
Zum Jahresanfang darf man – soll man? – einen Blick in die Zukunft wagen. Und je nach Inhalt des Rucksacks, den wir alle unsichtbar mit uns herumtragen, individuell gefüllt mit Wissen, Konditionierungen, Erfahrungen, Wünschen und Illusionen, wird das mit diesem Blick entstehende Gefühl entsprechend anklingen – ein Ton, der auf einer Skala von sehr pessimistisch bis sehr optimistisch irgendwo schwingen wird.
Die Reportage Der Mensch wird hybrid von Eva Wolfangel, erschienen in der Ausgabe #45, zeigt, wohin die Reise in die Zukunft geht. Diese Geschichte empfehle ich, nicht weil sie investigativ unglaubliche Ereignisse erhellt, zu literarischer Verzückung beim Lesen führt oder geopolitisch brisante Hintergründe beleuchtet. Nein, der Grund ist ein völlig anderer, aber ebenso triftig: Die Reportage handelt vom Thema «Transhumanismus», also der Denkrichtung, die den Menschen durch eine Fusion mit Technologie erweitern will. Das betrifft uns alle, früher – das quasi in der Hand klebende Smartphone ist für viele schon Realität – oder später.
Wolfangels Blick in die Zukunft ist jedoch nicht spekulativ, sondern sie berichtet aus Japan von bereits Erreichtem. Im Land der aufgehenden Sonne ist es Wissenschaftlerinnen und Ingenieuren auf Teilgebieten gelungen, Mensch und Roboter zu verschmelzen. Eine feine Sache, denn wer würde einer betagten Japanerin das Folgende, wie es in der Geschichte geschrieben steht, nicht gönnen?
Die alte Dame sieht die Welt durch die Augen dieses Roboters, weil ihr biologischer Körper den Dienst versagt hat. Mit ihm hätte sie diese Hochzeit nicht besuchen können. Ihr Körper liegt 300 Kilometer weit entfernt in einem Altenpflegeheim. Als sie ihren Enkel umarmt, hebt sie ihre Arme einige Zentimeter in die Luft. Die Pfleger staunen, sie so aktiv zu sehen. Doch die Bewohnerin ist nicht wirklich da. Oder doch?
Einer der japanischen Forscher, Jun Rekimoto, fasst die Essenz seiner Arbeit so zusammen: «Wir können andere Menschen fernsteuern», sagt er und zeigt seine alte Arbeit von 2010, mit der er bekannt wurde: «Possessed Hand» – frei übersetzt: «besessene Hand». Die Probanden tragen Armbänder, aus denen jede Menge Kabel ragen. Die Bänder aktivieren die Muskeln ihrer Träger mittels elektrischer Signale. Dadurch können die Versuchspersonen ein Musikinstrument spielen, das sie noch nie zuvor im Leben gesehen haben.
Doch das ist erst der Anfang. Weiter geht es mit verblüffender Technik und neuen Begriffen, die den Boden für eine breite Akzeptanz transhumanistischer Ideen bereiten sollen: «Internet of Abilities» – das Internet der Fähigkeiten, die menschliche Erweiterung, die Integration des Menschen in Netzwerke. Unausweichlich stellt sich die Frage: Wo wird der Mensch aufhören, wo der Roboter beginnen? Eine Frage, die, so scheint es, nur Antworten von möglicherweise unbefriedigender Unschärfe zulässt. Gerade auch bezüglich der Gefahren, der Kontrolle und der Chancen.
Der hier hinterfragende Mensch, dessen Hand beim Zupacken zögert – eine zutiefst menschliche Eigenschaft –, könnte den tiefen See der transhumanistischen Unschärfe segelnd überqueren und am anderen Ufer einem Optimismus versprühenden Mann zuhören: Klaus Schwab, Gründer des World Economic Forum WEF. Bereits 2016 erklärte er im Interview mit Darius Rochebin, Ankermann des öffentlichrechtlichen RTS, des französischsprachigen TV-Senders der Schweiz, was im Laufe der nächsten zehn Jahre, also bis 2026, geschehen könnte: Chips in der Kleidung, Implantate unter der Haut und auch im Gehirn, um schliesslich die direkte Kommunikation mit der digitalen Welt zu ermöglichen. Schwab sagte zusammenfassend: «Was wir wollen, ist eine Art Verschmelzung der physischen Welt mit der digitalen und der biologischen.»
Erneut stellen sich Fragen: Ist das eine wünschenswerte Zukunft? Sind wir tatsächlich auf dem Weg dahin? Was ist die Realität? Eva Wolfangels Geschichte gibt Antworten.