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Der Tod geht um in Támara

3rd Prize True Story Award 2024: In einem Frauengefängnis in Honduras werden 46 Frauen durch weibliche Gangmitglieder getötet. Eine Geschichte über einen Massenmord, der hätte verhindert werden können.

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Am 20. Juni 2023, zwischen 7 Uhr 50 und 8 Uhr 56, fand das tödlichste Massaker in einem Frauengefängnis in der Geschichte statt: In der honduranischen Stadt Támara tötete eine Gruppe von Insassinnen, die der Bande Barrio 18 angehören, nach offiziellen Angaben 46 Frauen und verstümmelte oder verletzte Dutzende weitere. Wir erzählen die Geschichte über Leben und Tod innerhalb des Gefängnisses, basierend auf 30 Interviews, die wir über zwei Jahre hinweg geführt haben. Sie basiert zudem auf internen Gefängnisberichten, juristischen und geheimdienstlichen Dokumenten, Zeugenaussagen, einem Video und Fotos, die im Zusammenhang mit dem Massenmord aufgenommen wurden. Es ist eine Geschichte über eine Stunde brutaler Gewalt, die Gründe dafür und die Rolle der Behörden. Diese wussten, dass der Krieg zwischen dem Barrio 18 und der MS-13 innerhalb des Gefängnisses schon seit langem schwelte. Sie wurden mehrfach gewarnt, durch Gewehrkugeln und Flammen, und unternahmen nichts, um die Katastrophe zu verhindern.

1. Das Massaker

Eine Gruppe von weiblichen Häftlingen, die Barrio 18 angehören, schreitet durch die Gänge der Abteilung 1 des Támara-Gefängnisses. Sie ist bereit zu töten. Es ist der 20. Juni 2023, 8 Uhr morgens. Vor zehn Minuten haben sie zwei der vier Gefängniswärter überwältigt und ihnen die Schlüssel gestohlen. Die Insassinnen von Abteilung 1 hören die beiden verbliebenen Wachen schreien. Sie warnen die Frauen in dem Trakt. Doch ihnen bleibt im Grunde keine Zeit. Die Dieciocheras, wie die Mitglieder der Barrio 18-Bande genannt werden, sind mit Gewehren, Pistolen, Uzis und Granaten bewaffnet. Sie haben Messer, Macheten und Benzin.

Die Angreiferinnen eröffnen das Feuer aus dem Zugangskorridor und töten direkt fünf Häftlinge. Ingrid, eine der Anführerinnen von Sektion 1, bringt 22 Frauen in Zelle 4. Mama, die Anführerin, eine Frau namens Monserrat, eine von Mamas Assistentinnen, und mindestens 110 weitere Frauen fliehen über Mauern und Dächer des Gefängnisses. Ingrid und ihre Gruppe haben sich mit Matratzen in einem Badezimmer verbarrikadiert. Als die Angreiferinnen merken, dass ihre Schüsse und Machetenhiebe nur Matratzen und Feldbetten treffen und keine Körper, wenden sie die stärkste Waffe an, die bei einem Gefängnisaufstand zur Verfügung steht: Feuer. Ingrid und die 22 Frauen verbrennen in der Toilette.

Das Gemetzel ist damit noch nicht zu Ende. Der Tod und das Feuer sind wilde Bestien. Wenn sie erst einmal losgelassen werden, ist es schwer zu sagen, welchen Weg sie einschlagen und wen sie erwischen werden. Einem juristischen Dokument zufolge, in dem die Vorkommnisse beschrieben werden, dringen die Mörderinnen in weitere Bereiche des Gefängnisses vor. Sie filmen und fotografieren, während sie das Massaker verüben. Einige dieser Fotos und ein Video werden an Personen ausserhalb des Gefängnisses geschickt, die sie wiederum an mich weiterleiten.

Ich kann sehen, wie zwei Frauen mittleren Alters, die auf dem Boden liegen, ihre Gesichter mit den Händen bedecken. Ein schwacher Versuch, sich zu verteidigen. Sie haben bereits verloren. Eine Gruppe hackt mit Macheten auf sie ein, sticht ihnen mit den Klingen in die Seite. Ein junges, zierliches Bandenmitglied packt eine von ihnen sanft an den Haaren und sticht ihr fünfzehn Mal in den Hals. Eine Frau versucht, ihr Gegenüber mit einer Nylonschnur zu erdrosseln, doch das Opfer schafft es, sie wegzustossen. Ein anderes Mitglied von Barrio 18 nähert sich und schlägt das Opfer immer wieder mit einem Stein, schafft es aber nicht, sie zu töten. Mehrere Mörder stechen ihr daraufhin erneut in den Hals.

In einem der Innenhöfe liegt eine Frau mit zertrümmertem Schädel. Der Stein, der ihr das Leben genommen hat, liegt neben ihrem Kopf. Ihre Mörder haben ihr die Hose heruntergezogen und das Hemd hochgezogen. Die Leiche einer anderen jungen Frau liegt in einer Zelle neben ihrem Bett. Sie trägt noch ihren roten Pyjama und hat mehrere Schusswunden in Gesicht und Brust. Eine maskierte Frau mit einem T-Shirt zu dem Spielfilm «Die Bestrafung» hält eine Pistole in der Hand.

Es ist 8 Uhr 56. Nach offiziellen Angaben sind im Támara-Gefängnis 46 Frauen gestorben, dazu kommen Dutzende verstümmelte oder schwer verletzte Frauen. Nach Angaben der humanitären Organisation Human Rights Watch hat sich der tödlichste Aufstand in einem Frauengefängnis in der jüngeren Geschichte innerhalb von nur einer Stunde ereignet.

