegen den Lärm der Wasserschläuche trugen die Arbeiter Ohrstöpsel. Das heisse Wasser verwandelte sich in Dampf, und nach einer Stunde waren die Brüder bis auf die Knochen von einer Mischung aus Putzwasser und Hähnchenfett durchnässt. Zusammen mit einem Kollegen schaltete Emilio das Förderband ein und bedeckte es mit einem dichten Schaum aus Chemikalien, der seine Lunge schmerzen liess. Dann hielt er es an und schrubbte Zentimeter für Zentimeter. Mit einer Taschenlampe kontrollierte er alle Ecken und die Unterseite.
Hautschädigungen waren bisweilen nur schwer zu vermeiden. Ein Teenager erklärte, dass er sich in der Nacht zuvor aus dem Nichts eine Verätzung auf der Nase zugezogen hatte. Womöglich war eine Chemikalie von der Decke getropft. Das Schlimmste am Job aber war das Einatmen der Säure, mit der freitags die Oberflächen behandelt wurden. Ein anderer Junge, der den drei Brüdern in einem Schuppen hinter seinem Trailer die Haare schnitt, hatte sie vor dieser Arbeit gewarnt. Auch er hatte mit 14 im Werk angefangen. «Man muss davon das ganze Wochenende lang husten. Aber bis Montag ist man wieder okay», meinte er.
Wenn die Maschinen gewaschen sind, werden sie von einem Kontrolleur des US-Landwirtschaftsministeriums inspiziert. Etwa ein Dutzend dieser Kontrolleure arbeitet in jedem Werk. Tagsüber schauen sie zu, wie die toten Tiere unablässig durch die Produktionslinien fahren und am Ende der Nachtschicht stellen sie sicher, dass alles ordnungsgemäss gereinigt wurde. Wenn sie kamen, verliessen die drei Brüder den Arbeitsbereich oder schauten zu Boden.
Eine Kontrolleurin namens Maria Escalante hatte selbst in der Putzschicht bei Perdue gearbeitet, als sie in den 1990ern nach Virginia gekommen war. Sie stammt aus Guatemala und erhielt ihren legalen Aufenthaltsstatus im Rahmen eines Amnestieprogramms. Damals waren die Reinigungskräfte noch direkt beim Unternehmen angestellt und verdienten umgerechnet 25 Dollar die Stunde. Sie hatte damals die Kontrolleure in ihren weissen Kitteln mit dem Logo des Ministeriums gesehen und bewunderte sie für die Autorität, die sie ausstrahlten. Für den Job brauchte man keinen College-Abschluss, also paukte sie Englisch und bestand nach mehreren Anläufen die Prüfung. Inzwischen arbeitet sie seit 18 Jahren als Kontrolleurin und verdient 28 Dollar die Stunde. Selbstverständlich fielen ihr Kinder wie Emilio auf, aber sie entschied, sie nicht zu melden. Schliesslich ist es ihre Aufgabe, Lebensmittelsicherheitsvorschriften durchzusetzen, nicht Arbeitsgesetze.
«Ich bin nicht dafür verantwortlich, etwas zu sagen. Ausserdem haben die Kinder hier doch niemanden», sagt sie. «Sie müssen arbeiten, um Miete zahlen zu können.» Sie fügt hinzu: «Ich sehe diese Kinder, und sie sind erst 13, 14 Jahre alt. Sie tun mir leid.» Escalante fiel auf, dass es die Kinder mit den Sicherheitsprotokollen oft nicht so genau nahmen. Als sie von Marcos hörte, ging sie sofort davon aus, dass das auch der Grund für seinen Unfall gewesen war.
Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Migrantenkinder in amerikanischen Schlachthöfen arbeiten, kommt es gelegentlich vor, dass Erwachsene doch eingreifen. In Nebraska kam 2022 ein Mädchen aus Guatemala, das für Packers Sanitation arbeitete, mit Säureverätzungen an Händen und Knien in die Schule. Daraufhin rief die Schulverwaltung die Polizei. Das Arbeitsministerium leitete eine Untersuchung ein, dabei stellte man fest, dass in acht Bundesstaaten mehr als 100 Kinder, einige davon erst 13 Jahre alt, für das Unternehmen arbeiteten, unter anderem in Werken von Tyson. Die Regierung verhängte eine Geldstrafe von 1,5 Millionen Dollar gegen das Reinigungsunternehmen, doch für die Fleischverarbeiter, die von der Kinderarbeit profitierten, blieb die Angelegenheit ohne Nachspiel.
