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INDIEN → Kumbhas Baumwolle bereitet keine Sorgen

KAPITEL 2/10

Um zu verstehen, was es heissen kann, mit biologischen Methoden Baumwolle anzubauen, blicken wir in den Nordwesten Indiens, auf einen Acker in der Nähe des Dorfes Bhimasar.

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Kumbha Parmaar
Der 61-jährige Kleinbauer aus dem Dorf Bhimasar im indischen Bundesstaat Gujarat baut, wie praktisch alle Bauern der Gegend, die Baumwollsorte Kala an.

Gemächlich, mit gewählten Schritten, bewegt sich ein alter Mann durch hüfthohe, ihm kaum Platz lassende Pflanzen. Eine kurze, breite Hacke liegt locker auf seiner Schulter, ein weisser, staubverzierter Stoff umgibt seinen Körper; seine nackten Füsse wie auch seine nackten Waden sind überzogen von Schlammspritzern.

Über die nahe Strasse rattern Motorräder, ab und zu rumpelt, verfolgt von Staubwolken, ein klappriger Lastwagen vorbei, ein paar Felder weiter surren mächtige Hochspannungsleitungen, und noch näher am Horizont zieht bisweilen eine schwergewichtige Lok ihre Container und ihren metallenen Lärm durch die Landschaft, auf dem noch weiten Weg nach Mundra, einem der wichtigsten Frachthäfen Indiens. Trotz des Lärms ist der im Feld stehende Mann auf seine nächste Umgebung fokussiert, auf seine sich der Erntereife nähernde Baumwolle. Aufmerksam blickt er, das dichte Blätterwerk durchdringend, auf den sandigen Boden und den winzigen Wasserstrom, der sich ganz in seiner Nähe, in einem handbreiten Kanal, seinen Weg über die trockene Erde bahnt.

Hoch über dem Mann steht eine winterlich milde Sonne, es ist Mitte Dezember, wir befinden uns zwei, drei Steinwürfe vom Dorf Bhimasar entfernt, das Thermometer zeigt 28 Grad.

«Ziemlich kalt heute», findet der 61-jährige Kumbha Parmaar, und kurz sieht es aus, als wolle er etwas hinzufügen, etwas erzählen, aber es sind nur ein paar Gedanken, die kurz die Leinwand hinter seiner Stirn streifen. Kumbha gehört zu jenen, die das meiste Erzählen für entbehrlich halten.

Trotz der jahrelangen Arbeit auf den Feldern wirkt ­Kumbha nicht ausgezehrt; sein Körper ist kräftig, strahlt eine erhabene Ruhe aus. Kumbha trägt einen breiten Schnauz, schwarz-grau meliertes Haar, das den sozialen Traditionen seiner Familie entsprechende Hosenkleid und eine ernste, aber nicht unfreundliche Miene.

Wer seine weissen Zähne sieht, erkennt sogleich, dass sich dieser Mann fernhält vom Konsum des Tabaks, wie er hier, im nordwestlichen Teil Gujarats, von zahllosen Männern gekaut und auf dem Zahnfleisch durch den Tag getragen wird. Viele Landwirte leben nach jahrelangem Tabakkauen mit Zähnen, die ihren Mundinnenraum aussehen lassen wie einen achtlos abgeernteten Zuckerrübenacker. Es können diese Männer, wenn sie sprechen, den Mund kaum öffnen, weil er zur Hälfte gefüllt ist mit Tabakbröseln und Speichel; wenn ihnen die Tabaksuppe zu viel wird, lassen sie, egal wo, egal wann, einen rotweinroten Strahl aus ihrem Mund fahren. Der Boden mancher Lokale ist voll davon. Nur an bestimmten Orten, an Tankstellen beispielsweise, gelten Spuckverbote.

Mit diesem Tabak hat Kumbha nie angefangen, und wie Kum- bha selbst macht auch seine Baumwolle einen gesunden, robusten Eindruck. Die Blätter leuchten zwar nicht in einem starken Grün, aber das tun sie nur deshalb nicht, weil jeder noch so schwache Wind Gujarats Sand und Staub mit sich trägt und weil es, wenn der Monsun einmal vorbei ist, bisweilen monatelang nicht regnet. Was hier keine tief reichenden Wurzeln hat, bringt es nicht weit.

