Das Beste aus 10 Jahren

Jasmine [#22]

Offener Brief an den Autor Erwin Koch.

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Lieber Erwin Koch

Ich liebe Sie. Ich hasse Sie. Und deshalb schreibe ich Ihnen diesen offenen Brief. Wir kennen uns nicht persönlich. Noch nicht. Vielleicht haben Sie irgendwann einen meiner Texte in Reportagen gelesen oder waren als Zuschauer unerkannt bei einer Reportagen-live-Veranstaltung, die ich regelmässig moderiere. Ich meinerseits habe wohl die meisten Geschichten, die Sie für unser Magazin in den letzten zehn Jahren verfasst haben, gelesen, ja regelrecht verschlungen. Ich war fasziniert, berührt, empört, neidisch, und einmal habe ich sogar geheult: als ich Jasmine las (aus unserer Ausgabe #22).

Darin erzählen Sie die Geschichte von Sarahs kleiner Schwester. Sarah erkrankt an Leukämie. Selbst körperlich kerngesund und kräftig, erlebt Jasmine nicht nur Sarahs steten Verfall mit, auch muss sie damit klarkommen, dass sich jahrelang alles um die grosse Schwester dreht. Mit achtzehn lässt sich Jasmine Sarahs Namen auf den Rücken tätowieren, ihr Geburtsdatum auf den einen Oberschenkel, den Todestag auf den anderen.

Machte mich Ihr Text, lieber Erwin Koch, dermassen betroffen, weil ich kurze Zeit zuvor selbst Vater geworden und entsprechend empfänglich war für das, was der Verlust eines Kindes in einer Familie anrichtet? Sicher. Und doch war es mehr, viel mehr. Ihre Sprache, bildhaft, verdichtet, hochpräzis, hatte die Selbstschutzmauer zwischen mir und dem Text gesprengt und mich mitten ins Geschehen gesaugt: Ich hoffte, litt, trauerte mit, distanzlos. Und war nach der Lektüre wütend: Wer hat Ihnen erlaubt, das mit mir zu machen? Ein gutes Dutzend Mal habe ich Jasmine an junge Journalistinnen und Autoren geschickt, wenn sie mich um Inspiration baten. Selbst habe ich Ihren Text nicht wiedergelesen: Wiederholung schmälert das Wunder, das Sie da vollbracht haben. So geht es mir mit allen Ihren Texten, Herr Koch. Ich brauche Nachschub.

Wiederholt habe ich versucht, Ihren Schreibstil nachzuahmen: «Lass uns diesen Abschnitt ‹erwin-kochsch› schreiben», schlug ich neulich einem Reporterfreund vor, mit dem zusammen ich an einer Geschichte für eine der kommenden Reportagen-Ausgaben arbeitete. Es hat nicht funktioniert, wir haben die Passage wieder gelöscht: Sie sind das Original, Sie müssen wieder für uns schreiben! Wie ich höre, haben Gespräche bei Pizza und Bier den Grundstein für viele Ihrer Geschichten bei uns gelegt. Auch wenn ich Ihnen Ihren Ruhestand von Herzen gönne, hoffe ich, dass dieser Brauch eine Fortsetzung findet und Sie noch eine Geschichte für uns schreiben. Nein, ich hoffe nicht nur, ich bitte darum, mir und unseren Leserinnen und Lesern zuliebe.