Paradoxerweise fällt diese Tragödie in die Amtszeit der ersten weiblichen Präsidentin in der Geschichte von Honduras, Xiomara Castro. Ihre Regierung war mehrfach vor einem möglichen Massaker gewarnt worden. Die späteren Opfer hatten den Gefängnisdirektor in flehenden Briefen gebeten, sie zu verlegen. Sie sagten voraus, dass sie getötet würden, und die späteren Mörder machten kein Geheimnis daraus, dass sie töten würden. Drei Jahre zuvor hatten sie bei einem ersten Támara-Massaker sechs Frauen getötet. Die Behörden liessen interne Gefängnisberichte und Geheimdienstdokumente prüfen, die vor dem bevorstehenden Massaker warnten. Doch sie entschieden sich, dies alles zu ignorieren.

Die Insassinnen, die das zweite Massaker überlebt haben, sitzen immer noch im selben Gefängnis wie die Mörder. Sie warnen davor, dass es wieder geschehen wird.
Lassen Sie uns nun also mit den Opfern und ihren Mördern sprechen. Sie werden uns erzählen, wie der Massenmord geplant wurde, wie es in dem Druckkessel brodelte, zu dem das Gefängnissystem in Honduras geworden ist, und wie die Mörderinnen ein korruptes System ausnutzen konnten. Hier erzählen sie ihre Geschichte vom Tod und vom Leben in Támara.

2. Die Totgeweihten grüssen dich (13 Monate vor dem Massaker)

In Sektion 1 von Támara, hinter den dicken Stäben eines mit Vorhängeschlössern versehenen Zellentür, grüsste mich Monserrat – jung, zierlich, dunkelhäutig – und rief mir zu: «¡Coordinadoras, coordinadoras!» Sie war ein menschliches Megaphon und gehörte zur Gruppe der «Schreihälse». Ihre Aufgabe ist es zu schreien, wenn das Essen da ist, wenn ein Häftling von der Gefängnisleitung gerufen wird, wenn der Anwalt einer Frau da ist oder, wie in diesem Fall, um einen unerwarteten Besucher anzukündigen.

Eine andere junge Frau begrüsste mich auf dem Korridor mit einer freundlichen Geste. Sie ist brünett, hält ein Notizbuch in der Hand, ihre Nägel sind lackiert und mit Mustern verziert. Sie war geschminkt und ihr Haar war rot gefärbt. Ihr Name war Ingrid. Sie führte mich in einen Raum, der aussah wie das Büro einer Bank. Er war gefüllt mit Kisten mit Coca-Cola und Pepsi und mit Kartons mit Konserven und frittierbaren Lebensmitteln.

Ingrid war keine Anführerin in dieser Abteilung des Gefängnisses; ihre Position als «Koordinatorin», so erklärte sie, war eher eine Verwaltungsfunktion ohne Entscheidungsbefugnisse. Sie sorgte dafür, dass Anweisungen befolgten wurden, und für eine gerechte Verteilung der Ressourcen. Sie stellte klar, dass es Frauen gab, die über ihr und den anderen Koordinatorinnen standen. An diese würde sie meine Bitte richten, mit ihnen über ihr Leben zu sprechen. Ich solle am nächsten Tag wiederkommen. Sie müsse Mama fragen, die für diesen Teil des Gefängnisses zuständig sei. Die Chefin.

Als ich am nächsten Tag wiederkam, begrüsste Ingrid mich fröhlich. Sie sagte, dass Mama widerwillig zugestimmt habe, mich zu sehen. Noch am selben Tag begann ich zusammen mit einer Gruppe von Mitarbeitern, Dutzende von Frauen zu interviewen. Sie sassen Woche für Woche mit uns zusammen und erzählten von ihren Leben. Ich selbst sprach mit mindestens 20 Häftlingen. Sie waren zunächst misstrauisch. Nach einigen Tagen standen sie aber Schlange, um von ihrem dornigen Weg zu erzählen, der gesäumt war von gewalttätigen Männern, Armut, Kindern und Einsamkeit. Der Tod schwebte fortwährend über ihnen.

Die meisten der Frauen, die mir ihre Lebensgeschichte erzählten, waren 13 Monate später tot.

Bevor ich mit den Interviews begann, sagte ich Ingrid, dass ich mit ihr beginnen wollte. «Ich nicht», sagte sie damals. «Ich habe nichts Interessantes zu erzählen. Ich glaube, ich bin zu schüchtern.» Das war nicht wahr.

3. Der erste Angriff (3 Jahre vor dem Massaker)

«Wo ist diese Schlampe? Wir werden ihren Kopf auf einem Silbertablett servieren.» Ingrid hörte diese Worte im Morgengrauen nach ihrer ersten Nacht im Gefängnis. Sie kamen von den Insassinnen von Barrio 18, einer der beiden Strassenbanden, die einen Grossteil von Honduras beherrschen und im Gefängnis die Mehrheit stellen. Sie verfolgten ihre Zelle und bedrohten sie. Das war im Jahr 2020, auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie. Ingrid befand sich in einer Isolationszelle, die als eine Art Schutzwall gegen das Virus dienen sollte und in der Neuankömmlinge mindestens fünfzehn Tage lang eingesperrt waren, bevor sie zu den anderen Insassinnen stiessen. Die Zelle wurde «La Plancha» – der Grill – genannt.

Ingrid wurde am 18. Mai 2020 in der Colonia Las Mercedes verhaftet, einer der vielen Bastionen der MS-13 im Zentrum von Honduras. Mit zwei weiteren Frauen wurden sie in ihrem Haus festgenommen, in dem sie mit ihrem Mann und zwei Kindern lebte und einen Schönheitssalon betrieb. Die beiden anderen Frauen arbeiteten zwar für die MS-13, waren aber genauso wenig Mitglieder der Bande wie jemand, der Coca-Cola verkauft, nicht «Teil» der Coca-Cola Company ist.

Die beiden Frauen waren mit Rucksäcken in ihr Haus gekommen. Alle drei wurden von einer Einheit der Fuerza Nacional Anti Maras y Pandillas, einer Anti-Gang-Einheit, festgehalten, als Besucherinnen sich gerade Haare und Nägel machen liessen. Eine dieser Frauen war Monserrat, die zwei Jahre später meine Ankunft im Gefängnis mit ihrer tiefen Stimme ankündigen und drei Jahre später vor dem Feuer und den Schüssen fliehen sollte, indem sie über das Dach des Gefängnisses kletterte.