Bei Perdue fiel einigen Frauen auf, dass Emilio und seine Brüder in den Pausen immer still nebeneinandersassen, und so verpassten sie ihnen den Spitznamen «die traurigen Brüder». Angelica Gonzalez, die in der Nachtschicht arbeitete und selbst Kinder hatte, sprach oft mit ihnen. Hin und wieder kaufte sie arbeitenden Kindern bei Walmart Kleidung oder bot ihnen ausrangierte Klamotten ihres Mannes an. «Ich weiss wirklich nicht, wie sie es aushalten, so weit weg von ihren Eltern zu sein und so hart arbeiten zu müssen», sagt sie. «Ich habe sie gefragt, wie sie es hinkriegen, aber sie haben nur geantwortet: ‹Wir müssen halt.›» Andere Arbeiterinnen verurteilen die Eltern dafür, dass sie ihre Kinder wegschicken. Arelis Perez, die mit ihren beiden kleinen Töchtern in Dreamland lebt, sagt: «Ich würde keinesfalls wollen, dass meine Mädchen das tun.»
Eine Lehrerin hört nachts den Polizeifunk mit
An einem Morgen im Mai war Marcos als Erster im Klassenzimmer an der Arcadia Highschool. Seine Klasse befand sich in einem hinteren Flur der Schule. Dieser war im Rahmen eines Programms, das der Bezirk für Migrantenkinder eingerichtet hatte, mit Flaggen aus aller Welt geschmückt worden. Gegen Ende der neunten Klasse versuchte er, seinen Frieden mit seiner Rolle als Vollzeitschüler zu machen. Er hatte sich als Figur mit Kreide auf die Tafel gemalt, lächelnd, und darunter auf Englisch geschrieben: «Marcos ist der beste Schüler.» Seine Englischlehrerin Sandra Ellenberger liess das Kunstwerk eine Woche an der Tafel stehen. Die Schule hatte die Migrantenkinder in der neunten Klasse in zwei Gruppen eingeteilt. In Ellenbergers Klasse waren viele Schüler, von denen die Lehrer glaubten, sie würden es bis zum Abschluss schaffen. Nur wenige von ihnen arbeiteten, und die meisten lebten bei ihren Eltern. Die andere Klasse war grösser, 90 Prozent der Schüler hörten irgendwann auf, in den Unterricht zu kommen. Marcos war in der kleineren Klasse gelandet.
«Happy Cinco de Mayo», begrüsste Ellenberger ihre Schüler beim Eintreffen. Anlässlich des mexikanischen Feiertags spielte sie Mariachi-Musik. Wie die meisten Lehrer im Programm sprach sie kaum Spanisch, aber sie suchte nach Wegen, um den Kindern zu zeigen, dass sie ihre Kultur respektierte. Sie hatte das Klassenzimmer mit Zeitungsausschnitten über die Fussballmannschaft der Schule dekoriert. Diese bestand aus so vielen Schülern, die in die USA gekommen waren, dass die Durchsagen bei den Spielen auf Spanisch erfolgten. In einen umgebauten Schrank hatte sie einen Sitzsack gelegt, auf dem Schüler, die nachts gearbeitet hatten, sich ausruhen konnten. Ellenberger verteilte einen Test, und Marcos flog nur so durch die Fragen, während er mit dem Kopf zur Musik wippte. Als der Junge neben ihm mit der Konjugation eines Verbs kämpfte, erklärte Marcos ihm die Regel und flüsterte ihm zu: «Mach dir keinen Kopf. Es ist echt kompliziert.»
Ellenberger hatte sich das ganze letzte Jahr über gefragt, ob sie mehr tun sollte, um ihre arbeitenden Schüler zu schützen. Sie kam aus einer College-Stadt, in der die schwerste Arbeit, die ein Kind haben kann, das Abräumen von Tischen ist. Als sie ihren Eltern von Marcosʼ Unfall erzählte, konnten diese nicht verstehen, warum man es zuliess, dass Kinder in den Schlachthöfen arbeiteten. «Sie waren entsetzt, aber ich habe ihnen erklärt, dass das hier ganz normal ist.» Lehrer sind gesetzlich verpflichtet, Verletzungen, die auf Missbrauch oder Vernachlässigung zurückzuführen sind, zu melden, nicht jedoch Unfälle im Zusammenhang mit Verstössen gegen Kinderarbeitsbestimmungen. Die Lehrer in Accomack wollten keine Meldungen machen, die die Kinder in Gefahr bringen würden.
