Das Beste aus 10 Jahren

Goodbye Babylon [#7]

«Der Linguist Dan Kaufman macht genau das, was mir bei meiner Arbeit als Journalistin am meisten gefällt: stundenlang den Erzählungen und Erinnerungen von Menschen zuzuhören. Denn es gibt viele Geschichten, die erzählt werden wollen. Die nicht verloren gehen dürfen.»

Dieser Inhalt ist für Sie freigeschaltet.

Journalismus kostet. Ausnahmsweise lesen Sie diesen Artikel kostenlos.

Recherchen wie diese gibt es dank der Unterstützung unserer Abonnent:innen. Vielen Dank, wenn auch Sie demnächst als Abonnent:in dabei sind.

Seit über acht Jahren, in denen ich bei Reportagen arbeite, hat es keine unserer Ausgaben geschafft, meine liebste abzulösen: die Nummer 7. Ihre Themen können aufs Gemüt drücken, aber sie ziehen einen in ihren Bann. Das liegt sicherlich an den Protagonisten der Ausgabe: Der Fotograf Antoine D’Agata sucht das Extreme in der Drogenszene Kambodschas und lässt sich dort auf das Geschehen ein, statt es nur von aussen zu betrachten («Shooting im Exzess»). Der Fussballer Timo Konietzka hatte 1963 das erste Tor in der Bundesliga-Geschichte erzielt, im Ruhrpott galt er als Fussballgott. In «Schlusspfiff» wird die Geschichte seines Lebens und seines Freitods in der Schweiz nacherzählt. 

Eine Geschichte aus der #7 möchte ich aber besonders hervorheben, weil sie mir bis heute nicht mehr aus dem Kopf geht: «Goodbye Babylon» von Florian Leu. Der Autor ist für seine Recherche nicht etwa auf eine abgelegene Insel geflogen, wie man das vielleicht erwarten würde bei einer Reportage über seltene Sprachen, sondern nach New York. 800 Sprachen werden in der Metropole gesprochen, allein im Stadtteil Queens sind 140 Sprachen registriert. New York sei die Kapitale der Sprachendichte, sagt Dan Kaufman, Professor für Linguistik und Protagonist der Geschichte. Auf der Suche nach bedrohten Sprachen streift Kaufman bis nachts durch die Stadt und lauscht den Menschen bei ihren Gesprächen. Er ist auf einer Mission, versucht Wörter und die Grammatik von seltenen Dialekten und Sprachen zu identifizieren und zu archivieren, bevor sie mit ihren Sprechern aussterben. Leu schreibt über Kaufmans Motivation:

Ein Kollege machte ihn auf die Sprache aus Feuerland aufmerksam, die nur noch im Kopf dieser alten Frau existiert. Wenn sie stirbt, geht eine von sechstausend Sprachen zugrunde. Alle zwei Wochen verklingt eine davon, verschliesst sich eine Sichtweise auf die Welt, ein Fenster auch ins Innere des Hirns. Ein Drittel der Sprachen ist erfasst und durchleuchtet worden, von einem Drittel haben wir ein paar Wörterlisten, ein paar Hinweise zur Grammatik, beim letzten Drittel tappen wir im Dunkeln und wissen kaum den Namen der Sprache. Bis zur Jahrhundertwende, schätzt Kaufman, werden neun von zehn Sprachen tot sein. «Eine Sprache sterben zu lassen», zitiert er den Linguisten Ken Hale, «das ist, als würde man eine Bombe auf den Louvre werfen.» Das sei, fährt er fort, als würde ein Bombenhagel auf New York niedergehen. «Von den achthundert Sprachen, die es hier gibt, steht die Hälfte kurz vor dem Ende.»

Stundenlang lässt sich Dan Kaufman von älteren Menschen in seinem fensterlosen Büro in Manhattan ihre Geschichten erzählen und hält alle Wörter fest, an die sie sich noch erinnern können. Bis 2012 hatte er auf diese Weise 30 Sprachen gerettet oder zumindest ihr komplettes Verschwinden verhindert. 

Bei mir hat die Reportage Hoffnung hinterlassen. Manchmal hat man das Gefühl, dass einem die Zeit und die Erinnerungen wie Sand durch die Hände rieseln. Man will Momente festhalten, doch wir und unsere Umwelt verändern uns zu schnell. Dan Kaufman macht genau das, was mir bei meiner Arbeit als Journalistin am meisten gefällt: stundenlang den Erzählungen und Erinnerungen von Menschen zuzuhören. Denn es gibt viele Geschichten, die erzählt werden wollen. Die nicht verloren gehen dürfen.