Die Boulevardpresse von Honduras veröffentlichte daraufhin Schlagzeilen wie «Shakira und zwei Bandenmitglieder in Colonia Las Mercedes gefangen». «Shakira» war ein liebevoller Spitzname, den sich Ingrid wegen ihres häufig wechselnden Aussehens zugelegt hatte. Die Medien verwechselten ihn mit einem hochtrabenden Namen für ein Bandenmitglied. Deshalb rasselten die Frauen von Barrio 18 vor «La Plancha» mit ihren Macheten und schrien immer wieder: «Wir wollen Shakiras Kopf, sofort.»

«Diese Frauen haben uns bedroht und beleidigt. Sie sagten, sie würden uns umbringen», sagte Monserrat in einem unserer Interviews, «und alles nur, weil wir in den Nachrichten waren. Das galt für mich und auch für andere Insassinnen. Wir haben zwar mit ihnen [der MS-13] zusammengearbeitet, aber wir wussten alle, dass dieses Gefängnis von ihren Rivalinnen [Barrio 18] kontrolliert wurde. Also wollten wir nicht, dass sie davon erfahren.» Am fünften Tag in «La Plancha» kamen Ingrid, Monserrat und zwei weitere Frauen einigermassen zurecht. Zum ersten Mal kam niemand von Barrio 18, um sie zu bedrohen. Sie konnten sich von anderen Häftlingen etwas zu essen, Kaffee und Zigaretten kaufen und beschlossen, sich die Zeit mit Singen und Tanzen zu vertreiben.

Aber auch Flammen tanzen gerne.

«Feuer!»

Der in jedem honduranischen Gefängnis gefürchtete Schrei ertönte am 23. Mai 2020 um 2 Uhr morgens. Das Ungeheuer, das in den letzten 20 Jahren rund 600 Häftlinge in Honduras verschlungen hat, hatte Támara erreicht. Ingrid und Monserrat drückten die Tür zu ihrer Zelle auf. «Die Scharniere waren völlig verrostet, wie alles in diesem Gefängnis», sagte Montserrat. Sie rannten vor dem Feuer davon. Nach den Schilderungen von mindestens 15 Frauen brach das Feuer in der Krankenstation aus, als ein Mitglied von Barrio 18 eine Matratze in Brand setzte, um Chaos zu stiften und ihrer Bande ein Ablenkungsmanöver für die Ermordung von MS-13-Mitgliedern zu geben. Wenn diese Beschreibungen zutreffen, verlief alles nach Plan.

An diesem Tag töteten die Mitglieder von Barrio 18 sechs Frauen, darunter drei Frauen, die für MS-13 arbeiteten. Sie waren als Yuky, Kitty und Nicole bekannt. Zwei weitere Opfer wurden in der Station für Mütter und Kinder gefunden. Die Angreifer zerrten sie hinaus, rissen ihnen die Babys aus den Armen und erstachen sie. Tage später übergaben die Angreiferinnen die Babys an deren Grossmütter. Dieses erste Massaker von Támara veränderte alles. Anders als im übrigen Strafvollzugssystem von Honduras hatte es in diesem Gefängnis nie die polarisierende Wut gegeben, die MS-13 und Barrio 18 gegeneinander aufstachelte. Die Insassinnen gaben zwar zu, dass sie zu einer der beiden Banden gehören oder ihr nahestehen, aber sie trieben ihre Ablehnung der anderen Seite nicht mit Gewalt auf die Spitze.

Nach dem Massaker wurden Dutzende Insassinnen, die durch Verwandtschaft, Arbeit oder durch eine gemeinsame Nachbarschaft mit der MS-13 verbunden waren, in ein anderes Gefängnis verlegt. Sie schrieben Briefe, von denen sie einige während meiner Besuche an mich weitergaben, und richteten Petitionen an die Behörden, darunter auch an die stellvertretende Polizeipräsidentin Ericka Fabiola Rodríguez, die damals Direktorin des Támara-Gefängnisses war und im Dezember 2022 entlassen werden sollte, weil sie einigen Insassinnen erlaubt hatte, das Gefängnis zu verlassen. Sie baten darum, nicht nach Támara zurückgeschickt zu werden, aber fünf Monate später wurden sie doch wieder eingeliefert.

«Die Direktorin sagte, wir würden übertreiben. Dass wir keine Angst haben sollten, dass uns nichts passieren würde», sagte Monserrat in unserem Gespräch im Jahr 2022. Ich rief bei der Kommunikationsabteilung der nationalen Strafvollzugsbehörde an, um deren offiziellen Standpunkt zu erfahren. Eine Quelle in der Abteilung sagte mir: «Sie werden Ihnen keine Stellungnahme zu dieser Angelegenheit geben.» In der Tat habe ich keine Antwort erhalten.

Das Einzige, was die Insassinnen erreichten, war, dass jede, die in irgendeiner Weise mit der MS-13 in Verbindung gebracht wurde, in einem separaten Trakt des Gefängnisses untergebracht wurde: Abschnitt 1, in dem am Ende 138 Frauen eingesperrt waren. Deshalb trafen wir uns dort im Mai 2022. Das erste Massaker läutete den Ausbruch des Krieges ein: Briefe von potenziellen Opfern und Drohungen ihrer potenziellen Mörder warnten danach, dass es mehr Kugeln, mehr Feuer und Tod geben würde. Dies waren nicht die einzigen Anzeichen, die von den Behörden ignoriert wurden. Der letzte Hinweis, den die Mitglieder von Barrio 18 unfreiwillig gaben, bevor sie das taten, womit sie drei Jahre lang gedroht hatten, wurde in einem internen Gefängnisprotokoll festgehalten.