Hin und wieder zeigten Schüler den Lehrern Säureverätzungen oder vertrauten ihnen an, dass sie allergisch auf die Reinigungslösungen reagierten. Einige Neuntklässler litten unter starkem Husten. Bei einer Schülerin war dieser so schlimm, dass die Lehrer sich an ihren Vormund wandten, der erzählte, ihre Lunge sei durch Bleichmittel verätzt worden. Erst vor kurzem hatte Ellenberger einem Beratungslehrer erzählt, dass einer ihrer Neuntklässler unter dem Druck der Nachtschichten zu leiden schien. Sie hoffte, dass jemand den Vormund des Jungen überreden würde, ihm zu erlauben, nicht mehr arbeiten zu müssen. Stattdessen half der Beratungslehrer ihm, eine Mitfahrgelegenheit zu finden, um vom Perdue-Schlachthof rechtzeitig zur Schule zu kommen. Bei Ellenberger blieb das Gefühl zurück, dass es naiv von ihr gewesen war, mehr zu erwarten.
In der Englisch-Anfängerklasse nebenan trafen die Schüler den Vormittag über nach und nach ein. Die Lehrerin Claire Applegate kam meist in ein überwiegend leeres Klassenzimmer. Sie schätzte, dass 16 ihrer 19 Schüler arbeiteten und einige davon fast so viel Geld verdienten wie sie. Zwei Mädchen aus Dreamland kamen an diesem Tag 45 Minuten zu spät, die Augen rot von Reinigungschemikalien. Applegate begrüsste sie und machte mit dem Unterricht weiter, während sie auf den Tischen einschliefen.
Die Lehrer waren den Anblick von Schülern aus der Mittelstufe gewöhnt, die morgens vor der Schule in Autos, welche sie ohne Führerschein fuhren, schliefen. Sie kamen direkt aus der Nachtschicht. Aber niemand konnte sich daran erinnern, dass ein Schüler je so schwer verletzt worden war wie Marcos, und sie machten sich Sorgen, wen es als Nächstes treffen würde. Applegate hörte nachts manchmal den Polizeifunk mit und fragte sich, ob die Notfälle ihre Schüler betrafen. Einmal rückte die Feuerwehr aus, weil ein Reinigungsmitarbeiter bei Perdue von einem Förderband in eine Höhe von sechs Metern mitgerissen worden war. Als sie ihn aus der Fabrik brachten, hing ein Teil der Maschine noch immer an ihm.
Viele von Applegates Schülern waren nur wenige Jahre zur Schule gegangen. Manche wussten nicht einmal, dass die Erde eine Kugel ist. Andere hatten nie gelernt, wie man einen Bleistift hält, die Uhr abliest oder überhaupt liest. In letzter Zeit war sie sich nicht mehr sicher, ob es für die arbeitenden Kinder, die wahrscheinlich den Abschluss nicht schaffen würden, überhaupt sinnvoll war, weiter zur Schule zu gehen. Wenn sie nicht zum Unterricht kommen würden, könnten sie wenigstens in die Tagesschicht wechseln und nachts schlafen. «Es ist ein moralisches Dilemma, weil es nicht die beste Lösung für sie ist», sagt sie. «Sie werden dadurch nicht weniger Stunden arbeiten, aber Schlafentzug gehört zum Schlimmsten, was man dem Körper antun kann. Ich frage mich, ob sie überhaupt hier sein sollten, denn Geografie oder Trigonometrie brauchen sie nicht wirklich.»
Die einheimischen Jugendlichen neigen dazu, den Kontakt zu den Neuankömmlingen zu meiden, aber Marcos war stolz darauf, dass er jetzt auch in den normalen Klassen mithalten konnte. Während er in der Schule vorankam, schlitterte seine Familie in die Katastrophe. Seine Mutter war krank geworden und musste operiert werden, aber sie konnte kein Krankenhaus finden, das die Operation durchführte, ohne im Voraus bezahlt zu werden. Die 6000 Dollar Schulden wogen schwer auf seinen Eltern, die Zinsen häuften sich. Marcosʼ Mutter erzählte ihm, dass sie ihre Hühner und Truthähne assen und grössere Tiere verkauften, um wieder Strom zu bekommen. «Sie tun alles, was sie können, aber es ist unmöglich, weil sie nicht arbeiten können», erzählt er.