Kumbha sagt, er sei zufrieden mit dem bisherigen Wachstum seiner Baumwolle, er dürfe auf eine gute Ernte hoffen.

 Er macht ein paar behutsame Schritte, senkt die Hacke zwischen die Blätter und reisst mit seinem Werkzeug einen wenige Zentimeter hohen Damm nieder: Sogleich drängt sich das Wasser vor, umspült seine Füsse, die nächsten Schritte macht er im sich erdbraun färbenden Wasser: Die Bewässerung der Baumwolle vollzieht sich in einem ausgeklügelten Labyrinth und mit präzisen Bewegungen; Kumbha dosiert und lenkt das Wasser über das Feld ungefähr so, wie andere einen jungen Hund an der Leine führen. Stets muss Kumbha in der Nähe des vordrängenden Wassers bleiben, stets seinen Lauf korrigieren; das Wasser soll nirgends falsch abbiegen, sich nirgends zu lange stauen, soll vollumfänglich seinen Pflanzen zugutekommen.

«Biologisch angebaute Baumwolle braucht nur wenig Wasser, aber sie profitiert sehr, wenn sie ein kleines bisschen davon erhält1. Ich bin mit diesem Feld in der privilegierten Lage, guten Zugang zu Wasser zu haben», sagt Kumbha, während er weiter das Wasser lenkt.

Lange Fasern, kurze Fasern

Ein benachbarter Landwirt steht unvermittelt an der nahen Hecke; er ruft Kumbha zu und findet, es sei Zeit für eine Teepause.

Kumbha nickt zwar, fährt jedoch mit seiner Arbeit fort.

Der Nachbar Kumbhas heisst Dhirubhai Makwana, ist 43 Jahre alt und ebenfalls Landwirt. Im Unterschied zu Kumbha erzählt er gerne. Auch Dhirubhai baut Baumwolle an, und während einige Landwirte im Dorf künstlichen Dünger, Pestizide und Insektizide einsetzen, während einige auch die längst in ganz Indien populär gewordene, genmodifizierte BT-Baumwolle anbauen und mit ihr deutlich grössere Erträge erzielen, ist Dhirubhai ein überzeugter Verfechter der alten, an lokale Bedingungen angepassten Sorte: Wie die meisten Landwirte der Region vertraut er auf eine Baumwolle namens Kala.

«Ich schätze die Kala sehr. Sie ist anspruchslos», sagt Dhirubhai. «Sie wird nur selten von schadhaften Insekten oder Krankheiten befallen. Und sie bietet uns viel: Ihre Wurzeln lockern den Boden und halten ihn sauerstoffreich; der dichte Bewuchs schützt den Boden in heissen Tagen vor dem Austrocknen; die Blüten ziehen eine Vielzahl willkommener Insekten an. Aus den Samen lässt sich ein reichhaltiges Öl gewinnen, das wichtig ist für unsere Küche. Nach der Ernte schicken wir die Kühe auf den Acker, sie lieben die Baumwollblätter. Je länger die Kühe sich satt fressen können, desto besser düngen sie den Acker. Wenn nur noch die Stengel übrig sind, lassen sich diese als Brennholz verwenden, oder sie werden umgepflügt und dienen der Bodenfauna als wertvolle Nahrung.»

Dass einige Landwirte im Dorf die Kala mit künstlichem Dünger anbauen, findet er unverständlich und falsch. «Die Baumwolle wächst dann zwar deutlich schneller, klar. Aber sie ist nicht robust, ihre Abwehr ist schwach – Krankheiten und Insekten nutzen das aus. So müssen diese Landwirte meist viel Geld für Insektizide und Pestizide ausgeben.» Der hohe Einsatz dieser Agrochemikalien war der Auslöser für die Entwicklung der BT-Baumwolle. «BT» steht für Bacillus thuringiensis; ein Gen dieses Bakteriums wird in die Baumwolle eingebaut. Dadurch produziert sie ein Gift, welches die Larven des Baumwollkapselbohrers tötet. Der Einsatz von BT-Baumwolle hat während einiger Jahre den Verbrauch von Agrochemie verringern können. Unterdessen häufen sich jedoch Sekundärschädlinge und Resistenzen. Saatgutfirmen reagieren darauf mit mehrfach gentechnisch veränderter Baumwolle. Der Einsatz von Chemikalien bleibt aber oft unerlässlich.