Am Morgen des 17. Juni 2023 verlor ein Häftling vor den Augen der Gefängniswärter eine Granate. Die in vertraulichen Dokumenten als «Triple X» bezeichnete Frau nahm die Granate wieder an sich und steckte sie zurück in ihren Rucksack. Obwohl der Vorfall der Gefängnisleitung gemeldet wurde, blieb er ohne Folgen. Es wurde keine Durchsuchung durchgeführt und keines der Sicherheitsprotokolle wurde aktiviert. Es entstand nur eine Notiz als Beleg für das Ereignis. Die tödlichen Konsequenzen zeigten sich drei Tage später.

Das Massaker war eine kollektive Anstrengung: Barrio 18 handelte, und die Behörden liessen es zu.

4. Déjá vu (am Tag des Massakers)

Am 20. Juni 2023 telefonierte Jerson um 6 Uhr 30 morgens mit seiner Frau Ingrid. Sie sprachen über ein Paket, das er für den Schönheitssalon schicken sollte, den sie in Támara eröffnet hatte. Sie sprachen über Belanglosigkeiten, über ihre Kinder, über ihr Familienunternehmen. Wochen später erzählte er mir davon, schluchzend und bedauernd, nicht über etwas Tiefgründigeres gesprochen zu haben, während er mit seinen Kunden in einem Geschäft für Industriebedarf zu tun hatte. Jerson und Ingrid legten kurz vor 7 Uhr 30 auf.

Um 7 Uhr 50 erschienen die Wärter – in einem internen Dokument des honduranischen Gerichtssystems als NYRC und LLMGM ausgewiesen – zum Appell in Abteilung 7, wo die Insassinnen von Barrio 18 untergebracht waren. Bandenmitglieder nahmen die Wärter gefangen und überwältigten sie, nahmen ihre Schlüssel und Schlagstöcke an sich und benutzten die Funkgeräte, um den Gefängnisbehörden mitzuteilen, dass sie das Gefängnis nicht betreten dürften, weil sie Geiseln hielten.

Das Gefängnispersonal sah sich ausserstande, das Leben der Frauen in der Abteilung 1 zu schützen – es gab nur vier Polizisten für 912 Insassinnen in zehn Abteilungen – und beschloss, sie wenigstens vor dem bevorstehenden Angriff zu warnen. «Alle aufpassen, die Frauen aus Abteilung 7 kommen», heisst es in dem Gerichtsbericht, in dem das Ereignis beschrieben wird. Die Gefängnisleitung rief bei der obersten Strafvollzugsbehörde an, aber es meldete sich niemand, so unwahrscheinlich das auch klingen mag. Daraufhin wurde das ebenfalls in Támara gelegene Männergefängnis Marco Aurelio Soto angerufen, das die ersten Militärpolizisten schickte. Keiner von ihnen betrat das Gefängnis.

Nach Aussagen einiger Insassinnen, mit denen ich gesprochen habe, stahlen die Mitglieder von Barrio 18 neben Funkgeräten und Schlüsseln auch Listen mit den Namen der Insassinnen und der Abteilungen, in denen sie untergebracht waren. Mit diesen Listen suchten sie nacheinander die Ziele ihres Angriffs auf. Die Insassinnen von Abteilung 1 waren darauf nicht vorbereitet. Im Jahr 2022 hatte ich Mama, die Chefin des Trakts, nach ihrem Notfallplan zur Abwehr eines Angriffs gefragt. Damals lachte Mama darüber und prahlte, dass sie mehr als vorbereitet seien. Das waren sie aber nicht.

In den Slums und der Unterwelt von Honduras gibt es eine Redensart: Wenn die Zahl der Morde in die Höhe schiesst, sagen die Leute «anda suelta la calaca» und spielen damit auf den Tod an, als wäre er ein frei herumlaufendes, unaufhaltsames Wesen.

An dem Tag, an dem Mama und Monserrat über die Dächer flohen und Mitglieder von Barrio 18 das Versteck von Ingrid und 22 weitere Frauen in Brand setzten, lief la calaca – der Tod – im Gefängnis von Támara bereits frei herum. In keinem der juristischen Berichte, Zeugenaussagen von Überlebenden oder forensischen Aufzeichnungen finden wir eine genaue Aufzeichnung des Weges, den der Tod nach dem Feuer und den 28 Morden in Sektion 1 zurückgelegt hat. Sie ziehen lediglich eine Bilanz. In Sektion 2 töteten Mitglieder von Barrio 18 sechs weitere Frauen, in Sektion 3 zwei. Vier in Sektion 4, zwei in Sektion 5, drei in Sektion 9. Den gerichtsmedizinischen Berichten zufolge wurden die meisten Frauen mit Schusswaffen unterschiedlichen Kalibers getötet, aber auf sie wurde auch Dutzende Male eingestochen, und mindestens fünf von ihnen hatten Schädelbrüche, die ihnen mit Steinen zugefügt worden waren.

Vom Dach des Gefängnisses aus bittet die Gruppe rund um Mama die auf einem Wachturm stationierte Militärpolizei um Hilfe. Nach Zeugenaussagen verhöhnen die Polizisten sie und richten ihre Gewehre auf sie. Um 8 Uhr 56 hört die Gewalt auf. Ein lauter Pfiff ertönt und Barrio 18 kehrt in seinen Abschnitt zurück. Um 10 Uhr 30 trifft Maria in der Justizvollzugsanstalt ein. Sie ist die Anwältin der MS-13 und heisst eigentlich anders.

«Als ich ankam, traf ich Ingrids Sohn, der 19 Jahre alt ist. Er wusste von seiner Mutter und war untröstlich. Armer Junge. Er war weinend auf dem Boden zusammengebrochen», erzählte sie Wochen später, während wir in einem Hotel in der honduranischen Hauptstadt Rum tranken. Gegen Mittag traf Beyoncé ein – eine Transfrau, die bei einer Nichtregierungsorganisation arbeitet, die sich für die Menschenrechte von Gefangenen einsetzt.