Nach der Schule kehrte er in den Wohnwagen zurück, in dem inzwischen neun Menschen lebten. Einen Monat zuvor war eine Tante aus Guatemala mit ihrer 15-jährigen Tochter Antonieta angekommen. Eigentlich hatten sie geplant, dass die Tante arbeitete, während Antonieta zur Schule ging, aber auf ihrer Reise hatten sie einige Rückschläge erlitten. In Mexiko waren sie von Kidnappern als Geiseln genommen worden und mussten sich Geld von Verwandten leihen, um sich freizukaufen. Sie waren an der Grenze zurückgewiesen worden und beschlossen, die Wüste zu durchqueren. Aber dann fiel Marcosʼ Tante von der Grenzmauer und zog sich einen komplizierten Beinbruch zu, weshalb sie 107 000 Dollar Schulden bei einem Krankenhaus in El Paso anhäuften. Jetzt schlief sie in der Küche und musste zum Laufen ein Gehgestell nutzen. Und statt sich in der neunten Klasse anzumelden, suchte Antonieta einen Job.
Als Marcos in die Küche kam, hatte sich seine Tante ganz in ihren Sorgen verloren. «Ich weiss nicht, wie wir das durchstehen sollen», sagte sie. Marcos nickte und huschte in sein Zimmer. Er öffnete eine Lern-App auf seinem Handy und fing an, Vokabeln Bilder zuzuordnen. Je schneller er Englisch lernte, desto schneller könnte er wieder nützlich sein. Vielleicht würde er einen Job im Fast-Food-Restaurant am Highway bekommen. Bis dahin konnte er nicht viel tun.
Samstags gingen die meisten Leute aus der Stadt in einen kleinen Laden, der Lebensmittel, Medikamente mit spanischen Etiketten und Piñatas verkauft, um dort ihre Gehälter abzuheben und Geld nach Hause zu schicken. Der Laden ist mehr als nur ein Ort, an dem man Geld überweisen kann. Mary Enamorado, die Frau hinter der Kasse, ist zugleich Sozialarbeiterin und Einwanderungsberaterin. «Du arbeitest also schon?», fragte sie eine ihrer ersten Kundinnen des Tages, eine Schülerin aus der Klasse von Claire Applegate. Enamorado war aufgefallen, dass das Mädchen die weisse Debitkarte besass, die die Reinigungsfirmen zur Gehaltsauszahlung benutzten. Die Arbeiter bekommen den Wochenlohn jeden Freitag gutgeschrieben und heben in der Regel am nächsten Tag gleich alles ab. Das Mädchen erzählte Enamorado stolz, dass sie eine Arbeit gefunden hatte.
Enamorados Sohn spielte mit vielen arbeitenden Kindern in der Schulfussballmannschaft. Der Kapitän, der das Team in diesem Jahr bei den Schulausscheidungen des Bundesstaates bis in das Viertelfinale geführt hatte, kam als Zwölfjähriger allein in die USA und begann sofort zu arbeiten, um seinem Sponsor Miete zu zahlen. Ihm gelang es, das Fussballtraining mit den Schichten bei Perdue zu jonglieren. Wenn er nach Auswärtsspielen um 22 Uhr heimkam, schlief er ein paar Stunden und machte sich dann auf den Weg ins Werk. Jetzt stand er wenige Wochen vor dem Abschluss. Er war einer der wenigen Schüler aus seiner Klasse, die es durch die Highschool geschafft hatten. «Wir können alle stolz auf ihn sein», sagte Enamorado. Sie ermutigte Migrantenkinder, die die Schule abgebrochen hatten, im örtlichen Community College Vorbereitungskurse zu besuchen, um doch noch einen Hochschulabschluss zu erlangen. Die meisten träumten davon, zum Militär zu gehen.
Ein anderes Mädchen mit einer Gehaltskarte betrat den Laden. Sie war wenige Stunden zuvor aus der Reinigungsschicht bei Tyson gekommen und hatte Kopfschmerzen von den Chemikalien aus dieser Nacht. Enamorado zahlte ihr 500 Dollar aus und gab ihr Rabatt auf einen Beutel Wassereis. «Pass auf dich auf», sagte sie. Als das Mädchen aus dem Laden ging, schüttelte Enamorado den Kopf. Sie hatte versucht, den Sponsor des Mädchens dazu zu bringen, sie in der Schule anzumelden. «Aber sie müssen noch 14 000 Dollar Schulden abzahlen.»
