Was seither geschah

Khalils letzte Sekunden [#21]

Im Sommer 2014 erschiesst ein israelischer Soldat den zehnjährigen Palästinenser Khalil Anati. Von hinten, ohne Vorwarnung, im Vorbeifahren. Die Militärpolizei hat die Untersuchung des Falls inzwischen abgeschlossen. ... was seither geschah

Dieser Inhalt ist für Sie freigeschaltet.

Journalismus kostet. Ausnahmsweise lesen Sie diesen Artikel kostenlos.

Recherchen wie diese gibt es dank der Unterstützung unserer Abonnent:innen. Vielen Dank, wenn auch Sie demnächst als Abonnent:in dabei sind.

Die Pressestelle der israelischen Armee verhält sich erratisch. Im Sommer 2016 verschickt sie auf Anfrage ein Communiqué, in dem sie die Hintergründe der Erschiessung von Khalil Anati zusammenfasst. Abschliessend bemerkt sie: «Please feel free to send additional questions.» Als ihr diese zusätzlichen Fragen vorliegen, antwortet sie: «We have nothing to add.» Auf weitere E-Mails reagiert sie gar nicht mehr, etwa auf die Bitte mitzuteilen, wann die detaillierten Untersuchungsakten freigegeben werden. Denn auch drei Jahre nach dem Schuss wissen Khalils Eltern noch immer nicht, weshalb ihr Kind sterben musste. Und noch immer kann die israelische Menschenrechtsorganisation Yesh Din nicht beurteilen, ob sie den Fall vor Gericht bringen soll. Michael Sfard, Anwalt der Organisation: «Solche Verzögerungen machen es beinahe unmöglich, die Wahrheit zu finden.» Dabei hatte es zu Beginn so ausgesehen, als würde die israelische Militärjustiz funktionieren.

Die Kugel traf Khalil Anati am Morgen des 10. August 2014, als er die Gasse zum Haus seiner Eltern hochrannte. Sie traf ihn von hinten, ohne Vorwarnung, abgefeuert aus einem vorbeifahrenden Armeejeep. Noch am selben Tag setzte die israelische Armee einen Tweet ab: Die Militärpolizei werde den Tod des Knaben untersuchen, und man «bedaure den Vorfall». Eine Bemerkung, wie sie von Seiten der Armee selten zu hören ist. Sie kommt einem Eingeständnis gleich.

Die Militärpolizei benötigt zwei Jahre, um den Fall zu untersuchen. In der Zusammenfassung der Ergebnisse ist von «bedauern» keine Rede mehr: Am Tag von Khalils Tod sei es in Al Fawwar zu einem Aufstand gekommen, in dessen Verlauf palästinensische Jugendliche Armeesoldaten in «unmittelbare Lebensgefahr» gebracht hätten. Um die «Randalierer» zu vertreiben, hätten die Soldaten ein einziges Mal geschossen, «aber nicht in Richtung der Individuen», und die Soldaten hätten auch «keinen Treffer» festgestellt. Zwischen dem Schuss und dem Tod von Khalil Anati könne folglich «kein Zusammenhang» gemacht werden, entsprechend werde «keine Anklage» erhoben.

Auch wenn für den Schützen bis zur definitiven Klärung der Hintergründe die Unschuldsvermutung gilt, so dürfte das Communiqué eine eklatante Verdrehung der Ereignisse sein. Ein Video der Szenerie hält fest, was aller Wahrscheinlichkeit nach geschehen ist. Es zeigt, wie Khalil aus rund 50 Metern Distanz die Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen und den Soldaten beobachtet. Möglich ist, dass er zuvor näher bei der Szenerie stand und sich beteiligte. Während er zuschaut, nähert sich ihm ein Armeejeep in langsamer Fahrt. Khalil erkennt die Gefahr und verschwindet in der Gasse, die zu seinem Elternhaus führt. Das Fahrzeug hält vor dem Eingang der Gasse, unmittelbar darauf ist der Schuss zu hören. Danach fährt der Jeep weiter. Sekunden nach dem Knall finden die Eltern ihr tödlich verletztes Kind, keine dreissig Meter von seinem Zuhause entfernt.

Dass sich die Videoaufnahmen und die Untersuchungsergebnisse diametral widersprechen, erstaunt Michael Sfard nicht. Yesh Din hat knapp dreitausend Vergehen von Armeeangehörigen ausgewertet, darunter mehrere mit Khalil vergleichbare Fälle. In nur fünf Prozent erhob die Militäranwaltschaft Anklage, und nur jeder Dritte der Angeklagten wurde auch tatsächlich verurteilt. Das Strafmass blieb in den meisten Fällen symbolisch. «Whitewashing the crimes away», nennt die Organisation dieses Prozedere der israelischen Militärjustiz. Nach 50 Jahren Besetzung ist von der Rechtsprechung, wie sie sich für einen demokratischen Staat des 21. Jahrhunderts gehört, nicht mehr viel übrig geblieben.

Die fehlbaren Soldaten und Soldatinnen wurden disziplinarisch gemassregelt oder degradiert. Urteile mit Gefängnisstrafen lassen sich an einer Hand abzählen.

Yesh Din – «es gibt Recht» – hat einige dieser Fälle bis vors höchste Gericht gezogen, teils mit Erfolg, mehrheitlich jedoch ohne. Ob die Organisation auch Khalis Fall vor Gericht bringen wird, ist zur Zeit noch unklar. Obwohl die Militärjustiz ihre Untersuchungen vor bald einem Jahr beendet hat, hält sie die Akten noch immer unter Verschluss. Gilad Grossman, Sprecher von Yesh Din, erkennt in dieser Art der Rechtsprechung ein «systematisches Versagen» des israelischen Rechtsstaats.


Reportagen #21: Khalils letzte Sekunden – von Christian Schmidt