«Als ich ankam, befanden sich die Frauen aus Abteilung 1 noch in der toten Zone (einem Sicherheitsbereich um das Gefängnisgebäude herum). Sie waren sehr nervös, zitterten und waren traumatisiert. Einige Frauen waren aus anderen Abteilungen entkommen und befanden sich draussen an der Parkplatzschranke, und die Polizei brachte sie in die Toilette des Wachpersonals, damit sie nicht entkommen konnten. Sie dachten, es sei ein Gefängnisausbruch geschehen. Sie waren es, die mir zu erzählen begannen: Sie haben Ingrid getötet, sie haben Kenia getötet, sie haben Loures getötet, sie haben Vivian getötet…»

Stunden später führte die Militärpolizei eine Inspektion der Sektionen 7 und 6 durch, die den Mitgliedern von Barrio 18 zugewiesen worden waren. Sie fanden 19 Kurz- und Langwaffen, Drogen, die von den Wächtern gestohlenen Funkgeräte und zwei Granaten, wie jene, die drei Tage vor dem Massaker aus dem Rucksack von Triple X gefallen war.

5. Abschnitt 1 (13 Monate vor dem Massaker)

«Wer ist eigentlich Mama?» fragte ich Ingrid während eines Interviews im Mai 2022. Bei unseren Gesprächen spielten sie immer die gleiche Karte: «Das müssen wir mit Mama, unserer Chefin, klären.» Schliesslich beschloss ich, mich direkt an sie zu wenden.

«Sie ist hier, aber sie wird nicht mit Ihnen sprechen wollen. Unmöglich.» Dann bat ich, meine Nachricht zu übermitteln. Daraufhin Mama erschien vor mir. Sie war imposant und kriegerisch. «Du hast zehn Minuten Zeit. Was willst du fragen?», sagte sie und tippte auf eine imaginäre Uhr an ihrem Handgelenk, als hätte ich sie zum Kampf herausgefordert.

Mama war eine der wenigen Frauen mit Macht innerhalb der MS-13, die Frauen um das Jahr 2010 eigentlich verbannt hat. Das heisst aber nicht, dass es keine Frauen in der Organisation gibt. Nachdem ich den honduranischen Zweig der Bande etwa zwölf Jahre lang studiert habe, würde ich sagen, dass es in ihrem gesamten Apparat mehr Frauen als Männer gibt. Bei dem Verbot von 2010 ging es darum, dass Frauen nicht mehr offiziell der Bande beitreten durften. Frauen dürfen seither nicht mehr das durchlaufen, was Anthropologen einen Initiationsritus nennen, der es einem Mitglied erlaubt, ein Marero oder eine Marera mit Macht über diejenigen zu werden, die diesen Status nicht innehaben. Ich nehme an, es ist ein ähnlicher Unterschied, wie wenn man in einer Anwaltskanzlei arbeitet und zum Partner ernannt wird.

Mama wurde in den 1990er Jahren von Bandenmitgliedern überfallen, die aus Los Angeles in eines der härtesten Viertel Mittelamerikas abgeschoben wurden: Chamelecón in der Stadt San Pedro Sula, die sich im Norden von Honduras befindet. Während die Gangs in Los Angeles auf Machismo und Frauenfeindlichkeit aufgebaut waren, gab es bei den Ablegern in Honduras mehr Raum für Frauen, eine Rolle zu spielen. Nach der Abschiebung von Bandenmitgliedern aus den USA nach Mittelamerika wurde dieser Raum verengt und mit einer Kultur vermischt, die sich Frauen gegenüber extrem aggressiv verhält. Selbst die Frauen, die sich die Buchstaben M und das S auf den Körper hatten tätowieren lassen, verloren ihre Macht und wurden zu Objekten degradiert. Aber einige wenige überlebten mit Mut, Kalkül und dem Einsatz von Gewalt. Mama ist eine von ihnen.

Was Mama in der Welt der Strassenbanden noch seltener macht, ist ihre Zugehörigkeit zu den Garifuna, einem aus der Kolonialzeit stammenden Volk – einer der ärmsten Gruppen Mittelamerikas -, das von den Sklavenaufständen und den indigenen Völkern der Arawak und Calipona auf den karibischen Inseln abstammt. Neben einer Vielfalt an kulturellen Merkmalen zeichnen sich die Garifuna dadurch aus, dass sie in Honduras fast keine Banden oder andere Formen des organisierten Verbrechens kennen.

Mama ist eine schwarze Frau mit einer tiefen, schallenden Stimme. Sie ist gross wie eine Bärenmutter. An dem Tag, an dem wir sie trafen, reichten ihr die langen Haare bis zur Mitte ihres Rückens. Ihre kräftigen Arme standen im Kontrast zu den exquisit lackierten Fingernägeln, die mit Ingrids winzigen Mustern verziert waren. Auch ihre Augenbrauen und Wimpern waren prächtig gestaltet, an ihrem Hals und ihren Ohren baumelte goldener Schmuck. An jedem Finger hatte sie einen Ring, der Duft von Vanille umwehte sie. «Wie Sie sehen, ernährt uns der Staat nicht. Wir werden von dem ernährt, was wir von unserer Familie bekommen. Sie hat ein Auge darauf, was wir brauchen. Sie kümmert sich um uns», sagte sie mit Stolz.

Sie hat nicht übertrieben. In ihrer Abteilung gab es alle möglichen Leckereien, die in einem honduranischen Gefängnis erlaubt sind: Zweimal im Monat schickte die MS-13 alles, was sie verlangte. Die letzte Lieferung umfasste Dutzende von Kisten mit Coca-Cola und anderen Erfrischungsgetränken, Süssigkeiten, mindestens vier Kuchen für die Geburtstagskinder des Monats.

«Ich mache mit den Köchinnen eine Liste und richte mich danach, was die Mädchen sich wünschen. Wenn sie brav waren, gebe ich ihnen, was sie wollen. Letztes Mal haben sie sich Surround-Sound-Lautsprecher gewünscht, für den Tanzunterricht. Sie haben sich benommen, und ich habe es ihnen gewährt», sagte Mama, während sie mich durch die Flure führte, wo ihre 137 Schützlinge wohnten.