Nachmittags wurde es im Laden voller. Ein Junge mit einem Flaum über der Oberlippe hob 500 Dollar ab und kaufte eine Flasche alkoholfreien Wein. Ein Teenager, der erst vor kurzem die zehnte Klasse abgebrochen hatte, um in die Tagesschicht zu wechseln, schickte seiner Mutter 150 Dollar. Ein schlanker 15-Jähriger kam herein, der früher mit Enamorados Sohn Fussball gespielt hatte. Aber nach den Frühlingsferien hatte er die Schule abgebrochen, um tagsüber bei Perdue zu arbeiten. Er war nicht gross genug, um die Ellbogen auf den Tresen legen zu können. «Lässt dein Onkel dich nicht zur Schule gehen?», fragte sie ihn, als er seine Karte durch das Gerät zog.
«Sie lassen mich nicht», antwortete er.
«Wer genau?», fragte Enamorado.
Aber der Junge antwortete nicht. Manchmal wollte sie die Kinder mit den Gehaltskarten am liebsten genau ausfragen, aber sie wusste, dass das schlecht fürs Geschäft ist. Ein paar Meilen die Strasse rauf gab es noch einen Laden mit einem Kartenlesegerät. Sie gab dem Jungen 500 Dollar und half ihm, das Geld an seine Mutter zu schicken. «Sie vermissen dich in der Fussballmannschaft», sagte Enamorado.
Ende des Sommers findet Marcos einen neuen Job
Ich selbst kam im Sommer 2022 erstmals nach Parksley. Meine Recherchen zu migrantischer Kinderarbeit, die ich zu diesem Zeitpunkt seit anderthalb Jahren betrieb, hatten mich hierhergeführt. Als die ersten Artikel erschienen, reagierte die Biden-Regierung damit, die Bestimmungen zur Kinderarbeit stärker durchzusetzen. Jedes Mal, wenn ich wieder nach Parksley kam, fragte ich mich, ob die Kinder aus den Schlachthöfen von Perdue und Tyson gefeuert worden waren. Ich dachte, die Kontrolleure der Arbeitsbehörde würden die Werke vielleicht inspizieren. Aber die Halbinsel vor dem Festland von Virginia bewahrte ihr Geheimnis für sich.
Das änderte sich im Mai 2023, als Perdue darauf aufmerksam wurde, dass ich bei einem meiner Aufenthalte über das Werk berichtete. Das Unternehmen gab eine Warnung heraus, dass ich mir den Betrieb genauer ansah. Bald darauf wurden in Schlachthöfen im ganzen Land Flyer mit meinem Foto verteilt. Bei Perdue in Accomack berief Cobo, der stellvertretende Leiter der Nachtschicht, ein mitternächtliches Meeting mit 150 Reinigungskräften ein, um ihnen zu erklären, dass Minderjährige nicht mehr willkommen seien. Einige Kinder wurden wütend und meinten, sie bräuchten die Jobs zum Überleben. Andere nahmen die Neuigkeiten still hin, beschwerten sich dann aber unter vier Augen bei ihren Vorgesetzten. «Sie sahen mich mit Tränen in den Augen an», erinnert sich Cobo.
Die Vorgesetzten, welche die Reinigungsschichten im Tyson-Schlachthof beaufsichtigten, warnten die Firmenzentrale, dass eine Reporterin viel Zeit in der Stadt verbringe. Bis Juni 2023 waren alle Kinder, mit denen ich gesprochen hatte, ihre Jobs los. Emilio war mit seinen beiden Brüdern gefeuert worden. Sein Job in der Landwirtschaft war jetzt die einzige Einkommensquelle der Familie. Seine älteren Brüder verbrachten ihre Tage damit, darüber zu brüten, was in dem Werk geschehen war. «Sie haben viel Geld mit unserer Arbeit gemacht und uns dann wie Abfall rausgeworfen», sagte einer von ihnen.
Nach den Entlassungen bemerkten die Lehrer der Arcadia Highschool, dass einige Neuntklässler pünktlich zum Unterricht kamen. Ihre Augen waren weniger gerötet, sie waren lebhafter und beteiligten sich auch mehr am Unterricht. Am Ende des Schuljahres war Marcos der einzige Neuntklässler aus dem Programm für Neuankömmlinge, der die Prüfung im ersten Anlauf bestand. Seine Lehrerin Sandra Ellenberger sah dennoch, dass ihn Sorgen plagten. In seinen Englischheften fanden sich immer wieder Bezüge auf sein Zuhause. In einer Aufgabe wurden die Schüler nach ihrem Traumberuf gefragt. Marcos schrieb: «Meiner Familie zu helfen.» In einer anderen sollte er angeben, was ihn glücklich macht: «Meine Eltern.»
