
Fish & Chips – Englands bedrohte Art [#56]
«Das Autor- und Zeichnergespann Humphreys/Kugler schafft das Meisterstück, gleich drei komplexe Themen wie den Brexit, Migration und Fischfang mit wenigen Worten und eindrücklichen Zeichnungen zusammenzuführen, indem sie die Geschichte des britischen Nationalgerichts erzählen.»
In den vergangenen zehn Jahren habe ich mit Reportagen viele emotionale Leseeindrücke gehabt: Ich war nach der Lektüre über das kurze Leben von Sarah (#1) zu Tränen gerührt, ich habe herzhaft über die Anleitung gelacht, wie man die Gemälde berühmter Maler fälscht (#8), und ich sah mich, nachdem ich die tschechische Marmeladen-Königin Blanka Milfaitová (#29) kennengelernt hatte, schon als künftige Tortilla-Königin durch Europa ziehen. Am meisten beeindrucken mich Kolleginnen und Kollegen, die es schaffen, einen komplexen Sachverhalt auf den Punkt zu bringen – wie Andrew Humphreys und Olivier Kugler mit ihrer Comic-Reportage «Fish & Chips: Englands bedrohte Art» (#56).
Zugegeben, auch ich dachte anfänglich, Comics seien mit Sprechblasen versehene Bildfolgen für Kinder und transportierten in erster Linie Humoristisches. Doch ich irrte. Das Autor-und-Zeichner-Gespann Humphreys/Kugler schafft das Meisterstück, gleich drei komplexe Themen wie den Brexit, Migration und Fischfang mit wenigen Worten und eindrücklichen Zeichnungen zusammenzuführen, indem sie die Geschichte des britischen Nationalgerichts erzählen, das auch mich geprägt hat.
Nach Abschluss der Universität zog ich nach London, um mein Englisch zu verbessern. Vom ersten Moment an war ich fasziniert von der ethnischen Vielfalt: In einem Londoner Bus scheint die ganze Welt zu stecken, und gleichzeitig ist es der einzige Ort, an dem ich nie rassistische Diskriminierung erlebt habe. Keinen Spass verstanden die Engländer dagegen, wenn sich jemand erdreistete, Urbritisches wie «The Pub», «The Pint» oder eben «Fish and Chips» zu kritisieren. Mir wäre das nicht in den Sinn gekommen, denn ich liebte alles Britische ohnehin und das schmackhafte und kalorienreiche Nationalgericht über alles. Es bewahrte mich angesichts neuer, kalorienarmer Lebensmittel, die damals gerade en vogue waren, vor Hungerattacken.
«Chips und Fisch ist britische Seelennahrung», sagt Ali Ziyaeddin zu Humphreys, während die Illustration ihn zeigt, wie er als Eigentümer des Londoner Lokals «The Rock & Sole Plaice» das Nationalgericht zubereitet. Stutzig macht aber gleich darauf die Aussage des Sozialhistorikers Panikos Panayi: «Grossbritanniens Lieblingsgericht ist auch eine portugiesisch-spanisch-jüdisch-französisch-belgische Erfindung.» Er erklärt, dass das Frittieren von Fisch auf jüdische Einwanderer aus Portugal und Spanien zurückgeht, die Chips von Franzosen und Belgiern ins Königreich gebracht wurden, die Geschäftsidee von den Italienern stammte und der durchschlagende Erfolg schliesslich dank zypriotischen Griechen, Hongkong-Chinesen und Türken Einzug hielt.
Noch weniger «britisch» ist der Fisch: Fehlende Autonomie über seine Gewässer war einer der Preise, den das Vereinigte Königreich jahrzehntelang für seine Mitgliedschaft in der EU zahlte. Noch 2019 warnte die EU davor, dass Fish and Chips von der Speisekarte gestrichen werden könnte, wenn Grossbritannien europäischen Fischern nach dem Brexit keinen Zugang zu seinen Gewässern gewährt. Englands Fish-and-Chips-Fisch stammt aus Schottland, Island, den Färöern oder Norwegen. Mit dem Brexit müssen auch die Abkommen mit diesen Ländern neu verhandelt werden.
«Ohne Migranten gäbe es kein Grossbritannien», schreibt Humphreys an einer Stelle – und ohne fremden Fisch kein Fish and Chips. Dank Kuglers Zeichnungen entfaltet diese Aussage ihre schöne Ironie umso mehr.