«Passt auf! Wir haben Besuch», rief Monserrat auf ein Zeichen von Mama, und Dutzende von halbbekleideten Frauen rannten vom Hof in ihre Quartiere, um sich umzuziehen. Einer von ihnen entschlüpfte ein anzüglicher Satz, als sie an mir vorbeiging. Sie wurde sofort von Mamas zornigem Blick getroffen.

Abschnitt 1 ist ein quadratischer Bereich mit Gängen und einem Hof in der Mitte, mit sechs grossen Zimmern, die die Frauen zum Schlafen unterteilt haben. Es gibt eine Küche, eine Speisekammer und einen Mehrzweckraum, in dem Zumba-Kurse stattfanden und die Interviews für diese Geschichte. Es war einigermassen sauber. Die Frauen verhielten sich, wie es Frauen in jeder Haftanstalt tun. Die meisten waren recht jung. Belinda und Kenia tanzten Zumba mit fünf Pfund schweren Hanteln in den Händen, obwohl Mama sie gebeten hatte, die Lautsprecher nicht zu benutzen, solange ich da war. Oneyda, Ruth und Sirian sassen in einer Ecke und tauschten anscheinend pikanten Klatsch aus, dessen Inhalt sie nicht preisgeben wollten. In ihrem kleinen Schönheitssalon frisierte Ingrid die Haare und Nägel der Insassinnen und hatte sogar anderen das Frisieren und Auftragen von Nagellack und Acrylnägeln beigebracht.

Zweifellos hatten die Frauen verletzte Seelen. Alle, mit denen ich sprach, hatten Kinder und waren deshalb in Angst, von Barrio 18 getötet zu werden. Aber sie versuchten, fröhlich zu sein. Sie lachten viel und sangen Karaoke – wobei es schwer war, mit Monserrat, die ein menschliches Megafon war, zu konkurrieren. Sie schienen keine gewalttätigen Menschen zu sein oder sich so zu verhalten. Aus den Gerichtsarchiven geht hervor, dass nur drei der in diesem Sektor getöteten Frauen in ein Tötungsdelikt verwickelt waren. Die meisten von ihnen hatten mit Erpressung und Drogenhandel zu tun. Sie feierten ihre Geburtstage und die der Kinder, die sie verpassten, und bliesen dabei weinend ihre Kerzen aus.

In der Speisekammer gab es zwei grosse Gefriertruhen mit allen Arten von gefrorenem und gepökeltem Fleisch. Es gab Eiscreme, Joghurt und Kuchen. «Eine Gefälligkeit der Familie, weisst du», sagte Mama. Nach diesem Tag, an dem wir mit Dutzenden von Häftlingen gesprochen hatten, kam unser Team täglich zu Besuch.

Mama war eine rationale Frau. Sie wusste, dass sie Macht hatte, aber im Gegensatz zu männlichen Bandenchefs, mit denen ich gesprochen habe, brauchte sie einen nicht alle fünf Minuten daran zu erinnern. Sie war auch eine vernünftige Frau. Sie setzte ihr kriegerisches Gesicht auf, wenn sie über «las panoyas» sprach, ein spöttisches Wort, das sie für die Mitglieder von Barrio 18 benutzte. Wenn sie über ihre Kinder sprach und über den Schmerz, sie nicht selbst grossziehen zu können, liefen ihr Tränen über die Wangen. Mama wartete ein jedes Mal auf ihrer Seite des Sicherheitszauns auf mich, pünktlich und gut aussehend, und schimpft mich neckisch mit ihrer tiefen Garifuna-Stimme, sobald ich das Gefängnis mit  meiner üblichen Verspätung betrat.

«Wir sind hier umzingelt. Die Panoyas kontrollieren alle anderen Abteilungen und einige von ihnen sind wirklich hart, sie sind Mörderinnen.» Das Problem war, dass Mama keine Kämpferinnen in ihren Reihen hatte – höchstens Verwaltungskräfte der MS-13. Die meisten waren wegen kleinkrimineller Vergehen oder Erpressung in Abschnitt 1 oder wurden einfach dorthin gesteckt, weil sie in einem von der MS-13 kontrollierten Wohngegenden lebten oder einen Verwandten hatten, der mit der Organisation in Verbindung stand.

«Die Sache ist die, dass viele sich der Bande anschliessen, sobald sie hier sind. Draussen waren sie unbescholten, das System bringt sie hier hinein», erklärt Mama. Das war der Fall bei Ingrid, die als ganz normale Honduranerin kam und die Mara als ihre Familie bezeichnete, als ich sie kennenlernte. Aus diesem Grund bezeichne ich die Frauen in dieser Geschichte als Insassinnen der Sektion 1 und nicht als MS-13-Mitglieder.

Mama und ihre Gruppe lebten gut, soweit das möglich war. Die MS-13 schickte nicht nur eine gute Menge an Lebensmitteln, sondern auf Wunsch auch Leckereien. Der Mechanismus war einfacher, als ich es mir vorgestellt hatte. Mama erklärte mir, dass sie eine Liste anfertigte und sie an die Direktorin schickte. Mit ihrer Zustimmung würde der Brief die MS-13 erreichen. Tage später traf ein Lastwagen mit ihrer Bestellung ein. Nach einer flüchtigen Inspektion durch die Behörden wurde er in die Justizvollzugsanstalt gebracht. Vor meinen Besuchen hatte die MS-13 Malerarbeiten, Betten, Matratzen, Ventilatoren und die gesamte neue Verkabelung in Abteilung 1 finanziert. Laut Mama sollte damit Bränden vorgebeugt werden.

6. Die Bombe tickt (5 Jahre vor dem Massaker)

«Wir sind für alles da, was sie von uns brauchen», sagten drei Koordinatorinnen im Gefängnistrakt von Barrio 18 bei einem meiner Besuche im Jahr 2018. Das «sie» bezog sich auf die männlichen Anführer der Bande. Die weiblichen Mitglieder von Barrio 18 trugen Männerhemden, die viel grösser waren als ihre eigentliche Grösse. Sie trugen Nike Cortez-Schuhe, redeten und liefen unruhig und raumgreifend umher.

