Das Beste aus 10 Jahren

Sex, Lügen und Youtube [#34]

Wenn Sie wissen möchten, was passieren kann, wenn ein Sexvideo ohne beidseitige Zustimmung ins Netz gestellt wird, dann lesen Sie die unter die Haut gehende Geschichte über Cybermobbing, die unsere ständige Autorin Barbara Bachmann aufgeschrieben hat.

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Seit ein paar Jahren verfolge ich mit Unbehagen, wie der Plattformkapitalismus Wirtschaft und Gesellschaft umkrempelt. Und zwar disruptiv, indem die Plattformen versuchen, bestehende Märkte zu zerstören. So wollen es die Apologeten der Tech-Industrie. Amazon droht dem stationären Einzelhandel den Garaus zu machen, der Schnelllieferdienst Gorillas will Supermärkte obsolet machen, Netflix die Kinos überflüssig, und Frauen oder Männer lernt man nur noch nach einem «Match» bei Tinder kennen. Geht es nach Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, gehen wir in Zukunft gar nicht mehr vor die Tür, sondern hängen mit Freunden im virtuellen «Metaverse» ab.

Bis jetzt machen wir alle mehr oder weniger mit bei diesem Plattformkapitalismus, staunen über die neuen Möglichkeiten, sparen hier und da ein bisschen Geld und geben dafür unsere Vorlieben als Daten preis. Eine solch zweifelhafte Verheissung verbirgt sich auch hinter einer der grössten Plattformen, über die aus gutem Grund fast nie gesprochen wird: xHamster. Auf dieser gigantisch grossen Website, die monatlich 120 Millionen Mal aufgerufen wird und Videotheken mit ihren Schmuddelecken vor Jahren den Todesstoss versetzt hat, lässt sich kosten- und schrankenlos die Kulturgeschichte der Pornografie begutachten. Wer über 18 ist, kann auch ein Filmchen drehen, hochladen und ist danach vielleicht etwas erregter oder irgendwann selbst ein Pornostar. Dass die einfache Uploadfunktion User dazu verleitet, auch heimlich gefilmte Videos zu teilen, die Frauen auf Toiletten zeigen, ist in den Augen der Plattformbetreiber wohl ein Kollateralschaden. xHamster beschäftigt ein Heer aus Löscharbeitern, um solche Aufnahmen, die nichts anderes sind als sexualisierte Gewalt, zu entfernen. Doch wie sollen die Löscharbeiter überprüfen, ob ein privates Video im Einvernehmen hochgeladen wurde?

Wenn Sie wissen möchten, was passieren kann, wenn ein Sexvideo ohne beidseitige Zustimmung ins Netz gestellt wird, könnte ich Ihnen an dieser Stelle die beissende rumänische Satire Bad Luck Banging or Loony Porn empfehlen, die 2021 den Goldenen Bären bei der Berlinale gewann. Lehrreicher aber ist, Sie lesen die unter die Haut gehende Geschichte über Cybermobbing, die unsere ständige Autorin Barbara Bachmann aufgeschrieben hat. Sie handelt von Tiziana Cantone, von der unter anderem bei xHamster ein Video auftaucht, das sie beim Oralsex zeigt. Mit ihrem vollen Namen und ihrer Herkunftsstadt. Dabei sagt die junge Neapolitanerin einen Satz, der sich mit dem Video auf verhängnisvolle Weise verselbständigen wird: «Mi stai facendo un video? Bravo» − «Machst du gerade ein Video von mir? Gut so».

Video und Ausspruch werden in Italien zum popkulturellen Phänomen: tausendfach im Netz geteilt und weitergesponnen, auf T-Shirts gedruckt, von Fussball- und Pop-Stars zur Selbstvermarktung ironisch aufgegriffen. Tiziana zeigt die Männer an, die sechs Videos ohne ihre Zustimmung ins Netz gestellt haben, auf denen sie bei sexuellen Handlungen zu sehen ist. Sie versucht erfolglos, die Aufnahmen aus dem Netz entfernen zu lassen, Google und Facebook aber machen dicht. Und so steuert Tizianas Leben auf den Abgrund zu, weil sich die ohnehin psychisch labile Frau auch noch in einer toxischen Beziehung befindet, die der Ausgangspunkt für die Videoaufnahmen gewesen ist.

Barbara Bachmann hat für diese minuziös recherchierte Reportage den Axel-Springer-Preis für junge Journalisten und Journalistinnen gewonnen. Über das zweifelhafte Frauenbild innerhalb der katholisch-konservativen Gesellschaft Italiens hat sie danach das Buch Hure oder Heilige geschrieben. Ich empfehle, es ebenfalls zu lesen und die Computer zwischendurch mal abzuschalten − das beste Mittel gegen den Plattformkapitalismus.