Dhirubhai findet das alles sehr falsch. Er lässt sich von einem Kollegen Tee auf die Untertasse giessen, wie das hier üblich ist, kippt das grosszügig gezuckerte Getränk rasch hinunter, blickt zufrieden in die Runde und ergänzt:

«Die Erde ist unsere Mutter. Wer würde denn seiner Mutter Gift geben wollen?»

Kumbha, inzwischen ebenso Teil der kleinen Gruppe, die sich im Schatten dieses Baumes zum Tee versammelt hat, äussert keine ausgefeilten Theorien zu diesem Thema, er spricht nicht von Ökologie, er lässt in dieser Runde am liebsten die anderen sprechen. Aber er schätze die Kala sehr, sagt er schliesslich. Sie bringe ihm zwar nicht viel Geld ein, koste ihn im Anbau aber fast nichts. Sie tue dem Boden gut und bereite ihm keine Sorgen.

Bis jetzt habe er seine Ernte noch immer verkaufen können. Wohin sie anschliessend geht, nachdem er sie einem Händler übergeben hat, weiss Kumbha nicht. Auch die anderen Landwirte wissen nicht, was mit ihrer Baumwolle geschieht.

Nicht einmal Devsibai Parmar kann die Frage beantworten, obwohl er im zwölf Kilometer entfernten Kleinstädtchen Adesar eine Kooperative namens Setu leitet, welche den Anbau lokaler Bio-Baumwolle fördert und Kurse anbietet, welche – eine staatliche Berufsbildung für Landwirte existiert in Indien nicht – Wissen vermitteln zu bewährter landwirtschaftlicher Praxis.

«Ich weiss tatsächlich nicht, wohin unsere Baumwolle geht», sagt Devsibai. «Klar ist nur, dass die Kala eine eher grobe und kurze ­Faser hervorbringt, welche in der traditionellen indischen Kleiderherstellung zwar beliebt ist, den internationalen Ansprüchen nach einer möglichst langen, feinen Faser jedoch nicht gerecht werden kann.»

Kennt er die Website khamir.org, auf der schicke Kleider, hergestellt aus biologischer und regionaler Kala, sowohl für indische wie auch für internationale Kundschaft angeboten werden?

Nein, davon hat er keine Kenntnis.

Aber er weiss, dass es für BT-Baumwolle, aufgrund der längeren Faser, eine erheblich höhere Nachfrage gibt und dass ein Landwirt mit ihr einen um rund 50 Prozent höheren Kilopreis erhält.

Das klingt attraktiver, als es ist: «In unserer Region, in welcher zahlreiche Landwirte keine Möglichkeit besitzen, ihren Acker zu bewässern, ist der Anbau von BT-Baumwolle nur selten sinnvoll. Denn es handelt sich um eine Hochleistungspflanze, die viel Pflege und Nahrung verlangt. Wer sie nicht bewässern und intensiv düngen kann, kommt nicht klar. Zum Ende der Blütezeit oder wenn die Bedingungen nicht tadellos sind, wird sie von Krankheiten befallen. Deswegen bauen viele Landwirte der Umgebung die traditionelle Kala an. Sie müssen nicht viel investieren, verfügen nach jahrzehntelangem Anbau über ein lokal perfekt angepasstes Saatgut, düngen die Kala vielleicht mit etwas Kuhmist, und sie macht ihnen von der Saat im späten Sommer bis zur Ernte im Januar keine Sorgen.»

Nachts am Feuer

Dass die Sache mit den Sorgen relativ ist, wird deutlich, wenn sich, noch vor 19 Uhr, die Nacht über die Felder legt. Nachmittags gibt es zwar, wenn alles rundläuft, für die meisten Landwirte eine Arbeitspause. Abends aber, wenn die Wasserbüffel gemolken und festgebunden sind, beginnt für viele, auch für Kumbha, eine ganz andere, ziemlich lange Arbeitsschicht: Er muss seine Baumwolle bewachen.