Damals sprach ich mit einer Gruppe von etwa zehn Frauen. Sie beschwerten sich hauptsächlich über die Bedingungen im Gefängnis. Als ich sie nach ihrer Rolle bei Barrio 18 fragte, schwiegen sie oder stellten sich als weniger tödliche Werkzeuge des organisierten Verbrechens dar, mit wenig oder gar keiner Entscheidungsbefugnis.

Als ich sie bei diesem Besuch nach dem Ursprung des Hasses zwischen ihrer Organisation und der MS-13 fragte, wichen sie aus oder antworteten mit Allgemeinplätzen und abgedroschenen Phrasen wie: «Weisst du, diese Scheisskerle denken, sie seien besser und könnten das Land kontrollieren, aber so funktioniert das nicht.»

In Honduras hat die MS-13 nach offiziellen Angaben fast doppelt so viele Mitglieder und kontrolliert ein grösseres Gebiet als Barrio 18. Eine Studie, an der ich 2019 teilnahm, zeigte jedoch, dass die Behörden doppelt so viele Mitglieder von Barrio 18 wie von MS-13 festnahmen. Dieser Vorteil auf den Strassen gibt MS-13 einen viel grösseren Spielraum, um als mafiöse Organisation zu wachsen und ihre operativen Netzwerke zu konsolidieren. In den Gefängnissen, insbesondere in den Frauengefängnissen, ist sie jedoch klar im Nachteil, da die MS-13-Population aus Frauen besteht, die keine Erfahrung im Umgang mit Macheten oder Gewehren haben und nicht in der Lage sind, la calaca zu entfesseln oder zu bremsen.

Mama verstand das, und eines ihrer Ziele war es, versiertere Frauen im Gefängnis zu finden. Sie wusste, dass es in den von Barrio 18 kontrollierten Abschnitten Dutzende von Insassinnen gab, die mit der Organisation in Verbindung standen, darunter mehrere Homegirls (tatsächliche Gangmitglieder). Bei MS-13 war das nicht der Fall, was einen enormen Unterschied darstellte. Deshalb verwöhnte Mama ihre Zellengenossinnen, kaufte ihnen Kuchen und beschützte sie. Sie war bereit zu kämpfen, aber der Kampf kam zu früh.

«Ein Besucher ist da. Koordinatorinnen zum Eingang!», schrie eine der Schreihälse in der Sektion von Barrio 18, vier Jahre nach meiner ersten Begegnung mit ihnen. Diese Frauen waren anders als die in Sektion 1: Sie hatten Barrio 18 in ihren Augen. Einige waren bis zum Hals tätowiert und trugen Schmuck mit den Emblemen ihrer Bande. Zwei der Frauen hörten mir zu, als ich meinen Vortrag über die Bedeutung ihrer Lebensgeschichten hielt und darüber, wie wichtig es für künftige Generationen wäre, dass diese erzählt würden.

Sie schauten mir nicht in die Augen und gaben mir keine konkreten Antworten. Eine von ihnen streichelte zärtlich ein lahmes Kätzchen. Das Tier hatte grüne Augen und eine Nylonschnur um den Hals gebunden. Es war ihr Haustier. Die Frauen änderten ihren Tonfall, als sie über die Katze sprachen. Sie sagten, sie sei eine Streunerin. Ihre Besitzerin habe sie ausgesetzt, weil sie ein verkrüppeltes Bein hatte. Sie sagten, dass sie sich mit ihren Kommandeurinnen und diese wiederum mit noch höheren Kommandeurinnen beraten müssten, um Interviews geben zu können. Schliesslich willigten sie ein, dass ich und mein Team sie interviewen durften.

Nach meinen ersten Eindrücken erfuhr ich, dass ihre Lebensgeschichten denen der Frauen in Abschnitt 1 weitgehend ähnelten – sie handelten von sexuellem Missbrauch, von zerrütteten Familien und der Unmöglichkeit von Liebe, von Gangstern, die sie einluden, einer neuen Familie beizutreten, um für sie Kinder zur Welt zu bringen, nur um dann, am Ende, hinter Gefängnisgittern zu enden. Sie unterschieden sich lediglich in ihrem subjektiven Verhältnis zum Tod voneinander. Einige hatten sich schon zu lange darauf vorbereitet, andere waren noch nicht so weit.

7. Asche (1,5 Monate nach dem Massaker)

Ana wartet auf mich vor einem Einkaufszentrum in Tegucigalpa. Sie hat ihre Handtasche an die Brust gepresst und blickt mit wachsamen Augen nach links und rechts. Ihre Töchter haben ihr gesagt, sie solle mit niemandem sprechen, es könne gefährlich sein, sie solle das Haus nicht verlassen. Aber sie hat nicht darauf gehört. Sie schnappte sich ihre Tasche und rief mich an: «Ich werde reden, Don Juan. Ich werde reden, weil das, was dort passiert ist, ungerecht ist.»

Yésika, ihre Tochter, wurde bei dem Massaker vom 20. Juni getötet, obwohl sie höchstwahrscheinlich nicht zu den Todesopfern gehören sollte. Sie war seit acht Jahren in der Haftanstalt, hatte das erste Massaker im Jahr 2020 miterlebt und war nie angegriffen oder bedroht worden. Sie besuchte einen der vier Andachtsräume des Gefängnisses und bereitete zum Zeitpunkt ihrer Ermordung zusammen mit anderen Frauen den täglichen evangelischen Gottesdienst vor.

Ana war zu Hause, als zwei ihrer Töchter sie anriefen. In dem Gefängnis, in dem Yésika inhaftiert war, hatte es gebrannt. Ana ist ältere Frau, sie hat Schwierigkeiten beim Gehen und verliert auf der Strasse die Orientierung, aber an diesem Tag hörte sie nicht auf die Bitten ihrer Töchter und ging mit ihnen ins öffentliche Krankenhaus. Sie dachte, dass ihre Tochter dorthin gebracht werden würde, wenn sie verletzt wäre. Sie hätte nie gedacht, dass Yésika tot sein würde. Sie schlüpfte durch das Eingangstor und schaffte es bis zur Station, in der die Verwundeten des Gefängnisses lagen.

