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KIKI → Eine Influencerin beginnt zu zweifeln

KAPITEL 1/10

TEIL I

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Kiki Boreel
28-jährig, Model, Influencerin, Mode- und Umweltaktivistin aus den Niederlanden. Studierte Umweltwissenschaften und hat auf Instagram 12’000 Follower.

In feinen Böen weht der Sommer durch die Gassen, spaziert durch die offenen Fenster und hinein ins betagte Backsteinhaus, in den grossen, niedrigen Raum mit dem schönen Holz und dem weichen Licht. Vier schweigsame Frauen sind hier mit Gesichtern und Haaren beschäftigt, mit kleinsten kosmetischen Details, geringsten Schattierungen; sorgfaltsverliebt bewegen sie die Pinsel.

«Es soll», sagt Diek Pothoven, der unvermittelt im Zimmer steht, der längst oben in der Ankleide war, jetzt aber doch wieder hier im ersten Stock herumwuselt, «es soll frisch und sportlich aussehen. Wie Amsterdam: erfrischend. Das Haar darf sehr nass wirken», präzisiert er, den Blickkontakt mit den Frauen haltend, «es soll der Eindruck entstehen, die Models kämen direkt aus dem Wasser.»

Zwar ist Diek Pothoven einer der Gründer des Amsterdamer Modelabels Martan und damit gleichzeitig der Chef hier von allem und allen, aber die Rolle des Chefs scheint ihn wenig zu interessieren, er hält seine Ansprache knapp und zeigt sich zufrieden, dass die vier mit Haut und Haar beschäftigten Frauen zwar nicken, während er spricht, aber mit einer verschwörerischen Gelassenheit auf ihre Arbeit fokussiert bleiben.

Ein wichtiger Teil der Arbeit besteht ohnehin schlicht darin, die Zeit im Auge zu behalten: In dreieinhalb Stunden soll die erste Show losgehen. Und nach den vier Models sind nochmals acht zu schminken und zu frisieren; einige sitzen bereits herum, warten und plaudern. Die meisten sind jung, schlaksig auch, etwas mangelernährt vielleicht. Sie wirken schüchtern oder unnahbar oder beides, und sie tragen Anmut in sich, wirken zerbrechlich und stark – sie haben diese Ausstrahlung, die einen zweiten, einen dritten Blick verlangt, und auch wenn unklar bleibt, worin sich ihre Schönheit zeigt, so ist klar: Sie sind ungemein interessant anzusehen, und es wird niemanden überraschen, dass sie sowohl auf dem Laufsteg als auch intensiv mit Instagram arbeiten. Sie tragen dazu bei, Kopenhagen im Rahmen der Fashion Week in ein global beachtetes Zentrum der Mode zu verwandeln.

Mit unter den Wartenden befinden sich Kiki Boreel, 28, sportlich, dunkles Haar, mit bestechend klarem Blick, und Kate Bell, 56, grossgewachsen, helle Haut, helles Haar. Kiki ist in den Niederlanden beheimatet, modelt seit zehn Jahren; Kate lebt in Australien und kennt die Arbeit auf dem Laufsteg seit mehr als drei Jahrzehnten.

Kate ist extra für die Fashion Week nach Kopenhagen gereist. Sie liebe diesen Anlass: «Nirgendwo sonst treten so viele kleine Labels auf, nirgendwo sonst wird Mode innovativer präsentiert, sind Produzenten, Publikum und Models derart divers.»

«Wobei, divers …», sagt Kate, hält inne und schaut in die Runde der im Raum versammelten Menschen. «Es kann zwar sein, dass das hier die diverseste Fashion Week ist, die der Globus zu bieten hat. Aber hey: Wo siehst du die anderen, die so alt sind wie ich? Wo siehst du jene, die ein paar Kilogramm mehr auf die Waage bringen? Von zehn Models ist trotz allem meist doch nur eines über dreissig, nur eines etwas füllig. Das finde ich enttäuschend.»

Aber Kate ist nicht in Laune, sich zu enervieren; die «Industrie», wie sie die Welt der Mode nennt, hat ihr schon zu viele Erfahrungen mitgegeben. «In meinen jungen Jahren habe ich in diesem Beruf viele absonderliche Dinge mit Männern erlebt. Nicht wirklich schöne Dinge. Damals war alles vollkommen durchtränkt vom männlichen Blick. Ich bin froh, dass sich die Zeiten geändert haben. Ein bisschen immerhin. Aber, mein Gott, es bleibt viel zu tun!»

Kate hat kurzfristig, erst nach ihrer Anreise, die Zusage erhalten, für Martan aufzutreten, und sie ist ungemein glücklich darüber. Auch weil Martan ein ungewöhnliches Konzept verfolgt: Die junge Firma aus Amsterdam kauft den Rohstoff für ihre Kollektion im Kilopreis. Als Grundlage dienen ausgemusterte Bettwäsche von noblen Hotels und alte Tischdecken von guten Restaurants. Die Stoffe werden zwar eingefärbt, an der textilen Struktur wird aber nichts verändert; Martan schickt alltägliche Gebrauchsstoffe in die kreative Metamorphose und verwandelt sie in schicke Mode. Damit besetzt das Label eine Nische und liefert eine vergleichsweise souveräne Antwort auf die unbequemen ökologischen Fragen, die das Geschäft mit Kleidern aufwirft.

Intensiv beschäftigt mit Themen der Ökologie ist Kiki Boreel, die, gleich gegenüber von Kate sitzend, ebenfalls darauf wartet, die Haare gestylt zu bekommen. Diskussionen darüber, was getan werden sollte, um das Leben auf dem Planeten besser zu gestalten, gehören zu Kikis täglicher Arbeit: Die 28-Jährige ist nicht bloss als Model und Influencerin engagiert, sondern auch als Mode- und Umweltaktivistin. Sie gibt Interviews, wird zu Gesprächen eingeladen, leistet Aufklärungsarbeit in den Strassen und auf ihrem digitalen Kanal. Dass die Labels, die hier in Kopenhagen ihre neuesten Kreationen zeigen, gewisse ökologische und gesellschaftliche Minimalstandards erfüllen müssen, findet sie zwar gut. Aber sie hält die Anforderungen für beschämend geringfügig, gemessen an der immensen ökologischen Verantwortung, welche die Modebranche trage.

«Es ist nun mal eine Tatsache», sagt Kiki, «dass die Mode, global
gesehen, eine der schmutzigsten Industrien überhaupt ist. Sie verbraucht Unmengen von Wasser, Energie und Chemikalien, emittiert mehr Treibhausgase als der globale Flugverkehr, verteilt Mikroplastik auf dem ganzen Planeten. Das Problem beginnt bereits bei den Rohstoffen. Beim Anbau von Baumwolle beispielsweise. Es müsste für die Labels längst normal sein, ausschliesslich Bio-Baumwolle einzukaufen. Aber davon sind wir leider weit entfernt.»