Kumbha trägt nun eine dicke Jacke und einen umfangreichen weissen Turban – die Nacht kann sich abkühlen auf 12 Grad. Er hat eine Decke, zwei massige Taschenlampen und einen Thermoskrug dabei, parkt sein Motorrad am Rand der Hecke und spaziert zu einer selbstgebauten Konstruktion aus Holz und Hirsehalmen; ein doppelstöckiges Bett steht hier, gut zwei Meter hoch, mitten im Feld. Es ist die indische, unübertrefflich platzsparende Version eines Tiny House ohne jede Wand.

Gleich neben diesem kunstfertig gebauten Bett beginnt eine schulterhohe, von Holzpfählen gehaltene Drahtleitung; Kumbha verbindet die Batterie einer der beiden milchflaschengrossen Taschenlampen mit einem der beiden Drähte, sorgt für die nötige Erdung – umgehend blinken auf einer Länge von zweihundert Metern viele Dutzend rote und blaue LED-Lämpchen nervös in die Dunkelheit hinaus. Es fehlt zwar die Musik und es tanzt niemand, aber das Baumwollfeld sieht aus wie eine Open-Air-Disco für Insekten.

«Es gibt in der Region viele Wildschweine», erklärt Kumbha. «Zudem die frei herumlaufenden Kühe – sie lieben die heranreifende Baumwolle, ihr süsser Duft lockt sie an. Und dann gibt es hier auch die Herden des Indischen Halbesels, denn wir befinden uns in der Nähe einer ausgedehnten Wildschutzzone. Wenn die wilden Tiere meine blinkenden Lämpchen sehen, sollen sie verstehen, dass sie hier nichts zu suchen haben», sagt Kumbha.

Er klettert die schlanke, aus Zweigen gebaute Treppe hoch, installiert sich auf dem oberen Bett, hockt zwei Meter über dem Boden buddhaähnlich auf seinen spröden Hirsehalmen, wirft sich eine Decke über die Schultern und blickt über seine im Licht des aufsteigenden Mondes umrisshaft erkennbaren Felder.

Für den Fall, dass sich trotz der Lämpchen unerwünschte Tiere seinen Feldern nähern, hat Kumbha eine Steinschleuder bereitgelegt: ein langes, schlankes Tuch, das er, die dickste Stelle mit einem Stein belegt, auf ein beeindruckendes Tempo beschleunigen kann.

«Jene Kühe, die meine Steinschleuder kennen, machen bereits kehrt, sobald sie das Schwingen der Schleuder nur hören.»

Es raschelt in der Hecke; Zweige bewegen sich. Keine Wildtiere zeigen sich, sondern zwei benachbarte Landwirte. Einer von ihnen ist Dhirubhai; und während er, kaum hat er das Tiny House erreicht, sogleich zu erzählen beginnt, entrollt sein Kollege am Fuss des Kajütenbettes einen kleinen Teppich, setzt sich darauf und baut aus Zweiglein eine zwergenhafte Feuerstelle.

Wie schon am frühen Nachmittag ist es Dhirubhai, der das Gespräch dominiert; das nächtliche Bewachen der Baumwollfelder erscheint ihm als reine Zeitverschwendung. Er selbst arbeite mit einer Rezeptur aus altem Büffelurin, vergorener Büffelmilch und Neem-Nüssen. Diese aussergewöhnlich übelriechende Flüssigkeit versprühe er regelmässig entlang der Ränder seiner Flächen: So bleibe seine Baumwolle unangetastet.

In der Ferne lässt sich nun ein kräftiger Lichtstrahl erkennen, dreihundert Meter mag diese Taschenlampe entfernt sein. Da sie blinkt, weiss Kumbha, dass der dortige Landwirt wilde Tiere entdeckt hat.

Sofort scannt Kumbha mit dem Strahl seiner Lampe den Rand seiner Felder ab. Die Chance, dass die Tiere bald bei ihm sind, scheint gross. Tatsächlich blitzt ein Augenpaar auf, bloss um gleich wieder zu verschwinden. Kumbha hat genug gesehen: Es handelt sich um einen Fuchs. Dieser stellt keine Bedrohung für die Baumwolle dar; Kumbha bleibt ruhig auf seinem Ausguck sitzen.

