Was seither geschah

Unsere Mama dreht Pornos (#69) 

Angelina arbeitet als Camgirl. Die zweifache Mutter hält ihre nackten Brüste in die Kamera, schiebt sich Dildos in die Vagina. Und dann kommt der Tag, an dem sie ihren Kindern die Wahrheit über ihren Beruf erzählen muss. … was seither geschah

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Ist das seine Mutter, die da von einem Fremden penetriert wird? Der 12-jährige Rocco schaut verstört auf den Bildschirm. Jugendliche auf der Strasse halten ihm ein Handy unter die Nase, sie lachen. Die voluminösen Lippen, die riesigen Brüste, die langen Fingernägel, die Tattoos – natürlich ist sie das in dem Pornofilm! Niemand in der Kleinstadt sieht so aus wie sie. Perplex läuft Rocco nach Hause, erzählt seinen Eltern, was er gesehen hat. 

Die nehmen es gelassen. Ihren Sohn haben sie schon vor einiger Zeit über die Arbeit der Mutter aufgeklärt. Ihm von den Pornos erzählt, in denen sie mitspielt, den Webcamshows, für die Männer pro Minute bezahlen, damit Angelina vor laufender Kamera ihnen ihre Wünsche erfüllt: ihre nackten Brüste ganz nah in die Kamera hält, an einem Dildo saugt und ihn sich tief in den Rachen schiebt, ihre mit unzähligen Piercings verzierte, glattrasierte Vulva reibt, verschiedene Sexspielzeuge in ihre Vagina einführt und ihre Kunden dabei als «spritzende Hengste» oder «geile Drecksäue» bezeichnet. Sie hat Rocco vom Erotikbusiness allgemein erzählt, in dem sie ein über Deutschland hinaus bekannter Star ist und viel Geld verdient. Rocco hat sich das damals alles angehört, aber ob er wirklich verstanden hat, was seine Eltern ihm da erklären wollten? Also erklären sie ihm jetzt nochmals, dass sie sich zwar sehr lieben, Liebe und Sex aber trennen – Liebe sei Liebe und Sex sei Sex, sagen sie. So halten sie es nun schon seit 23 Jahren. 

Auch der regelmässige Besuch von Swingerclubs und Sexpartys gehört zu ihrer Beziehung fast von Anfang an dazu. Die Kinder sind längst aus dem Gröbsten raus, über ein drittes haben sie kurz nachgedacht, die Idee aber schnell verworfen. «Wir wollen nicht wieder von vorn anfangen», sagt Angelina. Ihr Job spielte bei der Entscheidung keine Rolle. «Vor die Kamera könnte ich auch als Schwangere treten, es gibt genug Leute, die darauf stehen», sagt die 41-Jährige. Angst, dass sie irgendwann zu alt für die Branche ist, hat sie keine, für jede Altersklasse gibt es Fans. «Ich mache das, solange ich Lust darauf habe», sagt Angelina. Ob sie mit 60 aufhöre, mit 70, keine Ahnung. Angelina ist die Hauptverdienerin, monatlich kommt sie auf Einnahmen im mittleren vierstelligen Bereich. Dank ihr kann sich die Familie ein sorgenfreies Leben leisten, die beiden Kinder unbeschwert ihren Hobbys nachgehen: Die ältere Tochter Shelly nahm jahrelang Reitunterricht, der jüngere Rocco spielte leidenschaftlich Keyboard. 

Erst kürzlich sind sie in eine Haushälfte mit kleinem Vorgarten gezogen. Etwas ausserhalb der Kreisstadt im Berliner Umland, in der sie leben. Die Haushälfte ist etwas grösser als die Wohnung, in der sie davor lebten, ausserdem ist der neue Wohnort grüner. Angelina, die ursprünglich aus einem kleinen Dorf stammt, mag das. «Die perfekte Spiesseridylle», sagt sie und lacht. In ihrer Umgebung ist sie bekannt, über die «Pornotante» zerreissen sich viele das Maul. Die meisten kennen ihre Videos, das lässt sie regelmässig schmunzeln, wahrscheinlich auch die neuen Nachbarn, aber die haben sie bisher noch nicht auf ihren Beruf angesprochen. Manchmal wird sie auf der Strasse dumm angemacht. «Ei, wen haben wir denn da, Harald Glööckler?», rief neulich einer, in Anspielung auf den eigenwilligen Modedesigner mit ähnlich pompös gespritzten Lippen. 

«Schätzchen, ich bin doch die Schwester von Harald», entgegnete Angelina ihm. Um eine schlagfertige Antwort ist sie nie verlegen. 

Auch ihre Tochter Shelly hatten Angelina und ihr Mann vor drei Jahren aufgeklärt über die Sexarbeit der Mutter – ebenso wenig wie Rocco sollte sie es von anderen erfahren. Auch sie wirkte zunächst so, als würde sie das alles noch nicht richtig einordnen können. Heute ist das anders. Shelly ist 15 und hat einen Freund. Und kennt Pornos, wie viele Gleichaltrige, nicht nur aus Erzählungen, vermutet Angelina – geredet haben sie darüber nie. Bei ihnen zu Hause sind solche Seiten gesperrt. Bei anderen Eltern nicht. «Denen ist oft egal, was sich ihre Kinder ansehen und ob sie es einordnen können», sagt Angelina. Der Jugendschutz habe seine Berechtigung. «Pornos sind für Erwachsene», stellt sie unmissverständlich klar. 

Neulich hat Shelly ihrer Mutter erklärt, dass der Lebensstil ihrer Eltern für sie nicht infrage komme, Liebe und Sex wolle sie nicht trennen. «Dafür liebe ich meinen Freund zu sehr», hat Shelly gesagt. Im Alter ihrer Tochter hat Angelina genauso gedacht.