«Dort waren etwa 40 Frauen mit Schusswunden. Ich ging von Bett zu Bett und fragte sie. ‘Wir wissen nichts, Mutter’, sagten sie.» Sie betrat die Intensivstation und kämpfte sich an der Militärpolizei vorbei, die dort die Verwundeten bewachte. «Einige lagen im Sterben, aber nicht meine Tochter», sagt Ana und versucht in diesem Moment nicht mehr, ihre Tränen zu verbergen.

Sie ging mit ihren Töchtern zum Gefängnis. Sie schlüpften auch dort durch das Eingangstor, Ana blieb zurück. Doch dann erkannte sie inmitten eines Meeres aus Leid die Schreie ihrer Töchter. Eine Mutter wird diesen Klang immer erkennen, sagte sie, egal wie sehr die Welt tobt. Es gelang ihr, sie zu erreichen, und als ihr Weinen sah, wusste sie, dass Yésika getötet worden war.

An jenem Tag, um 23 Uhr, wurde sie im Leichenschauhaus gebeten, die Leiche ihrer Tochter hinter Glas zu identifizieren. Das war der einfache Teil. Die Kugeln hatten es gut mit Yésika gemeint. Weder Feuer noch die Wut von Steinen, Macheten oder Klingen hatten ihren Körper erreicht. Yésika starb einen sauberen Tod, einen weniger schlimmen Tod.

Ana sagt, dass der Körper ihrer Tochter nur an der Brust genäht werden musste, dort hatten die Schüsse sie getroffen. Doch während ihrer Totenwache färbte sich das Gesicht ihrer Tochter langsam lila – als hätte man ihr in den Kopf geschossen, und sie würde dagegen ein letztes Mal protestieren.

Die honduranische Regierung gewährte den Angehörigen der 46 Opfer von Támara eine Beihilfe von 50 000 Honduranischen Lempira (etwas mehr als 1700 Schweizer Franken), mit der Ana die Beerdigung von Yésika bezahlte. Die Gesamtrechnung, die von denselben Behörden bezahlt wurde, die beschlossen, die Briefe der Opfer, die Drohungen der Mörderinnen und die eingeschleuste Granate zu ignorieren, beläuft sich auf weniger als 85 000 Schweizer Franken. Und Yésika wurde auch nach ihrem Tod weiter gedemütigt: Die Regierung erlaubte Ana nur, ihre Tochter in der Hauptstadt zu beerdigen – auf einem für die MS-13 reservierten Friedhof.

Ana will nicht, dass ich gehe, ohne mir etwas zu zeigen. Mit arthritischen, schwieligen Händen nimmt sie ihr Telefon in die Hand und tippt auf dem Bildschirm herum, bis sie findet, was sie sucht. Ein Foto von ihrer Tochter. Sie möchte, dass ich sie einmal lebend sehe. Das Foto wurde in der Kirche des Gefängnisses aufgenommen. Es zeigt Yesika lächelnd mit einem Schild, auf dem steht: «Soy libre» – ich bin frei.

Yésika ist zumindest beerdigt worden. Ingrid und die anderen Frauen, die zu Tode verbrannt wurden, nicht. Die honduranische Regierung weiss zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Geschichte im September 2023 nicht, welche Überreste an welche Familie übergeben werden sollen. Das Feuer hat sie alle in ein tiefes Schwarz gehüllt, nur ein DNA-Test kann ihnen ihre Identität zurückgeben.

Zweieinhalb Monate nach dem Massaker hat der honduranische Staat noch immer keine offizielle Liste mit den Namen der Toten vorgelegt – nur vorläufige Listen, in denen fälschlicherweise Überlebende unter den Toten aufgeführt sind. Und mehr als zehn Frauen, die getötet wurden, unter den Überlebenden. Vilma González Aviña, Mamas richtiger Name, ist immer noch auf der vorläufigen Liste der nationalen Strafvollzugsbehörde aufgeführt. Ich habe Gefängnisbeamte gefragt, auf welcher Grundlage sie Mama auf die Liste der Toten aufgenommen haben. Sie waren einfach davon ausgegangen, dass sie als eines der wenigen MS-13-Mitglieder eines der ersten Ziele von Barrio 18 gewesen sei.

In Ermangelung offizieller Informationen hat eine Gruppe honduranischer Menschenrechtsaktivisten eine Liste erstellt, damit die Namen der Frauen nicht verloren gehen oder in einer Schublade in einem Regierungsbüro verschwinden. Dies ist die genaueste Dokumentation über die Identität dieser Frauen. Es war eine mühsame Arbeit. Sie soll verhindern, dass sie in Vergessenheit geraten.

Nach Angaben der Aktivistengruppe verloren die folgenden Frauen ihr Leben bei dem Massaker vom 20. Juni 2023 im Gefängnis von Támara.

1. Yesika Yaneth Avila Barahona
2. Lourdes Yamileth Osorto
3. Ana Dilcia Aguirre Rivera
4. Johana Elizabeth Midence Martínez
5. Irma Aracely Velásquez Vásquez
6. Vivian Melissa Juárez Fiallos
7. Senia María Ocampos
8. Diandra Mariel Andrade Zelaya
9. Natalia Sarai Romero Ponce
10. Rosa Nohemy Padilla García
11. Yosselin Selena Espinal Osorto
12. María Josefa Rodríguez
13. Nancy Sarahy Flores Vásquez
14. Estefany Elizabeth Flores Palada
15. Estela Joselyn Barahona Grandez
16. Hilsy Lideny Zambrano Zambrano
17. Nora Elizabeth Lazo Jiménez
18. Martha Mariela Contreras Chinchilla
19. Claudia Patricia Baquedano
20. Suami Mariela Rodríguez Santos
21. Reina Karina Flores Moncada
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23. Paola Yamileth Henriquez Izcano

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Übersetzung: María José Giménez und Anna Rosenwong
Redaktion: Christoph Dorne
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