Die anschliessende Stille nutzt Dhirubhai, um von seiner lieb-
sten Kuh zu erzählen, die er, wie alle richtig wertvollen Kühe, nicht gekauft habe, da sich mit Geld bekanntlich nichts Heiliges kaufen lasse. Er verzichte darauf, die Kuh zu melken; das fände er anmassend. «Sie soll einfach tun und lassen, was ihr gefällt. Ich sehe sie manchmal, wenn ich ins Dorf gehe. Sie ist eine sehr schöne Kuh.»

Vielleicht ist es das winzige, dennoch weithin sichtbare Feuer. Vielleicht sind es die lange, langweilige Winternacht und die gut sichtbar am Rand der Hecke geparkten Motorräder – jedenfalls steht, mit dem Wunsch, sich mit anderen zu unterhalten, mit einem Mal auch der 28-jährige Jigar Chavda an der Seite des Hirsehalmbettes.

Er erzählt von der Arbeit als Ingenieur, von seiner Art, eher unsicher durchs Leben zu gehen, von seinem Wunsch, für die Eisenbahngesellschaft zu arbeiten, von seiner Traurigkeit. Je länger er erzählt, desto deutlicher wird, dass ihn vor allem seine Hochzeit bedrückt.

«Ich bin nun 28; meine Eltern sagen, es sei endlich Zeit für die Heirat. Na ja, sie haben wohl recht. Sie haben eine Frau für mich ausgesucht. Sie wohnt in meinem Dorf, wahrscheinlich sogar in meiner Strasse. Ich habe sie noch nie gesehen.»

Eine Pause entsteht, rings um uns blinken rot und blau die glühwürmchenkleinen Lämpchen in die riesige, von einem nicht ganz vollen Mond sanft erhellte Nacht hinaus. Kumbha sitzt unverändert auf seinem Hirsebett, leuchtet regelmässig den Horizont seiner Felder ab, bisher ohne alarmiert zu sein, und hört zu, wie sich die anderen Männer, zwei Etagen tiefer bei dem bescheidenen Feuer sitzend, mit leisen Stimmen unterhalten.

 «Vielleicht würde ich später schon einmal heiraten wollen», sagt Jigar nach einigem Anlaufholen. «Zuerst aber möchte ich einen besseren Beruf. Ich möchte auch Zeit haben, um mit meinen Kumpels Cricket zu spielen. Nun aber ist die Hochzeit vereinbart, ich kann es nicht ändern. In zwei Monaten werde ich verheiratet sein, werde eine Familie gründen müssen.»

In einer arrangierten Ehe zu leben, ist in Gujarat nach wie vor üblich. Manche behaupten, dies treibe viele Menschen in Depressionen, zu unerfüllten Affären, in den Tabak und in den Alkohol. Im Bundesstaat Gujarat ist zwar, im ethisch-weltanschaulichen Windschatten Mahatma Gandhis, Alkohol weiterhin illegal. Manche Landwirte jedoch verwandeln alles, was sich halbwegs eignet – meist sind es Zutaten tiermedizinischer Provenienz – in einen starken Schnaps.

Ob Kumbha, der in jener Nacht keine wilden Tiere hat abwehren müssen, auch einer jener Landwirte ist, der seine Sehnsüchte, seine Einsamkeiten und seine Enttäuschungen in Selbstgebranntem ertränkt, war nicht in Erfahrung zu bringen. Immer war es Dhirubhai, der sich im Gespräch vorgedrängt, der zahlreiche Fragen, die an Kumbha gerichtet waren, an seiner Statt beantwortet hat. Auf die Frage, ob es möglich wäre, einmal eine Nacht lang nur mit ihm, mit Kumbha al-
lein, auf dem Baumwollacker zu verweilen, hat Kumbha abschlägig und reserviert reagiert.

Es mag dies daran liegen, dass Kumbha lieber schweigt und grosszügig die basalen Gesetzmässigkeiten des Lebens sprechen lässt. Oder es mag daran liegen, dass er zurückhaltend umgeht mit seinen Meinungen. Dies tut er wohl, weil es für ihn, wie für viele andere auch, äusserst schwierig ist, sich überhaupt eine Meinung zu bilden. Gemäss Devsibai Parmar von der Kooperative Setu ist jeder zweite Landwirt der Region ein Analphabet. Auf den Formularen, die sie zu signieren haben, unterschreiben sie mit ihrem Daumenabdruck.