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Vertauschte Zwillinge [#25]

Wie viel von unserem Erfolg verdanken wir unseren Talenten – und wie viel den äusseren Umständen? Haben wir unser Glück wirklich immer selbst in der Hand? «Vertauschte Zwillinge» erzählt eine fesselnde Geschichte, «Gedächtnis der Gene» lässt uns über tiefe menschliche Fragen nachdenken.

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Ich lese gern Biografien und Artikel über Menschen, die interessante Dinge machen. Manchmal heisst es in solchen Texten: «XY ist Arzt und entstammt einer angesehenen Familie von Medizinern – der Beruf liegt ihm im Blut» oder «XY wurde Schauspielerin wie ihre Mutter und ihre Grossmutter. Das Talent ist ihr in die Wiege gelegt». Ich wundere mich dann: Wenn Talente in Wiegen gelegt und Fähigkeiten im Blut vererbt werden – müsste ich dann nicht heute LKW fahren wie mein Vater einst oder Verkäuferin sein wie meine Mutter früher?

Wie bestimmen Gene den Lauf unseres Lebens? Und welche Rolle spielt die soziale Herkunft? Diese Fragen wirft die Reportage «Vertauschte Zwillinge» von Susan Dominus (aus unserer Ausgabe #25) auf. Die US-Autorin berichtet von einer höchst unwahrscheinlichen, nahezu unglaublichen Begebenheit: In Kolumbien wurden Ende 1988 zwei eineiige Zwillingspaare geboren, eines in der Hauptstadt Bogotá, ein anderes in einem Dorf in der Nähe. Ein Zwilling aus der Provinz kam in das Hauptstadtkrankenhaus und wurde dort wohl vertauscht. Ein anderer Zwilling kam an seiner Stelle zurück zu der Familie aufs Land. Fortan wuchs jeweils ein Zwilling nicht bei seinen leiblichen Eltern auf. Über zwei Jahrzehnte später kommt es zu einem noch viel unwahrscheinlicheren Ereignis: Die beiden Zwillingspaare erfahren zufällig voneinander – und treffen sich.

Im zweiten Teil der Reportage, «Gedächtnis der Gene» (veröffentlicht in unserer Ausgabe #26), reist die Autorin gemeinsam mit einer Zwillingsforscherin und einer Psychologin zu den Zwillingen und sucht nach Antworten auf offene Fragen zu unseren Genen und Prägungen. Das eine unechte Zwillingspaar – Jorge und Carlos – wuchs wohlhabend in der kolumbianischen Hauptstadt auf und hatte viele Möglichkeiten, sich zu entfalten. Jorge wurde Ingenieur, Carlos Wirtschaftsprüfer. Carlos ist sehr stolz auf seinen Job – nur dass sein Platz im Leben eigentlich für einen anderen bestimmt gewesen wäre: William.

Dieser wiederum wuchs gemeinsam mit Wilber im Dorf La Paz in der Provinz Santander auf, lebte in ärmlichen Verhältnissen und bekam nur wenige Jahre Schulbildung. William wurde Fleischer, genau wie sein nichtleiblicher Bruder. Carlos dachte immer, er habe alles aus sich selbst heraus geschafft – weil es ihm, eben, im Blut lag. Bei einem Besuch in der ärmlichen Behausung von Carlos´ leiblichen Eltern stellt sein nichtleiblicher Bruder Jorge die entscheidende Frage:

«Mensch, Carlos», sagte Jorge – «schau dich doch mal um. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du ein Wirtschaftsprüfer geworden wärst oder einen anderen qualifizierten Beruf ergriffen hättest, wenn du hier aufgewachsen wärst?» Carlos sah die Sache anders. Wer konnte sicher sagen, dass er nicht doch eine Möglichkeit gefunden hätte, zur Schule zu gehen, einen Abschluss zu machen und heute in genau derselben Firma zu arbeiten, die ihn gerade erst befördert hatte? William sagte nichts, doch seine Miene wurde zu Stein. Carlos hatte nicht die geringste Ahnung, dachte er (…). Manchmal war der Wille allein eben nicht genug.

Wie viel von unserem Erfolg verdanken wir unseren Talenten – und wie viel den äusseren Umständen? Haben wir unser Glück wirklich immer selbst in der Hand? «Vertauschte Zwillinge» erzählt eine fesselnde Geschichte, «Gedächtnis der Gene» lässt uns über tiefe menschliche Fragen nachdenken.