Das Beste aus 10 Jahren

Gazprom heizt ein [#5]

«Es gibt viele Möglichkeiten, aus einer Recherche einen lebendigen Text zu formen. Eine davon ist, die beobachtete Realität so präzise und gedehnt zu erzählen, dass ich als Leser das Gefühl bekomme, die Zeit stehe still und ich sei live vor Ort, in der russischen Tundra, dem 320-Seelen-Dorf Teriberka, zuhause bei Jelena und Wladimir.»

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Fast 400 Geschichten haben wir seit Oktober 2011 in Reportagen publiziert. Überraschende, berührende, nachdenklich stimmende, traurige, unterhaltende, kritische Reportagen aus aller Welt. Zur Abrundung unseres Jubiläums lässt unsere Redaktion Texte aus zehn Jahren des Magazins Revue passieren und stellt Ihnen in den kommenden Wochen ihre persönlichen Lieblinge vor. Zum Wiederlesen und Neuentdecken. Ich beginne mit «Gazprom heizt ein» von Urs Mannhart aus unserer Ausgabe #5.

Es gibt viele Möglichkeiten, aus einer Recherche einen lebendigen Text zu formen. Eine davon ist, die beobachtete Realität so präzise und gedehnt zu erzählen, dass ich als Leser das Gefühl bekomme, die Zeit stehe still und ich sei live vor Ort, in der russischen Tundra, dem 320-Seelen-Dorf Teriberka, zu Hause bei Jelena und Wladimir:

«Sie hackt Zwiebeln, raffelt Rote Bete, setzt Wasser auf für die Kartoffeln. Als alles im Topf ist, was Gemüse zu einem Borschtsch macht, schmeisst Jelena die Küchenabfälle aus dem Fenster in den harten, von heftigen Winden geformten Schnee, setzt sich ins Wohnzimmer, nimmt die schwere Brust aus dem Unterhemd und stillt ihren Sohn. Das Licht eines späten Vormittags flutet durch die Vorhänge, beleuchtet den Salontisch, holt einen kitschigen Glanz aus dem überfüllten Aschenbecher und veredelt die goldene Etikette der Bierflasche. Mitte März ist es, die Schneeschmelze noch weit entfernt, und auf dem Sofa neben dem an der Brust herumschmatzenden Kleinen, in dessen Augen eine eigene Welt erblüht, schläft der kräftige, schnauzbärtige Wladimir Wladimirowitsch, Jelenas Mann; nach Bier riecht er und nach Kohle.»

So beginnt Mannharts Reportage. Und im gleichen Stil geht es weiter. Obwohl auf den ersten anderthalb Seiten praktisch nichts passiert, bin ich gebannt und kann nicht aufhören zu lesen. Dieser Einstieg ist auch deshalb so bemerkenswert, weil Mannhart sich mit scheinbarer Leichtigkeit über die gängigsten journalistischen Regeln hinwegsetzt. Tempo? Relevanz? Spannung? Fehlanzeige!

«Gazprom heizt ein» handelt vom russischen Milliardenkonzern, der 550 Kilometer nördlich von Jelenas Küche unter dem Meeresboden das Shtokman-Gasfeld, eines der grössten Gasvorkommen der Welt, erschliessen will. 18 000 Arbeiter sollen bald anrücken und aus einem Dorf von Jägern und Fischern eine bedeutende Hafenstadt formen. Und was tut Mannhart? Er hält die Kamera erst einmal gemächlich auf die stillende Jelena und den schnarchenden Wladimir.

Vielleicht gefällt mir dieser Text auch deshalb so gut, weil sich darin die Werte von Reportagen niederschlagen. Urs Mannhart ist Schriftsteller und bringt so ein Faible für sorgfältig ausgewählte Formulierungen berufsbedingt mit. Doch genauso ist er Reporter, der Fragen stellt und beharrlich nach Antworten sucht. Ausgehend von der mit Gas beheizten ehemaligen Wohnung in Langenthal bricht Mannhart auf, weil er wissen will, woher die Wärme in seiner Stube kommt. Schon früher ein überzeugter Nicht-Flieger, setzt er sich in den Zug (mit Badelatschen und Shorts im tiefsten Winter, weil, wie er weiss, russische Züge permanent überheizt sind) und nimmt sich für die Recherche fünf Wochen Zeit. Nur so ist es wohl möglich gewesen, in Teriberka den schnarchenden Wladimir ausfindig zu machen, der – eine besondere Pointe der Geschichte – das ganze künftige Gas-Mekka mit Kohle heizt.