Er begann zu akzeptieren, dass er wahrscheinlich nie wieder Shirts mit kurzen Ärmeln tragen würde. Bei seiner letzten Kontrolluntersuchung erklärte ihm der Arzt, dass sein Arm schlecht geheilt war und er drei weitere Operationen benötigen würde. Zum ersten Mal musste Marcos im Untersuchungszimmer weinen. «Ich dachte, sie sagen mir, dass ich es endlich hinter mir hätte», erzählte er. «Mir ist klar geworden, dass ich vielleicht nie wieder gesund werde.» Fayette zahlt weiterhin seine Behandlungskosten, aber für die Operationen musste er nach Baltimore und fand niemanden, der ihn dorthin bringen konnte. (Anm. d. Red.: Im Mai 2024 erklärte Fayette sich vor einem Bundesgericht bereit, wegen illegaler Kinderarbeit in Schlachthöfen in Iowa und Virginia eine Geldstrafe in Höhe von 650 000 Dollar zu zahlen und keine Minderjährigen mehr zu beschäftigen.)
Arbeiter erzählten, dass die Reinigungsmannschaft bei Perdue sich nur mit Schwierigkeiten durch den Sommer gekämpft hatte. Die Vorgesetzten teilten den übrigen Arbeitern mit, dass sie mehr Bereiche reinigen müssten, bis neue Arbeiter gefunden seien. Schliesslich tauchten junge Gesichter in der Belegschaft auf. Einige von Marcosʼ Klassenkameraden wurden wieder eingestellt. Ein Teenager, der nicht mehr bei Tyson arbeiten durfte, konnte mit einem gefälschten Ausweis in die Reinigungsschicht von Perdue wechseln.
Gegen Ende des Sommers gelang es auch Marcos, einen Job zu finden. Es war eine Aufgabe, die selbst die verzweifeltsten Migranten mieden: in industriellen Mastbetrieben nach toten Vögeln zu suchen und diese zu entfernen. Jeden Tag passierte Marcos den Eingang, auf dem «Ein Farmer der Perdue-Familie» geschrieben stand, setzte sich zwei Masken auf, um sich vor dem stechenden Ammoniakgeruch zu schützen, und betrat die fensterlosen Ställe, in denen Tausende Hühner zusammengepfercht waren. Seine Aufgabe war es, den mit Exkrementen bedeckten Boden nach Kadavern abzusuchen, während die Vögel wie wahnsinnig nach seinen Händen und Füssen pickten. Er begann um 5 Uhr morgens und zog in jeder Zwölf-Stunden-Schicht 100 bis 150 tote Vögel heraus. «Manche der toten Hühner sind schon total verrottet und platzen dann auf», sagte er.
Die Mastbetriebe zahlten weniger als die Reinigungsfirmen, aber nach einigen Wochen konnte er seinen Eltern trotzdem 100 Dollar schicken. Als die Schule wieder anfing, verkürzte Marcos seine Schicht auf vier Stunden am Abend. Wenn er weiter Englisch lernte, konnte er vielleicht einen besser bezahlten Job ausserhalb der Geflügelindustrie bekommen. Marcos fühlte sich hin- und hergerissen. Denn die reduzierte Arbeitszeit bedeutete, dass er an den meisten Tagen nur 20 Dollar verdiente. Und er hatte keine Zeit mehr zum Lernen, wenn er nach Hause kam. «Vielleicht gibt es in diesem Jahr nicht so viele Hausaufgaben», sagte er. «Oder ich kann sie im Bus erledigen.» Wenn er die Schule abbrach und Vollzeit arbeitete, konnte er die Schulden seiner Familie vielleicht innerhalb eines Jahres abbezahlen.
Seine Cousine Antonia war weiterhin bei Perdue, also bildete Marcos eine Fahrgemeinschaft mit einem Mitarbeiter des Hühnermastbetriebs. An einem Nachmittag im September 2023 hupte der Mann, als er bei ihm ankam, und sie fuhren langsam aus Dreamland heraus, um die Schlaglöcher zu meiden. Marcos würde erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück sein. Er blieb auch länger in den Mastställen, wenn es noch mehr tote Vögel zu finden gab. Es war ein schwüler Tag gewesen, was zusätzliche Kadaver und, wie er hoffte, mehr Arbeit bedeuten würde.
Aus dem Amerikanischen von Steffen Kern.